Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 10.02.11 |
von Stefan Groß
I. Einleitung
Gilles Deleuzes Denken ist
spannungsreich und abwechslungsvoll, nicht umsonst plädiert er in seinem
Hauptwerk Differenz und Wiederholung
letztendlich dafür, daß ein Buch entweder wie ein Kriminal- oder wie ein
Science-Fiction-Roman geschrieben sein muß.[1]
Deleuze, in Deutschland weitgehend
aus der akademischen Rezeption verbannt, stellt sich in die Brüche und
Diskontinuitäten, stellt das Disparate und Sich-Versperrende in das Zentrum
eines Denkens, das als „Unschuldigsein“ kenntlich gemacht werden kann.[2] Er
selbst bezeichnet sich als den naivsten unter den Philosophen. Philosophie als
Unschuldig-Sein versteht sich dabei als ein Denken des Werdens, als eine
kontinuierliche Verschiebung von Sinn- und Deutungsperspektiven, als nicht
abzuschließendes Kontinuum.
Damit wird es zu einem Denken, ganz
Nietzsche verpflichtet, welches ein aktivisches Moment in sich trägt und grenzüberschreitend
fungiert. Strukturgrenzen erweisen sich für dieses Denken nur als Vorläufigkeiten,
die ihren tieferen Gehalt oder Inhalt verbergen oder kompensieren. Diese
Kompensierung des Gehalts oder Inhalts kulminiert dann aber in einer
Philosophie der Identität oder absoluten Einheit, die nicht das Disparate, das
Viele an sich als Individuelles in den Mittelpunkt stellt, sondern das Singuläre
zum Modus des Identischen erklärt, es in die Dialektik des Selbst-Identischen
aufhebt.
Diese Aufhebung des Singulären in
das Totale, des Differenten in das Ganze, versteht Deleuze als Akt des Terrors,
als Gewalttat am und gegen das Individuelle in seinem konkreten So- und Dasein.
Eine Philosophie, die sich dieser Ineinssetzung verweigert, ist damit auch eine
Philosophie der Freiheit, die das Totalitäre und Vereinnahmende zurückweist, um
das Phänomen an sich in den Blick zu bekommen.
Deleuze versteht sich als Dekonstruktionisten,der dabei keineswegs zum Nihilisten
wird, das reine Nichts, eine Philosophie, die alles negiert, weist er zurück. Vielmehr
bedeutet das Geschäft des Dekonstruierens für ihn das Freilegen von verborgenen
Strukturen, die in die Form der Identität gepreßt unterbestimmt sind. Dieses
Frei- oder Offenlegen ist rhizomatisch, ist ein Denken nicht am Ursprung,
sondern in den Verzweigungen und Vernetzungen des Denkens selbst, das sich so
als umgekehrter Platonismus zeigt.[3] In
seinem Rhizombuch heißt es dann auch:
„Vielheiten sind rhizomatisch und entlarven die baumartigen Pseudo-Vielheiten.
Keine Einheit, die im Objekt als Stütze fungiert oder sich im Subjekt teilt.
Nicht einmal eine Einheit, die im Objekt verkümmert, um im Subjekt
‚wiederzukehren’. Eine Vielheit hat weder Subjekt noch Objekt; sie wird
ausschließlich durch Determinierungen, Größen und Dimensionen definiert, die
nicht wachsen, ohne daß sie sich dabei gleichzeitig verändern.“[4] Deutlich
wird in der zitierten Stelle, daß in diesem Denken das Mannigfaltige nicht aus
der Einheit abgeleitet wird, sondern das Mannigfaltige des Denkens aus dem
Mannigfaltigen des Gedachten, aus dem Differenten, erst konstruiert wird – Dekonstruktion
als Konstruktion. Dabei kommt es zugleich zum umgekehrten Blick auf das in
seiner Einzigartigkeit Bestimmte, das sich nicht nur im Denken, sondern auch
als Phänomen der Alltagswelt in seinem So-Sein selbst aussagt. Es bedarf somit
nicht mehr des Umwegs über das „Konkrete“, wie Hegel meinte, um das
Individuelle zu erfassen, vielmehr erweist es sich als sich selbstbestimmt und
selbstbestimmend.
Mit dieser Bestimmung des Seienden,
das sich einem Ursprung entzieht, das sich nicht mehr als Bild repräsentiert,
bezieht Deleuze deutlich Stellung gegen Hegel, dessen Dialektik er immer wieder
in den Mittelpunkt seiner Kritik rückt, denn das Konkrete ist eben nicht die in
sich geschlossene dialektische Figur der Einheit in der Einheit und der
Differenz. Die Bestimmtheit bestimmt sich nicht mit oder gegen oder durch die
Unbestimmtheit, die sie in der Synthese aufhebt und damit zur Versöhnung mit
sich bringt.
II. Deleuze und die Frage nach der
Philosophie
Seine Auseinandersetzung mit Hegel,
wie sie Deleuze besonders eindrucksvoll in
Differenz und Wiederholung und im
Anti-Ödipus führt, kulminiert in einem tief fundierten „Antihegelianismus“.
Im Unterschied zu seinen Annäherungen an Platon, Kant und Descartes, in deren Denken
sich Deleuze „eingeschlichen“ hat, um diese Philosophien aus sich heraus, aus ihrem
Innersten zu bekämpfen, bleibt die Auseinandersetzung mit Hegel unversöhnlich,
ihm kann er nichts abgewinnen.
So wird Hegels Philosophie vom
Kreis für Deleuze immer wieder zum Ansatz- und Streitpunkt, an dem er sein
neues Bild vom Denken entwirft. Noch in seinem letzten Werk, das er gemeinsam
im Félix Guattari schrieb, Was ist
Philosophie?, zeichnet er dieses neue Bild, das sich als transzendentaler
Empirismus, als Immanenzphilosophie kennzeichnen läßt. Die Gewichtung, die er
dabei auf die Immanenz legt, die aus der Repression der Transzendenz zu
befreien ist, äußert er auch in einem komprimiert, sein Denken
zusammenfassenden kurzen Aufsatz Die
Immanenz: ein Leben…[5]
Jeglichem Denken, das auf
Transzendenz verweist oder sich auf dogmatische Voraus-Setzungen beruft, wird
eine klare Absage erteilt. Anstatt etwas vorauszusetzen, Begriffe sich schenken
zu lassen, ist es vielmehr die Aufgabe der Philosophie Begriffe zu schaffen. Denken
ist nicht der Hegelsche Wille zur Wahrheit, sondern wie Deleuze übereinstimmend
mit Nietzsche betont Schöpfung. Denn: Es gibt keinen „Himmel“ für die Begriffe,
vielmehr müssen diese ständig neu erschaffen werden.[6] Die Zurückweisung
eines Ideenhimmels als wunderbare Mitgift, wo die Begriffe aus einer
„Wunder-Welt“ hervortreten, richtet sich dabei nicht nur gegen Platon und die
abendländische Metaphysik, sondern insbesondere immer wieder gegen Hegel. Die
Begriffe sind nicht gegeben, sondern aufgegeben, was für Deleuze zwangläufig
darauf hinausläuft, daß die Philosophie „weder Kontemplation noch Reflexion,
noch Kommunikation“ sein kann. „Die Kontemplation, die Reflexion, die
Kommunikation“, die bloß auf einen Konsens aus sind, „sind keine Disziplinen,
sondern Maschinen zur Bildung von Universalien in allen Disziplinen. Die
Universalien der Kontemplation, dann der Reflexion sind gleichsam die beiden
Illusionen, die die Philosophie in ihrem Traum von der Herrschaft über die
anderen Disziplinen schon durchlaufen hat […].“[7] Das
erste, was der Freund der Philosophie somit lernen muß, ist, daß die
Universalien nichts erklären.
Wenn die Philosophie weder
Kontemplation, Reflexion noch Kommunikation ist, was ist sie dann? Anstelle der
Universalien setzt Deleuze wie Aristoteles das Staunen über das Singuläre, das
zur Schaffung von Begrifflichkeiten erst auffordert.
Die immer neu zu bewältigende Aufgabe
der Philosophie bleibt dabei die Schaffung einer Immanenzebene, auf der sich
die Begriffe sammeln, sich verstreuen, aufheben und aufeinander verweisen.
Diesen Immanenzboden, das transzendentale Feld, als Bedingung der Möglichkeit
von Erkenntnis zu schaffen, wird dann zu einer creatio continua, wobei das
Werden nicht wie bei Hegel als Vermittlung von Sein und Nichts bestimmt wird,
sondern als ein unendliches, das sich nicht auf eine Metaphysik oder Logik einschränken
und reduzieren läßt. Die Philosophie hatte nie ein Problem mit der Überwindung
und dem Tod der Metaphysik, schreibt Deleuze im Anschluß an die
Metaphysikkritik Heideggers.
Mit Nietzsche begreift Deleuze
dieses Werden der Begriffe als Gegenentwurf zum dialektischen Denken als einem
epistemologischen, ontologischen und historischen Prinzip in seinem dreifachen
Apriorismus: als Kampf und Einheit der Gegensätze, als qualitatives Umschlagen
aufgrund quantitativer Kumulation und als Prinzip der Negation der Negation. Denn
ganz Nietzsche verpflichtet, verläuft die Geschichte „nicht über die Negation
und die Negation der Negation, sondern über die Entscheidung der Probleme und
die Bejahung der Differenzen“.[8] An
die Stelle des Selbstidentischen, das sich aus der Negation als höheres Wesen
begreift, setzt Deleuze die Differenz selbst, die als begriffslose Differenz
Identität erst konstruiert oder möglich macht. Nicht die Identität geht der
Differenz voraus, die Deleuze nicht als Gegensatz, und nicht wie Hegel als
höchsten Gegensatz, denkt, sondern die Differenz stiftet die Identität, die
Differenz ist das bewegliche Moment, der Anstoß der begrifflichen Bewegung. Nicht
das Identische wiederholt sich, sondern, und darauf läuft das Buch Differenz und Wiederholung hinaus, die
Differenz ist es, die sich wiederholt. Diese Wiederholung wird als selektives
Ereignis gedacht, als qualitative Selektion, die nur das Ereignis selbst bejaht,
die mit dem Ereignis steht und fällt. Die Deleuzianische Differenz ist keineswegs
mit der Negation Hegels zu verwechseln, sondern viel „radikaler“ und „wilder“
zu denken, sie läßt sich nicht durch die Reflexion zähmen. Auch opponiert
Deleuze gegen Hegel, wenn er darauf insistiert, daß der Sinn der Philosophie
nicht darin liegen kann, zur reflexiven Durchdringung des Begriffs zu gelangen.
Ihr einziges Ziel liegt vielmehr darin, die Vielheit, das Werden und den Zufall
„zu Wort kommen“ lassen zu wollen. Nur so ereignet sich der „Sinn“.
In der Bejahung des Vielen, in der
Vielheit und Mannigfaltigkeit der Singularitäten, eröffnet sich die
Sinnperspektive, an deren Ende der Genuß des Unmittelbaren steht. Das
Unmittelbare frei zu genießen, für diese Philosophie des Genusses ist wiederum
Nietzsche das große Vorbild. So schreibt Deleuze in seinem berühmten Buch Nietzsche und die Philosophie: „Das ist
das aggressive und beschwingte neue konzeptuelle Element, das der Empirismus an
die Stelle der schwerfälligen Begriffe der Dialektik, und vornehmlich der Arbeit
des Negativen, wie es die Dialektiker zu sagen belieben, setzt. Daß die
Dialektik Arbeit und der Empirismus Genuß ist, charakterisiert beide
ausreichend. […] Das ‚Ja’ Nietzsches opponiert dem ‚Nein’ der Dialektik; die
Bejahung der dialektischen Verneinung; die Differenz dem dialektischen
Widerspruch; die Freude, der Genuß der dialektischen Arbeit; die Leichtigkeit,
der Tanz der dialektischen Schwere; die schöne Unverantwortlichkeit den
dialektischen Verantwortlichkeiten.“[9]
Ganz dem Denken Nietzsches verpflichtet,
entwirft Deleuze auch seine Genealogie. So kann die Philosophie gar nicht den
Anspruch erheben, Wissenschaft zu sein, noch absurder gar, wie Hegel
postulierte, eine absolute, wo das Ganze derselben ein Kreislauf in sich selbst
ist, „worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste wird“.[10]
Vielmehr wird die Philosophie von
einem Außen bestimmt, das als das Nicht-Philosophische das Denken zum Denken nötigt.
Deleuze geht davon aus, daß das Denken keineswegs zum Wesen des Subjektes gehört
(meist denkt es nicht), sondern eben eines Außen bedarf, das es zum Denken
zwingt, das die Kognition zugunsten einer wahren Fülle von Singularitäten oder
Fällen aufbricht und die gewohnten Bahnen des Denkens auflöst. Das Denken begreift
sich nicht in seiner logisch-dialektischen Vermittlung, die dann ihren finalen
Höhepunkt und ihre absolute Form im absoluten Geist findet, sondern als eine
Karte von Begriffen, die wechselseitig aufeinander verweisen, sich abgrenzen
und so zu Singularität gelangen. An die Stelle der Kopie als eine rein transzendentale
Dublette stellt der Franzose seine „Geographie“
In seinem zweiten Hauptwerk, Die Logik des Sinns, schreibt er: Das
Denken setzt selbst schon Achsen und Orientierungen voraus, „denen gemäß es
sich entwickelt“. Es verfügt über eine Geographie, die Immanenzebene, „noch
bevor es eine Geschichte hat“. Es steckt vielmehr Dimensionen ab, „noch bevor
es Systeme entwirft“.[11]
Kurzum: Eine Reduzierung des Denkens auf die reine Kognition verbietet sich von
selbst, weil es kein Etwas gibt, das als Unbedingtes dem Denken voraus liegt. Daher
denkt das Ich bei Deleuze selten, denn zum Denken kommt es erst dann, wenn sich
dieses ereignet, wozu es das Außen bedarf. An die Stelle eines vertikalen
Denkens, das die Erfahrung gut kantisch unter die Begriffe subsumiert, tritt
eine horizontal gelagerte Offenheit des Denkens und der Begrifflichkeiten, die
gerade darin besteht, den Kodex umgänglichen Verstehens aufzuheben, den
begrifflichen Nachvollzug des Gedachten zu überschreiten. Denken hat
Ereignischarakter, und eine Philosophie, die dieses Denken ermöglicht, gibt
alle Stützpunkte und Halteseile auf, versetzt den Denkenden in den Zustand
äußerster Unsicherheit, bei dem ihm „Hören und Sehen“ vergeht. Er kann sich
nicht auf die Anschauung, auf den Gemeinsinn, auf den gesunden Menschenverstand
berufen, sondern der Entschluß zu philosophieren „wirft“ sich „rein“ ins
Denken.
Im Unterschied zu Hegel findet der
titanische Kampf mit dem Denken kein Ende, sondern verbleibt in der Offenheit eines
grenzenlosen Ozeans von Begriffen, die sich auf diesem uferlosen Meer permanent
deterritorialisierenund reterritorialisieren.[12]
Denken ist unabschließbar, bleibt von der Mannigfaltigkeit der Denkfälle
abhängig.
Die menschliche Vernunft besitzt keineswegs,
wie Descartes meint, die Wahrheit de jure, derer sie sich nur durch die
richtige Methode bewußt wird, keineswegs ist der common sense die bestverteilte
Sache der Welt, denn es ist die Dialektik und das Wechselspiel von common sense
und Gemeinsinn (bon sens), die Deleuze nicht nur in Hinblick auf Kant, sondern
auch mit Blick auf Hegel kritisiert. An die Stelle eines dialektisch, sich
begrifflich begreifenden Denkens, anstelle der absoluten Reflexion, stellt er
die transversale Vernunft, die zwischen den Vermögen völlig neue
Sinnzusammenhange stiftet. Das Transversale ist es dann auch, das Deleuzes
Philosophie als transzendentalen Empirismus kennzeichnet, der den Empirismus
aus dem Transzendentalen und das Transzendentale aus dem Empirischen heraus konstruiert.
Dabei ist es nicht das Subjekt, das diese Vermittlung leistet, das reflexive
Ich, sondern das transzendentale Feld, die Immanenzebene, auf der sich die
Begriffe ansiedeln, die ein Plateau bildet, eben eine Geographie. In Die Immanenz: ein Leben… heißt es: Das
transzendentale Feld unterscheidet sich von der Erfahrung und gehört keinem
Subjekt an. „Darum stellt es sich als reiner a-subjektiver Bewußtseinsstrom
dar, als unpersönliches prä-reflexives Bewußtsein, als qualitative Dauer des
ichlosen Bewußtseins […]. Es ist eher der Übergang von einer Empfindung zur
anderen – wie nahe sie auch aneinanderliegen mögen –, als Werden, als
Steigerung oder Minderung von Vermögen (virtuelle Quantität). […] Mangels
Bewußtsein muß sich das transzendentale Feld als eine reine Immanenz
definieren, da es sich jeder Transzendenz des Subjektes und des Objektes
entzieht. Die absolute Immanenz ist in sich selbst: Sie ist nicht in etwas,
nicht einer Sache immanent, sie hängt von keinem Objekt ab und gehört zu keinem
Subjekt.“[13]
Kein Begriff auf dieser Immanenzebene
ist abgeschossen, keiner einfach, sondern dem Chaos der Bestimmbarkeiten anheimgestellt,
er verschiebt sich immer wieder, hat offene Enden, die im Wechselspiel Sinn
produzieren, die aber dennoch nicht im Chaos versinken, sondern Konsistenz
erzeugen sollen. „Die Immanenzebene ist kein gedachter oder denkbarer Begriff,
sondern das Bild des Denkens, das Bild, das das Denken sich davon gibt, was
denken, vom Denken Gebrauch machen, sich im Denken orientieren […] bedeutet. Das
ist keine Methode, denn jede Methode betrifft möglicherweise die Begriffe und
setzt ein derartiges Bild voraus.“[14]
Die Philosophie, die das Ereignis
in ihren Mittelpunkt rückt, ist ursprungslos, beginnt permanent, indem sie die
Differenz zwischen Gegenwärtigem und Aktuellem auf das Werden hin aktualisiert.
Was sich wiederholt, ist diese Differenz, dieser Neuanfang des Denkens, der vom
konkreten Denkfall ausgeht. Die Differenz ist es, die wiederkehrt. Nietzsche
besiegt Hegel. „Der selektive Charakter der ewigen Wiederkehr tritt deutlich in
der Idee Nietzsches zutage: Was wiederkehrt, ist nicht das Ganze, das Selbe
oder die vorgängige Identität überhaupt.“[15]
III. Und noch einmal Hegel
Solange die Differenz, wie im Falle
der Hegelschen Dialektik, nur den Anforderungen der Repräsentation unterliegt,
bleibt es unmöglich, sie selbst, eben an sich zu denken. Immer wieder wird sie
nur als „gezähmte“ Differenz greifbar, die sich am Prinzip des Identischen abarbeitet.
In dieser Bezogenheit oder Unterordnung unter das repräsentative Denken
unterliegt sie, so Deleuze, der vierfachen Wurzel des Vernunftprinzips: der
Identität im Begriff (ratio cognoscendi), des Gegensatzes im Prädikat (ratio
fiendi), der Analogie des Urteils (ratio essendi) und schließlich der Ähnlichkeit
der Wahrnehmung (ratio agendi).
Hegels Dialektik, so der Vorwurf
von Deleuze in Differenz und Wiederholung
und in seinem Nietzsche und die
Philosophie, hat den antinomischen Charakter des Denkens universalisiert,
was zu einer Nivellierung der Differenz führt.
Für diese Rücksetzung der Differenz
als Trugbild des Seienden, der an sich gar kein Sein zukommt, ist die
Metaphysik des Platonismus verantwortlich. Platon hatte, so Deleuzes Kritik, nicht
nur das Abbild vom Urbild unterschieden, sondern er hat das vom Abbild
unterschiedene Trugbild, dem er jede Analogie zum Urbild absprach, abqualifiziert.
Was im Trugbild negiert wird, ist die freie Kraft der Differenzen, ihr
nomadisches Spiel, ihre Verteilung auf der Immanenzebene.
Um die Differenz an sich zu denken,
muß jener Knoten aufgelöst werden, der darin besteht, die Differenz entweder
unter die Identität des Begriffs oder eines denkenden Subjekts zu subsumieren,
sie als Ähnlichsein, als bloße Verschiedenheit der Wahrnehmung unterzuordnen.
Wenngleich auch Hegel mit der
Differenz beginnt, Sein und Nichts gegenüberstellt, so bleibt diese Differenz für
Deleuze lediglich eine „bloße Zirkulation des Identischen im Durchgang durch
die Negativität“.[16] Sie
darauf zu reduzieren, bedeutet eine ungerechtfertigte Beschränkung des Denkens
auf die Sphäre des Begriffs, wobei der Begriff der Differenz mit der
Niederschrift der Differenz in die Identität verwechselt wird. Die Differenz
auf die Negativität einzuschränken widerspricht ihrem Wesen, wie Deleuze im
Anschluß an Nietzsche betont, denn dieser ersetzt das „spekulative Element der
Negation, des Gegensatzes oder des Widerspruchs […] durch das praktische
Element der Differenz: dem Objekt von Bejahung.“[17]
Der Kontinuität des Denkens, den
Stufen des subjektiven und objektiven Geistes, dem Strom von Definitionen und
Proportionen, stellt Deleuze, wie sein großes Vorbild Spinoza, die Scholien
gegenüber, die Diskontinuitäten, die Brüche, die den selbstgefälligen Kreislauf
des Denkens immer wieder durchbrechen, immer wieder unterlaufen. Es ist das
Negative an sich, das sich nicht als bestimmte Negation in den ewigen Kreislauf
einschreibt,
Im krassen Gegensatz zur Logik
Hegels setzt Deleuze seine philosophische Propädeutik, die nicht darauf
hinausläuft, das Selbe im Anderen zu wiederholen, sondern die ihr Ziel geradezu
im „Widerwillen gegen Antithesen“ hat. Hegels Antithesen sind lediglich bloße Modifikationen
des Selben, die sich im Anderen wiederholen.
Diesem philosophisch-reflexiven
Bild des Denkens des 19. Jahrhunderts stellt sich Deleuze quer, wenn er in Differenz und Wiederholung schreibt: „Die
Differenz und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und des
Negativen, der Identität und der Widerspruchs getreten. Denn nur in dem Maße,
wie man die Differenz weiterhin dem Identischen unterordnet, impliziert sie das
Negative und läßt sich bis zum Widerspruch treiben. Der Vorrang der Identität,
wie immer sie auch gefaßt sein mag, definiert die Welt der Repräsentation. Das
moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust
der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation
des Identischen wirken.“[18]
Ein Sich-Vertrautsein im Denken
lehnt Deleuze schlichtweg ab, vielmehr setzt er an die Stelle des Vertrautseins
das Mißtrauen. Deleuze mißtraut nicht nur jedem Anfang der Philosophie, dem
Sein, dem Nichts, sondern auch der Tatsache, daß die Philosophie irgend etwas
zur Wahrheitsfindung beitragen könne. Kurzum: Der Vorwurf Deleuzes an Hegel
lautet, sein System sei ein abgeschlossener Zirkel der Wiedererinnerung und
läßt nicht zu, daß etwas Neues entsteht. Das Einzige, was hier geschieht, ist
der Übergang vom Ansich zum Fürsich, da im Verlauf des dialektischen Prozesses
die Dinge einfach nur ihr Potential aktualisieren, wobei sie explizit ihren
impliziten Inhalt setzen und das werden, was sie an sich immer schon waren.
Was setzt, so ließe sich nun
fragen, Deleuze der Dialektik Hegels entgegen? Es ist die schon angesprochene
Genealogie des Begriffs.[19]
Diese kulminiert nicht in feststehenden Begriffen, sondern versteht sich als
ein ständiges Arbeiten und Abarbeiten mit und durch die Begriffe – eine
Tätigkeit, die dem Begriff nur eine zeitliche und damit beschränkte Gültigkeit einräumt.
Der Sinn kann, so Deleuze im Anschluß an Nietzsche und Heidegger, nur noch in
Relationen freigelegt werden, die, kaum das sie entstehen, wieder verschwinden.
Somit ist das Projekt der Sinnsuche unabschließbar. Dem Zirkel der
Begriffsbildung sich zu widersetzen, die ewige Wiederkehr als aktiven Akt der
ständigen Sinnverschiebung, die in einer neuen Qualität des Wissens kulminiert
und nicht die immerwährenden Quantitäten wiederholt, voranzutreiben, dies
versteht Deleuze als die vordringlichste Aufgabe der Philosophie. Nicht von der
Mitte, sondern von den Rändern her hat die Philosophie zu denken.
Nach Nietzsches Metaphysikkritik,
nach Heideggers Versuch, das Sein des Seienden zu denken, ist es Deleuze im 20.
Jahrhundert, der die Frage nach dem „Abschied vom Prinzipiellen“ (Odo Marquard)
erneut und radikaler als zuvor stellt. Mit dem absoluten Einbruch der
Endlichkeit in das Denken (des unbezwingbaren Außen) wird zugleich die Selbstgewißheit
des Bewußtseins sowie seiner Denkakte willkürlich unterbrochen. Der moderne Mensch
ist, darauf hatte bereits Foucault hingewiesen, eine „empirisch-transzendentale
Dublette“. Irreduzible Alterität und größtmögliche Entfremdung zu sich selbst
sind Zeichen des modernen Subjekts, dem es nicht mehr möglich ist, sich als
selbstidentisches Wesen herzustellen oder zu begreifen. Es steht vielmehr und
immer schon im Bannkreis eines Außen, eines Ungedachten, Unbewußten, das es
bestimmt, das sich als Außen als sein eigenstes Inneres zu erkennen gibt.
Der
Faden ist gerissen, so hieß nicht nur ein Buch, in dem Deleuze und Foucault
aufeinander Bezug nehmen. Der Riß erklärt unmißverständlich, das die Suche nach
absoluter Einheit, diese Utopie als Gemeinsinn oder als gesunden
Menschenverstand seinem Leben voranzustellen, gescheitert ist. Denn was bei
dieser Suche nach der Einheit auf der Strecke bleibt, was durch sie
ausgeblendet und auf ein Minimum reduziert wird, ist die in ihrer unendlichen
Vielfalt erscheinende Wirklichkeit. Diese immer wieder zu entdecken, gibt dem
Denken erst seine ursprünglichen Kräfte zurück. Das Denken hat sich dann an der
Differenz abzuarbeiten, was ohne Aussicht auf Erfolg geschieht. Keine Erlösung
vom Immer-wieder-Denken ist in Sicht, kein Reich eines bewohnbaren
Transzendenten als Fluchtpunkt am Horizont zeichnet sich ab, da selbst der Horizont
schwindet, je näher man diesem kommt.
Das Denken ist in den Streit der
Gegensätze eingeschrieben, durch den der Sinn des Seienden infragegestellt wird.
Nichts ist vorhergegeben, allein das Ereignis, unmittelbar, destruktiv und
produktiv zugleich, treibt den Menschen voran, zwingt ihn zu reagieren. Der
Zwang zu denken, sich am Denken zu orientieren, das Gedachte wieder sein zu
lassen, um einen anderen Weg des Denkens einzuschlagen, weiterzudenken, dies
ist es, was die Philosophie im 20. Jahrhundert auszeichnet, was sie zum
Scheitern, aber auch zum Immer-wieder-Anfangen werden läßt. Anstelle des Anwesens einer
Sache ist die Spur der Sache getreten, das Singuläre in seiner Einsamkeit.
Dieses Singuläre zu denken, das Fragment als das fragmentarische Ganze zu
denken, ist die Aufgabe des transzendentalen Empirismus und der Philosophie der
Differenz. Differenz begreift Deleuze dabei als das faustisch belebende Element
einer Kraft, die sich stets überbietet, die Parallelen zu Nietzsches Willen zur
Macht hat.
Das Denken als Anders-Denken, als Gegendenken
zu entwerfen, die Entkleidung des traditionell-philosophischen Diskurses
vorzunehmen, um zugleich den Tod der traditionellen Metaphysik einzuleiten,
darum geht es dem postmodernen Denken von Deleuze. Gegen dieses Vorhaben
streitet die Postmoderne nicht, wie ihr das oft von ihren Kritikern,
insbesondere aus dem deutschen philosophischen Lager, allen voran Manfred Frank,
vorgeworfen wird, als reine l’art pour l’art; sie will keineswegs das Chaos
etablieren, sich als alles auffressende Decodierungsmaschinerie begreifen, sie
streitet vielmehr gegen das Denken des Abendlandes, gegen die imaginären Orte,
wo sich das Transzendente begrifflich oder mystisch fassen lassen sollte, wo
die Philosophie sich zur unbedingten Verteidigerin einer absoluten Wahrheit
erklärte und nur die Geschichte verwaltete. Das Leben ist mehr als ein in die
Identität gefaltetes und aus dieser zu erklärendes. Es ist nicht monadisch,
sondern nomadisch, ihm obliegt eine immanente Struktur, die es in ihrer Bruchstückartigkeit
bejaht. Dieses Leben in seinem Fragmentsein zu bejahen, den Sinn und die
Sinnhaftigkeit täglich neu zu entdecken, dafür plädiert Deleuze. Die
Philosophie der Differenz ist der Ort, von dem her sie ihr transzendentales Kraftfeld
entfaltet. Noch in seinem letzten Aufsatz Die
Immanenz: ein Leben stellt Deleuze heraus: „Das Transzendente ist nicht das
Transzendentale“ und plädiert für das transzendentale Feld als einem
„a-subjektiven Bewußtseinsstrom“, für das unmittelbare Ereignis, das die
Ordnung der Propositionenund herkömmlichen Begriffe aufhebt.[20]
[1] Gilles DELEUZE, Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen von Joseph Vogl,
München 32007, S. 13.
[2] Zu Deleuze vgl.: Peter
TEPE, Postmoderne/Poststrukturalismus,
Wien 1992. Wolfgang WELSCH, Ästhetisches
Denken, Stuttgart 41995. Friedrich BALKE und Joseph VOGL (Hg.), Gilles Deleuze – Fluchtlinien der
Philosophie, München 1996. Henning SCHMIDGEN, Das Unbewußte der Maschinen. Konzeptionen
des Psychischen bei Guattari, Deleuze
und Lacan, München 1997. Friedrich BALKE, Gilles Deleuze, Frankfurt/Main, New York 1998. Stephan GÜNZEL, Immanenz. Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze, Essen 1998. Giorgio
AGAMBEN. Bartleby oder die Kontingenz gefolgt
von Die absolute Immanenz, Berlin 1998. Martin STINGELIN, Das Netzwerk von Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video,
Berlin 2000. Marvin CHLADA (Hg.) Das
Universum des Gilles Deleuze. Eine
Einführung, Aschaffenburg 2000. Pierre KLOSSOWSKI, Divertimento für Gilles Deleuze, Berlin 2005. Wolfgang WELSCH, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 62002.
Ingo ZECHNER, Deleuze. Der Gesang
des Werdens, München 2003.Alain Badiou. Deleuze. „Das Geschrei des
Seins“, Berlin, Zürich 2003. Miriam SCHAUB, Gilles Deleuze im Kino. Das
Sichtbare und das Sagbare, München 22006. Marc RÖLLI, Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Idealismus, Wien 2003. Marc RÖLLI
(Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004.
Michaelo OTT, Gilles Deleuze. Zur
Einführung, Hamburg 2005. Slavoj ŽIŽEK, Körperlose
Organe. Bausteine für eine Begegnung
zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt/Main 2005. Stephan GÜNZEL, „Gilles
Deleuze vor den Kulturwissenschaften“, in: Iris DÄRMANN und Christoph JAMME
(Hg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren,
München 2007, S. 291-312. Henning TESCHKE,
Sprünge der Differenz. Literatur und
Philosophie bei Deleuze, Berlin 2008. Jean-Luc NANCY und René SCHÈRER, Ouvertüren. Texte zu Gilles Deleuze, Zürich, Berlin 2008.
[3] Gilles DELEUZE und Félix
GUATTARI, Rhizom, Berlin 1977, S.
5ff.
[4] A.a.O., S. 13. Weiter
heißt es zum Rhizom: „Es ist weder Nachahmung noch Ähnlichkeit, sondern eine
Explosion zweier heterogener Serien in die Fluchtlinie, die aus einem
gemeinsamen Rhizom zusammengesetzt ist, das nicht mehr zugeordnet und auch
keinem Signifikanten unterworfen werden kann.“ A.a.O., S. 17.
[5] Gilles Deleuze, Fluchtlinien der Philosophie, hg. von
Friedrich BALKE und Joseph VOGL, München 1996, S. 29-33.
[6] Gilles DELEUZE und Félix
GUATTARI, Was ist Philosophie? Frankfurt/Main
2000, S. 10.
[7] A.a.O., S. 11.
[8] Gilles DELEUZE, Differenz und Wiederholung (32007),
S. 336.
[9] Gilles DELEUZE, Nietzsche und die Philosophie. Aus dem Französischen von Bernd SCHWIBS,
Hamburg 1991.
[10] Georg Wilhelm Friedrich HEGEL,
„Wissenschaft der Logik I“. in: Werke in
zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt/Main
1971, Bd. 5, S. 70.
[11] Gilles DELEUZE, Logik des
Sinns. Aus dem Französischen von Bernhard DIECKMANN, Frankfurt/Main 1993, S,
162.
[12] Gilles DELEUZE und Félix
GUATTARI, Rhizom, Berlin 1977, S. 19.
[13] Gilles DELEUZE, „Die
Immanenz: ein Leben…“, in:Gilles Deleuze – Fluchtlinien der
Philosophie, hg. von Friedrich BALKE und Joseph VOGL, München 1996, S. 29f.
[14] Gilles DELEUZE und Félix
GUATTARI, Was ist Philosophie?
Frankfurt/Main 2000, S. 44.
[15] Gilles DELEUZE, Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen von Joseph Vogl,
München 32007, S. 65.
[16] A.a.O., S. 76
[17] Gilles DELEUZE, Nietzsche und die Philosophie. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs,
Hamburg 1991, S. 13.
[18] Gilles, DELEUZE, Differenz und Wiederholung (32007),
S. 11.
[19] Gilles DELEUZE und Felix
GUATTARI, Was ist Philosophie?
Frankfurt/Main 2000, S. 6ff.
[20] Gilles DELEUZE, „Die
Immanenz: ein Leben…“, in: Gilles Deleuze
– Fluchtlinien der Philosophie, hg. von Friedrich Balke und Joseph Vogl,
München 1996, S. 29f.
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