Erschienen in Ausgabe: No 41 (7/2009) | Letzte Änderung: 22.06.09 |
Hanns-Josef Ortheil, Lesehunger. Ein Bücher-Menü in 12 Gängen, Luchterhand Literaturverlag, München (März 2009, 240 Seiten, Taschenbuch, ISBN-10: 3630621538, ISBN-13: 978-3630621531, Preis: 8,00 EURO
von Heike Geilen
Lesen ist eine der wichtigsten Kulturfertigkeiten, die wir
Menschen uns zu Eigen gemacht haben. Es ist ein durchaus wichtiger Teil der Kommunikation
und nimmt dabei einen hohen Stellenwert ein. Man reflektiert und überdenkt das
Gelesene und gewinnt vielleicht sogar so etwas wie Erkenntnis bzw. sammelt durch
das Hineinversetzen in andere Zeiten und Personen (z. Bsp. in der Belletristik)
Erfahrungen aus zweiter Hand. Es geht nicht um ein eigenes "Mästen"
mit den Ideen und Gedanken anderer Leute, sondern - und darauf hat bereits
Montaigne hingewiesen - um das eigene Denken anzuregen, um es in Fahrt und in
Schwung zu bringen. Vielleicht sogar auf die Schwingungen einer inneren
Erzählstimme zu reagieren, "sich in
einem stimmlich-räumlichen Kosmos bewegen".
Doch was für den einen beinahe eine Obsession sein kann, ist
für den anderen Qual und Anstrengung. Vielleicht ist die Reduzierung des Lesens
zu einem Verstehen-Wollen, wie es allerorts in der Schule praktiziert wird, der
Grund für diese Aversionen. Hans-Josef Ortheil, der Autor dieses wunderbaren
kleinen Lesemenüs, ist sich sicher, dass die Reduzierung des Lesens auf das
"richtige Verstehen" eines Textes "eine der grausamsten Disziplinierungen des Lesens überhaupt
Vielleicht wird sein "Büchermenü in 12 Gängen" -
wie es der Untertitel verrät - als kleine Appetitsanregung verstanden, doch
wieder mal ein Buch in die Hand zu nehmen, Bilder und Bildzusammenhänge im Kopf
herzustellen, ja, einzutauchen in eine bildliche Phantasiewelt. Empfehlungen
gibt er jedenfalls en mass. Aber auch oder gerade für den Vielleser ist die
Lektüre eine wahre Quelle und Fundgrube sich noch zu erschließender oder
vielleicht wieder einmal zur Hand nehmender Literatur.
Der Schriftsteller und Professor für Kreatives Schreiben und
Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim hat für sein Buch eine
raffinierte Kredenzform gewählt. Angerichtet wie ein Zwölf-Gänge-Menü, das er
jeweils an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit einer fiktiven Journalistin
vorbereitet, serviert, einnimmt und genießt, gibt der obsessive Vielleser
Ortheil Leseempfehlungen und -anregungen in Hülle und Fülle. Doch diese
geballte Ladung an guter Literatur erschlägt den Leser keineswegs, denn der
Autor "verkauft" sie auf wunderbar lockere Art und Weise.
Aufgebaut ist das Buch als eine Art lockeres Gespräch.
Die Besucherin wird durch Ortheil in verschiedenste Bereiche
seines Westerwald-Grundstücks, mit vielen kleinen Plateaus, Aussichtsterrassen
und in seine "Lesekapseln" - meist kleine, auf dem Grundstück
verstreute Räumlichkeiten - geführt. Mal ist es ein kleines Gartenhäuschen, ein
Pavillon oder ein Blockhütte, wo er seiner Gesprächspartnerin die
unterschiedlichsten Literaturmenüs darreicht.
Das sind zum Beispiel allgemeine Gedanken über das Lesen im
Allgemeinen oder in "Champagner"- und grandseigneurale Lektüren im
Besonderen. Ortheil schwelgt in sogenannten Küchen-, Tee-, Reise- oder Fern-Lektüren,
Essays und Kolumnen, aber gibt auch Lektüreempfehlungen für junge Schreiber.
Alles in Allem eine großartige Mixtur aus verschiedensten Genres und
literarischen Themengebieten, die man durchaus als eine Art Reise begreifen
kann, "als eine Aufbruch in Neuland,
ein Sich-Niederlassen hier und dort, als Aufbau von Wegstationen, als Verzehr
von Proviant, als erneuten Aufbruch...".
Ans Ende jedes Kapitels bzw. Menüs stellt er eine
Zusammenfassung aller im vorangegangen Gespräch erwähnter Titel, so dass es ein
Leichtes ist, sich seinen ganz persönlichen Favoriten in der nächsten
Buchhandlung zu bestellen.
Warum diese ungewöhnliche Form? Hier soll Hanns-Josef
Ortheil selbst zu Wort kommen: "Man
kann das Lesen sehr gut mit Nahrungsaufnahme vergleichen, ja, man kann sagen:
Das Lesen ist die Befriedigung einer bestimmten Form von elementarem Hunger.
Und weiter: Lesen heißt, einen Appetit stillen. Ich meine das nicht in einem
metaphorischen Sinn, sondern ich meine es konkret und wörtlich. Lesen ist die
Zuführung einer bestimmten Speise, und diese Speise ist nicht nur 'geistiger
Art', wie man oft sagt, sondern immer auch etwas Sinnliches."
Und vielleicht wird nach Abschluss dieser entzückenden
Lektüre folgender Text Marcel Prousts aus "Tage des Lesens" wieder
eine besondere Bedeutung zukommen: "Es
gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie
jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene
nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben ...". Lesen
macht die Welt fühlbar und erlebbar und "lässt uns ihre von der Geburt an gegebene Kälte und Fremdheit
überwinden", ist sich der Autor sicher.
Fazit:
Keinen Kanon unbedingt zu lesender Bücher stimmt Hanns-Josef
Ortheil in seinem "Lesehunger" an, sondern er erzeugt durch die
lockere, legere Art und Weise seines Buchaufbaus für große Appetitanregung und
Freude an unvorhergesehenen Lektüre-Mixturen. Eine unbedingte Leseempfehlung
für alle Bibliophilen wie auch für die, die das Lesen wieder neu für sich
entdecken wollen.
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