Erschienen in Ausgabe: No. 21 (1/2005) | Letzte Änderung: 25.06.09 |
Bettina Röhl im Interview mit Marcel Reich-Ranicki
von Marcel Reich-Ranicki
Warum wollen Sie ein Interview mit mir machen, fragte Marcel
Reich-Ranicki im Dezember 2003, als ich ihn anrief. Der Anlass, ihn um
ein Gespräch zu bitten, war ein Interview in der "Welt" vom 13.12.03,
in dem er unter anderem über die bis vor kurzem verborgene
Mitgliedschaft seines langjährigen engen Freundes Walter Jens in der
NSDAP gesprochen hatte.
MRR hatte in diesem Interview das dritte Mal, wie auch schon
zuvor in seinem 1999 erschienenen Buch "Mein Leben" und in dem im
Herbst 2003 erschienenen Hörbuch "Ulrike Meinhof", über seine Begegnung
mit der jungen Journalistin Meinhof gesprochen, die nach seiner
Rückkunft aus Polen 1958 die erste Person in der Bundesrepublik gewesen
sei, die ihn Anfang der sechziger Jahre nach seiner Zeit im Warschauer
Getto gefragt und nach dem Interview Tränen in ihren Augen gehabt habe.
"Was wollen Sie von mir wissen", fragte Reich-Ranicki mich am
Telefon wiederholt: "Ich werde Ihnen nichts erzählen können, was Sie
interessiert. Über Ihre Eltern weiß ich sonst gar nichts. Für Politik
interessiere ich mich nicht. Ich habe in den ganzen Jahren, in denen
ich Literaturkritiker bei der FAZ war, von 1973 bis 1989, dort sehr
selten den politischen Leitartikel gelesen. Glauben Sie mir, Sie werden
enttäuscht sein. Ich kann Ihnen auch über '68 nichts erzählen, falls
Sie dies wünschen. Sie werden mir Fragen stellen und ich werde das
ganze Interview lang schweigend vor dem Mikrofon sitzen. Aber bitte,
wenn Sie unbedingt wollen, kommen Sie, ich kann Sie nicht daran
hindern."
Die sechziger Jahre in Hamburg
Röhl: Herr Reich-Ranicki,
Sie haben in einem kürzlich erschienenen Interview beschrieben, dass
Sie Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl in den sechziger Jahren kennen
gelernt haben, auf Partys gesehen haben. Wie haben Sie - Sie waren
damals Literaturkritiker bei der "Zeit" - die beiden Chefredakteure und
Herausgeber der linken Zeitschrift "Konkret" erlebt?
MRR: Darüber ist nicht viel zu
berichten. Wir haben Ihre Mutter und auch Ihren Vater - nicht immer war
der Vater dabei - einige Male gesehen bei Einladungen des damaligen
Rundfunk-Redakteurs Peter Coulmas und während des Urlaubs auf Sylt.
Einmal waren wir einen Abend lang zusammen, wo Ihr Vater viel erzählt
hat. Ich weiß nicht mehr, bei wem das war, ob das in Eurem Haus war
oder sonst bei einem gelegentlichen Treffen.
Röhl: In der "Welt" haben
Sie ein eher positives Bild von Klaus Röhl gezeichnet, den Sie
ansonsten dafür kritisieren, dass er bei Prof. Ernst Nolte in den
neunziger Jahren promoviert hat. Sie sagten dort, Sie nahmen und nehmen
Klaus Röhl seine damalige Offenheit und Ehrlichkeit nicht übel, mit der
er über seine Jugenderinnerung und seine Mitgliedschaft in der
Hitlerjugend erzählt hat und äußerten sich in diesem Zusammenhang über
Walter Jens und Siegfried Lenz insofern etwas kritischer, als Sie
gesagt haben, es gibt Freunde von Ihnen, die Ihnen nie etwas über ihre
Vergangenheit in der Hitlerzeit erzählt haben.
MRR: Das ist richtig. An dem
Abend hat Klaus Röhl über seine Erlebnisse in der Hitlerjugend
lautstark und ausführlich berichtet und das war für mich
aufschlussreich, das war für mich interessant. Zu verübeln gab's da gar
nichts, da war er ja noch fast ein Kind und was er da gesungen hat und
dass er rummarschiert ist, das war für mich mal ein Blick von der
anderen Seite.
Röhl: Und ich habe Sie so verstanden, dass Sie es zumindest gut fanden, dass da jemand überhaupt mal ehrlich war...
MRR: Ja.
Röhl: ...denn Ihnen ist ja
gelegentlich auch Unehrlichkeit begegnet. Haben Sie in diesem ganzen
Streit um Walter Jens' wissentliche oder unwissentliche Mitgliedschaft
in der NSDAP Ihre Meinung inzwischen geändert, Ihre kritische Haltung?
MRR: Ich habe gar keine
kritische Haltung. Ich habe nur gesagt: Ich habe davon nichts gewusst,
dass Jens Mitglied der HJ und Mitglied der NSDAP war. Er hat es niemals
im Laufe unserer langjährigen Freundschaft auch nur mit einem Wort
erwähnt.
Röhl:Sie
haben in den sechziger Jahren als Literaturkritiker bei der "Zeit" in
Hamburg gearbeitet. Das war die berühmte Zeit der Partys und
Einladungen im so genannten Medienestablishment. War Ihnen damals
bewusst, dass "Konkret", eine linke, möglicherweise eine kommunistisch
gesteuerte und ostfinanzierte Zeitung war? Wie schätzte man "Konkret"
und die Macher, Meinhof und Röhl, ein? Offiziell ging die
DDR-Finanzierung von "Konkret" ja nur bis 1964, was Klaus Röhl 1974 mit
seinem Buch "Fünf Finger sind keine Faust" öffentlich machte.
MRR:Dass es
eine linke Zeitschrift war, war selbstverständlich. Dies war ja auf den
ersten Blick zu sehen. Es wurde gesagt und als ziemlich sicher
angenommen, dass sie von der DDR finanziert wird. Das ist alles. Auch
Leute aus der späteren DKP sind ja oft nach Ostberlin gefahren, um Geld
zu holen und Geld zu bringen, das wusste man auch. Ich kenne auch eine
Person - bis heute kenne ich die -, die das ziemlich regelmäßig gemacht
hat. Und dass also "Konkret" damals von der DDR finanziert wurde, war
bekannt.
Röhl: Wenn heute manche sehr
überrascht tun, als sei dies eine Sensation, dass diese oder jene
Institution kommunistisch unterwandert war, dann scheint mir dies
manchmal scheinheilig, denn es kommt mir sehr viel richtiger vor, wie
Sie es sagen, dass es ein offenes Geheimnis war.
MRR: Nicht kommunistisch
unterwandert. Das ist falsch. Sagen Sie "kommunistisch finanziert". Es
war eine rein kommunistische Institution gewesen, die nach außen hin
anders firmiert war. Man machte sich in den Kreisen, in denen wir im
Hamburger Medienestablishment damals verkehrten, darüber nicht sehr
viele Gedanken. Nun, es war bekannt, ja so ist das, und die Leute
halten das für richtig, dass eine solche Zeitschrift erscheint. Fertig.
Röhl: In "Die Jahre, die Ihr
kennt" skizziert der Lyriker Peter Rühmkorf, damals auch
"Konkret"-Mitarbeiter, die Partykreise als ein Zusammentreffen von
verdeckten Kommunisten auf der einen Seite, und Leuten, die den
Kommunismus bekämpften und z. B. einer Organisation angehörten wie dem
sagenumwobenen "Kongress der Freiheit der Kultur", der von der
Henry-Ford- Stiftung finanziell unterstützt wurde und von der CIA, so
schon damals die Gerüchte, gebustert wurde. Und für den viele
europäische Intellektuelle arbeiteten wie etwa Mel Lasky, Francois
Bondy, Ignatz Silone und so weiter. Rühmkorf
schwärmte davon, wie nun die Fronten bröckelten und Kommunisten wie
Ulrike Meinhof und Klaus Röhl etwa mit dem Ehepaar Coulmas
zusammenkamen, die in dem Ruf standen, eben diesem "Kongress der
Freiheit der Kultur" nahe zu stehen. Wie muss man sich die Partys
damals, zu denen ich als Kind gelegentlich mitgenommen wurde, also
vorstellen: Trafen damals Protagonisten beider Lager (des kalten
Krieges) aufeinander und waren deshalb die Establishmentpartys so
angeregt und lustig?
MRR: Wissen Sie, ich glaube Sie
überschätzen sehr mein Interesse an Politik. Ich war daran gar nicht
interessiert. Man wusste - es war ein offenes Geheimnis -, was
"Konkret" war. Was der "Kongress für die Freiheit der Kultur" war,
wusste man ungefähr. Ich ging oft zu den Veranstaltungen des
"Kongresses für die Freiheit der Kultur", da am Klosterstern,
Nonnenstieg, in Hamburg, und ich habe da verschiedene Leute kennen
gelernt, zum Beispiel Gerd von Paczensky, Puttkamer, Uexküll und eben
auch Peter Coulmas. Den haben wir da oft gesehen.
Röhl: Zu dem Hintergrund des
"Kongresses der Freiheit der Kultur", wo viele Journalisten aus "Die
Zeit", "NDR", "Spiegel" usw. und Schriftsteller sich engagierten und
zum Beispiel auch für"Der Monat" schrieben, dem in Deutschland wohl
wichtigsten Organ des Kongresses, äußerte sich Mel Lasky allerdings
sowohl in einem persönlichen Gespräch als auch auf einer öffentlichen
Veranstaltung im Jahr 2000 in Berlin nur vage zu den Interna des
"Kongresses der Freiheit der Kultur". Wo standen Sie als ehemaliges Mitglied der polnischen KP, nachdem Sie 1958 nach Westdeutschland gekommen waren?
MRR:Der
politische Hintergrund - nun ja, es waren da Gerüchte, also man hat
gehört, dass da die CIA dahinter stand. Aber wissen Sie, Liebe, das hat
mich überhaupt nicht gestört. Die waren ja gegen die Sowjetunion. Und
alles was gegen die Sowjetunion war, war ja schon irgendwie akzeptabel
in jenen Jahren. Aber mein Interesse ging damals in andere Richtungen:
Ich habe mich für das Theater interessiert. In unserer Zeit in Hamburg
von 1959-1973 sind wir sehr viel ins Theater gegangen, selten in die
Oper. Ich habe mich für Literatur interessiert. Dafür, was in der
"Zeit" gedruckt wurde, was im "Spiegel" gedruckt wurde. Und die
politischen Dinge waren für mich, nachdem ich einmal Schluss gemacht
hatte mit der kommunistischen Partei, aus der ich in Polen
rausgeschmissen wurde, Ende '49 Anfang '50, nicht mehr interessant. Ich
habe damals, als ich wegen politischer Fremdheit rausgeschmissen wurde,
doch geglaubt: Die haben recht. Die haben genau gespürt, dass ich
politisch dieser Sache fremd bin, und ich habe damals beschlossen, nie
wieder in meinem Leben irgendeiner politischen Partei beizutreten, und
ich habe bis heute Wort gehalten.
Röhl: Die meisten, die in
den damaligen Partykreisen verkehrten, bezeichnen diese Zeit als eine
besonders schöne, oft die schönste Zeit ihres Lebens. Haben Sie das
auch so erlebt? Haben Sie damals z. B. auch an den oft in Kampen auf
Sylt fortgesetzten Partys teilgenommen?
MRR:Es war die
Wirtschaftswunderzeit. Hauptkennzeichen war der wirtschaftliche
Aufschwung, die Hinwendung zum Konsum, zum Luxus. In den sechziger
Jahren waren wir drei oder vier Mal in Kampen auf Sylt. Es war ja nicht
so weit von Hamburg entfernt. Seither fahren wir nach Baden-Baden. Ihre
Frage, ob diese Zeit schön für mich war, resultiert aus einem
Vergleich. Meinen Sie davor oder danach? Ich kann den Vergleich nicht
machen. Wir sind erst 1958 aus Polen gekommen. Ich kann also nicht
sagen, dass die Zeit in Hamburg bis 1973 schön war. Die war für uns
etwas ganz anderes.
Die Zeit als Literaturkritiker in "Die Zeit"
Tosia RR: Das war verbunden mit unserem Leben. Dass wir uns ein bisschen isoliert fanden und nicht da drin waren.
MRR: Wir fühlten uns ziemlich isoliert. Wie meine Frau eben sagte.
Röhl: Das habe ich in Ihrem Buch schon gelesen, aber ich konnte es mir nicht vorstellen.
Tosia RR: Aber Tatsache war, dass es so war.
MRR: Tatsache ist, dass ich 15
Jahre für "Die Zeit" geschrieben haben, bei der "Zeit" fest angestellt
war und an keiner einzigen Redaktionskonferenz teilgenommen habe.
Röhl:Unvorstellbar.
MRR: Ja ich durfte nicht. Ich
wurde nicht eingeladen. Wenn ich nicht aufgefordert wurde, war es klar,
man wollte mich dort nicht sehen. Dass wir in privaten Wohnungen waren,
also privat eingeladen wurden, das war sehr selten. Es waren nur zwei,
die uns damals eingeladen haben. Das war Peter Coulmas und Helga
Hegewisch. Diese beiden Häuser waren die einzigen, in die wir privat
eingeladen wurden.
Röhl: Ihr Name war damals schon ein sehr großer. Wie konnte es zu einer solchen Isolierung kommen?
MRR: Ich war der erste Kritiker
der "Zeit", der Hauptkritiker, Literaturkritiker der "Zeit", in beinahe
jeder Nummer waren Beiträge von mir. Auch in einer Rubrik, die "Hüben
und Drüben" hieß.
Tosia RR: Und man muss wissen, dass "Die Zeit" eine größere Rolle spielte als heute.
MRR: Ich schrieb in jeder
Nummer, und ich schrieb die wichtigsten Kommentare in dem Blatt und
große Kritiken und ich hatte es sehr gut, ich konnte schreiben, worüber
ich will, wie viel ich will, es war alles wunderbar. Aber: auf Distanz.
Röhl:Warum wollte die "Zeit" Sie nicht auf den Redaktionskonferenzen dabeihaben? Gab es dafür einen Grund?
MRR:Natürlich
gab es einen Grund. Aber ich weiß nicht, welcher es war. Ich kann Ihnen
sagen, dass zu den Konferenzen der "Zeit" Mitarbeiter des Feuilleton
eingeladen wurden, die weit weg wohnten, die extra nach Hamburg kamen,
wie zum Beispiel Francois Bondy aus Zürich und zwei, drei andere, die
extra kamen. Die wurden eingeladen an dem und dem Tag zur Konferenz.
Und ich wohnte in Hamburg und bin nicht dazu gebeten worden.
Tosia RR: Dabei wissen wir bis heute nicht, ob nicht doch das Jüdische mitgespielt hat.
MRR: Bondy ist auch Jude.
Tosia RR:Das heißt nichts, es ist trotzdem möglich.
MRR: Es gibt etwas im
Zusammenhang mit diesem Thema, das mich tief gekränkt hat. Iris Radisch
hat, als sie von meinem Buch hörte, von dem Kapitel über meine Rolle in
der "Zeit" an Dieter Zimmer telefoniert, gemailt irgendwie, der gerade
in San Francisco war, irgendwo in den USA, und hat ihn um eine
Stellungnahme im Namen der "Zeit" gebeten. Und Dieter Zimmer, mit dem
ich in guten, in sehr guten Beziehungen war, und der viele Jahre den
Literaturteil der "Zeit" geleitet hatte, und der unentwegt mit meinen
Manuskripten, also mit mir zu tun gehabt hatte, hat etwas gemacht, was
ich für eine Schweinerei halte: Er hat die Sache kommentiert, ohne mein
Buch oder wenigstens das betreffende Kapitel gelesen zu habe - man
hätte ihm diese entscheidenden fünf, sechs Seiten faxen können. Er hat
gesagt: Das, was ich da schriebe, sei vollkommener Wahnsinn. Sowas hat
es nie in der "Zeit" gegeben usw. Ich habe in meinem Buch
geschrieben, dass ich den Gedanken, dass antisemitische Regungen das
Verhältnis zu mir irgendwie bestimmt hätten, weit von mir gewiesen
habe. In dem Buch mit der offiziellen Geschichte der "Zeit" von
Karl-Heinz Janssen - da stand drin, warum meine Kandidatur für die
Arbeit in der Redaktion abgelehnt wurde von den Redakteuren: Meine
Rabulistik wurde befürchtet. Ich habe daraufhin das
Institut für Zeitgeschichte in München angerufen und gebeten
nachzuforschen, ob mein Eindruck stimmt, dass das Wort Rabulistik
während des Dritten Reiches von Goebbels benutzt worden ist, die haben
alles im Computer. Das Institut hat mir am nächsten Tag geantwortet: 16
Mal in den Reden, 15 Mal in den Tagebüchern taucht das Wort
"rabulistisch" bei Goebbels auf. So ungefähr. Und meine Frage war dann:
In welcher Verbindung? Immer dieselbe: jüdisch - rabulistisch. Jüdisch
- marxistisch-rabulistisch. Es war ein antisemitischer Ausdruck. Ich
habe das in meinem Buch schon geschrieben. Aber wenn Sie
die Leute von der "Zeit" fragen, dann gibt es ein Problem. Die Leute,
die damals da waren, sind heute nicht mehr da. Die Leute, die heute da
sind, waren damals alle zu jung. Wer kann Ihnen da antworten? Sie
können auch die Leute von der "Zeit" fragen, warum alle meine Bücher
dort seit vielen Jahren nicht rezensiert werden, nicht mit einem Wort
erwähnt werden. Weiß ich nicht. So ist es. Es gibt immer einen Grund.
Das Warschauer Getto und die ersten Fragen
Röhl: In Ihrem Buch
beschreiben Sie, dass es am Anfang, als Sie nach Hamburg kamen, nicht
möglich war, nun als Erstes die Leute zu fragen, beispielsweise die
Kollegen: Was haben Sie im Krieg gemacht, was waren Sie im Krieg? Waren
Sie ein Nazi?
Tosia RR:Das ist bis heute so.
MRR: Entschuldigen Sie bitte,
meine Liebe: Habe ich Peter Coulmas gefragt: Was haben Sie im Krieg
gemacht? Waren Sie in der deutschen Wehrmacht? Ich weiß es bis heute
nicht. Was hat Peter Coulmas während des Krieges gemacht? Er war schon
erwachsen.
Röhl: Ich kannte Peter
Coulmas seit den sechziger Jahren, seit der Zeit der oben beschriebenen
Establishmentpartys in Hamburg, wo ich noch ein Kind war, bis zu seinem
Tod im letzten Jahr gut. Er war eine Art Übervater einer ganzen
Kinderschar eben dieser Medienleute von damals und war für mich ein
wichtiger Geschichtslehrer. Über das, was er in der Nazizeit gemacht
hat, habe ich auch nichts von ihm erfahren.
MRR: Fragen Sie weiter.
Röhl: Wenn man in Ihrem Buch
das Kapitel über Ihre Zeit im Warschauer Getto gelesen hat, dann kann
man eigentlich fast keine Fragen mehr stellen. Tosia RR: Ja.
Röhl: Es ist sehr schwer für
einen Interviewer, auf diese Fragen zu kommen, weil man hat wie ich
jetzt tausend Fragen, die leichter sind, die andere Themen betreffen.
Es fällt auf, dass Sie diese Geschichte, in Anführungsstrichen, diese
Lebensgeschichte nicht schon sehr viel früher erzählt haben.
MRR: Ja.
Röhl: ...sondern erst in
Ihrem Buch 1999 "Mein Leben", obwohl es eigentlich alle etwas
angegangen wäre. Es hätte interessieren müssen. Es ist ja fast gar
nicht möglich, Ihre Geschichte zu verstehen, ohne dass man dieses
Kapitel kennt, und das hat man doch erst sehr spät kennen gelernt.
MRR: Ja, ich wollte das nicht schreiben. Ich habe das immer weggedrängt.
Röhl: War den Leuten in
Hamburg oder Frankfurt in den Redaktionen oder wo auch immer überhaupt
bewusst, was passiert war im Warschauer Getto? Und was Sie im
Warschauer Getto erlebt hatten, und dass Sie und Ihre Frau als eine der
ganz wenigen dieses Getto überlebt haben?
MRR: Natürlich wusste Rudolf
Walter Leonhardt, was das Warschauer Getto war - wenn er besoffen war.
Er war ehrlich, wenn er besoffen war. Da hat er einmal zu mir gesagt:
Eine totale Verständigung zwischen uns wird nie möglich sein, denn Sie
waren im Warschauer Getto und ich war Ritterkreuzträger in der
Hitlerarmee, vielleicht hat er gesagt, ich war Pilot, Jäger in der
Wehrmacht. Kurz und gut: Ihm war sehr bewusst, welche Vergangenheit ich
hatte. Aber es hat mich niemand danach gefragt. Niemand, ja. Es muss
schon Gründe haben.
Aber ich möchte Sie etwas fragen: Wieso
erwarten Sie von Deutschen, dass sie so unbedingt wissen wollten, unter
welchen Bedingungen Juden in den von Deutschen geschaffenen Gettos
gelebt haben? Offenbar musste eine neue Generation nachwachsen, damit
das Interesse für diesen Bereich existiert. Ich habe
Vorträge gehalten, einige Male. Ich bin gebeten worden, über Musik im
Warschauer Getto zu berichten. Aber wie ist es dazu gekommen? Das kann
ich Ihnen sagen. Ich war längst hier in Frankfurt. Ich war schon sehr
lange in Deutschland. Es muss in den siebziger Jahren gewesen sein, als
ich vom NDR gebeten wurde, an einer Sendung "Meine Lieblingsmusik",
irgend so eine Serie, teilzunehmen. Da konnte man seine Lieblingsmusik
vorstellen und ich sagte dem Redakteur: Wissen Sie, ich werde
diejenigen Werke nennen, die ich im Warschauer Getto gehört habe, denn
da gab es eine Zeitlang ein Orchester und es gab trotz der Bedingungen,
der schrecklichen, Konzerte, und es gab auch Schallplatten, und ich
werde diese Musiktitel nennen. Mit der Beschaffung der Schallplatten
werden Sie nicht die geringsten Sorgen haben, denn es wird die Rede
sein von Mozart, von Beethoven, von Schubert - und da sagte er: Bitte
sehr. Und es war ihm völlig gleichgültig. Und dann habe
ich in der Sendung von dem Warschauer Getto und dem Orchester, welches
wir dort hatten, erzählt, und die Sendung lief, und diese Sendung hatte
ein Echo. Und dies hatte unter anderem zur Folge, dass der damalige
Direktor, der Intendant des Theaters in Köln, mich zu einem Vortrag
über dieses Thema eingeladen hat. Aber dass ich sonst noch zu dem
Warschauer Getto befragt worden bin, daran erinnere ich mich nicht...
Ulrike Meinhof-Begegnung
Tosia RR: Du hast die Geschichte im Funkeck vergessen, als die Ulrike...
MRR: Aber das hatte mit Musik nichts zu tun.
Tosia RR:Aber mit dem Getto.
MRR: Das war zu einem ganz
anderen Zeitpunkt. Zum ersten Mal habe ich Ulrike Meinhof gesehen, als
sie Anfang der sechziger Jahre ein Interview mit mir machte. Sie war
die erste Person in der Bundesrepublik, nachdem wir aus Polen 1958 nach
Westdeutschland gekommen waren, die nach meiner Zeit im Warschauer
Getto fragte. Wir trafen uns damals im Cafe Funkeck in Hamburg. Am Ende
des Interviews, das viel länger dauerte als ursprünglich geplant, hatte
Ulrike Meinhof Tränen in den Augen - darüber habe ich in meinem Buch
"Mein Leben" berichtet.
Röhl: Ich habe von Ihrer
Begegnung mit Ulrike Meinhof natürlich in Ihrem Buch gelesen und mich
eigentlich gefreut, dass meine Mutter die Erste war, die Sie nach
dieser Geschichte gefragt hat. Und trotzdem ist für mich in dieser
Geschichte bitterer Wermut.
MRR: Nämlich ...
Röhl: Kurz nach der
Veröffentlichung Ihres Buches im September 1999 schrieb mir Klaus Röhl,
und dies deckt sich auch mit meinen nachfolgenden Recherchen, dass
dieses Interview mit Ihnen von Ulrike Meinhof aufgrund fremden
Auftrages zustande kam. Bis Sommer 1964 waren meine Eltern für die
illegale KPD tätig und daher häufig in der DDR. Es stellt sich so dar,
dass Röhl/Meinhof einen Hinweis bekommen hatten.
MRR: Von wem?
Röhl: Von der illegalen
West-KPD, die in diesen Jahren ihren Sitz in Ostberlin hatte. Die
wiederum handelte auf Ersuchen der polnischen KP. Die Anweisung der
"Partei", wie es damals hieß, lautete Sie auszuhorchen.
Tosia RR: Ach?
MRR: Ja, und?
Röhl: Kurz bevor Ulrike
Meinhof Sie interviewte, war es zwischen Röhl/Meinhof und der Partei
zum Bruch gekommen. Die Zahlungen an "Konkret" waren eingestellt
worden, und die Zeitung musste finanziell über Nacht auf eigene Füße
gestellt werden, so dass Ulrike Meinhof quasi halb auf eigene Faust und
halb noch als Parteimitglied, das sie persönlich geblieben war - so
muss man es wohl sehen -, als Journalistin mit den zuvor erhaltenen
Informationen jetzt eine große Story über den in KP-Kreisen als
reaktionär betrachteten Reich-Ranicki machen wollte. Ulrike Meinhof
wollte irgendetwas aus Ihrer Zeit im Warschauer Getto herausbekommen.
Dies war der Grund, weshalb sie Sie damals um das Interview gebeten hat.
MRR: Worüber?
Röhl: Dass Sie im Warschauer Getto irgendwie kollaboriert hätten.
MRR:Ich kann Ihnen nur
sagen, mir war es für keinen Augenblick bewusst, dass Ihre Mutter im
Gespräch mit mir irgendetwas erkunden wollte.
Röhl: Natürlich nicht. Aber ich bin der Meinung, dass ich bei dieser Gelegenheit Ihnen dies nicht verschweigen darf.
MRR: Sie können es mir gerne
erzählen. Sie wissen ja, als ich in den Westen gekommen bin, hat das
polnische Innenministerium dem Amt von Markus Wolf den Auftrag gegeben,
mich in der Bundesrepublik zu suchen. Das war 1958 und sie haben ihren
Agenten in Köln beauftragt, mich zu suchen und der hat geantwortet, ich
sei unauffindbar. Verstehen Sie, das war in einer Zeit, wo ich in der
"Zeit", in der "Welt" veröffentlicht habe, und es wäre nichts einfacher
gewesen, als mich zu finden. Sie sehen, so haben die Leute von Markus
Wolf damals gearbeitet. Mit anderen Worten, die Stasi versuchte Ihren Vater und Ihre Mutter als Agenten in der Bundesrepublik auszusenden?
Röhl: Es war die damals illegale KPD.
MRR: Die KPD aus
Westdeutschland. Na ja, und die waren ja der Stasi verpflichtet, die
haben ja der Stasi Material und alles geliefert.
Röhl: Ja. Erschütternd ist
für mich, dass Ulrike Meinhof, nachdem sie von Ihnen nicht die
gewünschte oder erhoffte Skandalnews erhalten hatte, das Interview
nicht veröffentlichte.
MRR: Es regt mich nicht sehr auf. Wissen Sie, meine Liebe: Sie hielten es damals für richtig.
Zwei Wochen später nachgefragt:
Röhl: Hat das Wissen um die
Hintergründe des Interviews, die ich Ihnen erzählt habe, etwas an Ihrer
Meinung über Ulrike Meinhof geändert?
MRR: Nein, das hat gar nichts
geändert, überhaupt gar nichts. Ich wusste davon nichts und es
interessiert mich auch nicht, was irgendwann irgendwo damals über mich
da geredet wurde. Meine Beurteilung über das Gespräch mit Ulrike
Meinhof ist so, wie es in meinem Buch steht.
Röhl: Welchen Grund könnte die polnische KP gehabt haben, so etwas anzuzetteln?
MRR: Das ist doch ganz normal.
Wenn so einer wie ich weggeht in den Westen aus einem kommunistischen
Staat, dann versucht man allerlei gegen ihn in die Wege zu setzen und
bekannt zu machen.
Röhl: Sie nehmen das Ulrike Meinhof nicht übel?
MRR:Nein,
nein. Sie hat mir ja keine anderen Fragen gestellt als solche, die das
Getto betrafen, und ich habe da überhaupt keine andere Meinung.
Die Gruppe 47 und die Vorwürfe, sie sei antisemitisch
Röhl: Im letzten Jahr ist ein Buch erschienen von einem Klaus Briegleb."Mißachtung
und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage 'Wie antisemitisch war die
Gruppe 47?'" Er vertritt darin die These und bemüht sich, diese durch
allerlei Zitate und Umstände zu belegen, dass die Gruppe 47
antisemitische Tendenzen gehabt habe. Und dies auch, weil sie den
Holocaust als Thema ignorierte, gar ausgrenzte. Diese Kritik an der
Gruppe 47, ausgerechnet, die man für völlig unbelastet gehalten hat -
Wie stehen Sie zu dieser These?
MRR:Was der Briegleb geschrieben hat, ist weitgehend großer Blödsinn. Er
hat keine Ahnung. Er weiß nicht, was er redet. Erstens waren in der
Gruppe 47 nicht wenige Juden. Wenn man daran denkt, wie viele Juden es
überhaupt damals gab, waren es gar nicht so wenige. Wer
waren die Juden in der Gruppe 47? Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss,
Erich Fried, Jakov Lind, Hans Mayer, und schließlich ich - da haben Sie
schon eine ganze Menge. Es haben die Juden gelegentlich, die nicht
gerade der Gruppe angehörten, aber als Gäste da waren, aus ihren
Büchern gelesen, zum Beispiel Hans Sahl, also ein deutscher Jude, der
in Amerika lebte. Und da war noch ein anderer, Michel Stone, aus
England, glaube ich. Die Juden, die auf den Tagungen der Gruppe 47
gelesen haben, sind von der Kritik genauso behandelt worden wie alle
anderen. Dass Juden auf irgendeine Weise von der Kritik - der
mündlichen, es war ja mündlich - auf irgendeine Weise diskriminiert
oder benachteiligt wurden, ist absolut ausgeschlossen, ist unwahr. Das
ist das Entscheidende. Ein anderer Punkt: Klaus Briegleb
hat gesagt, es würden manche Juden nicht dabei gewesen sein. Natürlich
nicht. Natürlich waren Hermann Kesten oder Robert Neumann nicht dabei.
Das war eine andere Generation. Genauso wie die Nicht-Juden wie Luise
Rinser oder Rudolf Krämer-Badoni auch nicht dabei waren. Die waren zu
alt. Also da ist kein Wort wahr. Nun kommt aber eine
andere Sache dazu und die ist viel diffiziler: Der eigentliche Kern der
Gruppe waren ja Leute, die im Zweiten Weltkrieg Soldaten der Wehrmacht
waren und zum Teil in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern gewesen
waren. Da waren Leute wie Hans-Werner Richter, wie Alfred Andersch, wie
Wolf Dietrich Schnurre, wie Heinrich Böll und viele mehr. Die kamen
auch, wie man mir erzählte, in den ersten Jahren der Existenz der
Gruppe, Ende der vierziger Jahre, Anfang der fünfziger Jahre, noch in
Mänteln der Wehrmacht. Das war damals üblich, wenn man sich keinen
neuen Mantel leisten konnte.
Röhl: Wie Helmut Schmidt, von dem es auch heißt, er sei noch im Soldatenmantel zur Universität gekommen.
MRR: Ja, genau. Und Leute, die
so geformt, geprägt wurden durch das Kriegserlebnis, durch die
Wehrmacht wie Christian Ferber, der Sohn der Ina Seidel, der auch
dazugehörte zu dieser Gruppe - für alle diese Leute waren die Juden, ob
sie sie gern hatten oder nicht, der Hildesheimer, der Fried, der Jakov
Lind, Peter Weiss, natürlich irgendwie fremd, aber ich sehe darin noch
nichts Antisemitisches. Die Juden waren Menschen mit
einer anderen Vergangenheit: Hildesheimer war im Krieg in Palästina,
Fried in England, Peter Weiss in Schweden - und ich kann mir denken,
dass diese Gruppe mit ihrer Erfahrung in der deutschen Wehrmacht abends
beim Wein eigentlich lieber unter sich war und nicht so gerne wollte,
dass da auch noch die Juden dabei sind, bei denen man aufpassen musste,
dass man nicht irgendetwas sagt, was sie eventuell kränken könnte. Das
ist alles. Darin sehe ich keine Zeichen des Antisemitismus, sondern
eine ziemlich normale Sache und wie gesagt, ich habe - und ich bin nun
wirklich für Fragen des Antisemitismus empfindlich - in der Gruppe 47
keine Anzeichen des Antisemitismus gemerkt. Günter Grass
wollte zu einem bestimmten Zeitpunkt, dass man mich aus der Gruppe
rausschmeißt. Es gibt Briefe, gedruckte, an Richter, wo er das
begründet, glaube ich, und auch Hildesheimer wollte, dass man mich
richtig rausschmeißt, gerade also auch ein Jude wollte dies, weil ihnen
meine Art der Kritik missfiel. Andere, wie Siegfried Lenz, haben mich
dagegen verteidigt. Und nach langen Überlegungen hat Richter
beschlossen, ich soll in der Gruppe bleiben. Ich sei als Kritiker doch
nötig in dieser Gruppe. Aber: Warum wollte Grass, dass man mich
rausschmeißt? Weil ich Jude bin? Um Gottes Willen, keine Spur davon:
Weil ich ungünstig über irgendetwas von ihm geurteilt habe. Mit
Antisemitismus hatte das gar nichts zu tun. Und noch ein
Punkt. Es ist nie die Frage des Holocaust diskutiert worden. Was soll
der Quatsch? Es sind überhaupt keine Fragen diskutiert worden. Es ist
auch nicht die Frage der Teilung Deutschlands diskutiert worden, es ist
auch nicht die Arbeitslosigkeit diskutiert worden. In der Gruppe sind
keinerlei Probleme und Fragen diskutiert worden. Es wurden Texte
gelesen. Romankapitel, Gedichte und Novellen und dann wurde darüber
geredet. Nur über Texte. Und wer von dem Text abwich, ist von Richter
zur Ordnung gerufen worden. Es sollte keine politische Diskussion sein,
sondern eine literarische. Wenn Sie wollen, dies ist etwas überspitzt,
es wurde diskutiert, ob die Konjunktive richtig waren, und ob die
leisen oder die lauten, die hellen oder die dunklen Vokale dominieren.
Röhl: Also auch die Zitate von Paul Celan oder von Ingeborg Bachmann... Sie
hat gesagt, laut Briegleb, die Kritik an ihren Gedichten in der Gruppe
47 seien so schlimm gewesen, dass sie sich wie unter Nazis gefühlt
hätte...
MRR: Weiß ich nicht. Habe ich
nicht von der Bachmann gehört. Bachmann war verliebt in den Celan und
der Celan hat dort gelesen und ist durchgefallen. Weil die Gruppe 47
für seine Poesie, die überhaupt nichts mit der damaligen deutschen
etwas zu tun hatte, kein Verständnis hatte. Sie hat damals mit ihm
geschlafen. Was wollen Sie? Natürlich hat sie ihn verteidigt. Das war
auch kein Philosemitismus und kein Antisemitismus, sondern Erotik.
Röhl: Gab es unter den jüdischen Schriftstellern auch eine Solidarität?
MRR:Nein, es
gab keine Kontakte. Erich Fried und ich haben uns kennen gelernt. Wir
waren auch bei ihm in London, er war auch bei uns. Aber sonst gab es
eine solche Gemeinsamkeit nicht. Alle waren verstreut. Das war schon im
Krieg so gewesen: Peter Weiss ging es gut in Stockholm im Krieg, Fried
hatte in London als Fabrikarbeiter arbeiten müssen, Hildesheimer war in
Palästina gewesen und dann war er Dolmetscher beim Nürnberger Prozess.
Ich hatte, als wir in Hamburg lebten, überhaupt keine Kontakte zu
Juden. Wir haben mal Rolf Liebermann im Theater Guten Tag gesagt oder
Ida Ehre. Aber die Juden haben sich auch um mich nicht gekümmert, es
gab übrigens nur wenige. Auch in Frankfurt habe ich mich nie um die
Juden gekümmert. Ich war nie Mitglied in der jüdischen Gemeinde,
Röhl: Ganz anders als Ignatz Bubis.
MRR: Genau. Ja. Ignatz Bubis
Röhl: Sie und Ignatz Bubis,
der 1999 gestorben ist und lange Jahre der Vorsitzende des Zentralrats
der Juden war, haben, so unterschiedlich Sie sind, eine Gemeinsamkeit:
Sie beide sind nie als Opfer aufgetreten. Oder sehen Sie das anders?
MRR: Nein, ich sehe es gar nicht
anders. Es gibt einen Unterschied zwischen Bubis und mir. Einen ganz
gewaltigen, von anderen abgesehen. Bubis hielt sich viele Jahre lang
für einen Deutschen und ich nie. Ich war kein Deutscher und ich bin
kein Deutscher. Und wenn das jemand vermutet oder sagt, weise ich dies
weit von mir, und lasse mich auch nicht vereinnahmen. Ich bin kein
Deutscher. Deswegen sind mir viele Enttäuschungen erspart geblieben,
die Bubis und seine Frau erlebten. Bubis war schon entsetzt, als ihn
die arme Petra Roth gefragt hat: Sehen wir uns nächste Woche bei Ihrem
Botschafter, das hieß dem Botschafter Israels in Bad Godesberg.
Verstehen Sie? Oder wenn eine Ladenverkäuferin ihn fragte: Fahren Sie
über die Osterfeiertage in Ihre Heimat, womit gemeint war, nach Israel?
Mir werden solche Fragen nicht gestellt. Aber ich habe mich nie als
Deutscher gefühlt und niemand kann mir mein Deutschtum bestreiten - das
gibt's nicht. Mein Deutschtum besteht nur in meiner tiefen
langjährigen, ein Leben währenden Beschäftigung mit der deutschen
Literatur. Ich benutze das Wort deutsch für meine Person nur als
Adjektiv. Ich bin ein deutscher Literaturkritiker oder wie Sie wollen.
So sieht's aus.
Röhl: Sie waren nie in einer jüdischen Gemeinde...
MRR:Nein, in
keiner jüdischen Gemeinde, weder vor dem Krieg, während des Krieges
oder nach dem Krieg. Ich habe während des Krieges in der jüdischen
Gemeinde in Warschau als Übersetzter gearbeitet. Im so genannten
Judenrat. Das steht ja auch in dem Buch genau beschrieben, aber ich war
nie Mitglied der jüdischen Gemeinde, und das letzte Mal bei einem
jüdischen Gottesdienst war ich vor 70 Jahren.
Röhl: Vor 70 Jahren? Das ist wirklich eine Weile her.
MRR: Später in den nächsten 70
Jahren war ich einmal in einer jüdischen Synagoge in Prag als Tourist,
denn zu den Sehenswürdigkeiten der Altstadt gehört die Synagoge. Ich
gehe zu keinem Gottesdienst. Ich habe ein ganz negatives Verhältnis zu
allen Religionen auf Erden.
Röhl: Waren Sie nicht schon als Kind zum Rabbiner auserkoren?
MRR: Ja, mein Großvater hat das
gesagt, aber er hat das mehr scherzhaft gemeint. Sie meinen die
Gespräche, die er mit mir geführt hat, als ich 10/11 Jahre alt war. Da
sagte er: Du wärest geeignet dafür, Rabbiner zu werden. Und um mich zu
locken, hat er, was ich für ganz amüsant hielt - es hat mir gefallen -
gesagt: Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel man als Rabbiner
faulenzen kann.
"Der Müll, die Stadt und der Tod"
Röhl:Es gab ein Theaterstück, das in Frankfurt 1985 uraufgeführt werden sollte: "Der Müll, die Stadt und der Tod."....
MRR: Das Fassbinderstück, bei dem Bubis und seine Frau auf der Bühne standen und protestierten.
Röhl: Sie haben dieses Ereignis als Literaturkritiker der FAZ sicherlich miterlebt.
MRR:Ja, ich war an dem Abend da. Ich war bei der Aufführung dabei.
Röhl: Wie ist Ihre Meinung
zu diesem Stück? Und wie ist Ihre Meinung zu diesem Streit gewesen und
auch, dass sich Bubis und die jüdische Gemeinde dagegen gewehrt haben,
dass dieses Stück aufgeführt wird?
MRR:Es war
falsch, ein Fehler und eine Dummheit, dass der Intendant des Theaters
in Frankfurt, Günther Rühle, mit dem ich viele Jahre in der FAZ
zusammengearbeitet habe, dieses Stück aufführen ließ. Und der
Haupteinwand von mir gegen dieses Stück lautet: Es ist ein so
schlechtes Stück. Es ist miserable Literatur. Es ist hingerotzt und es
ist überhaupt nicht der Rede wert. Ich wollte bei dieser Generalprobe,
dieser öffentlichen, einmaligen Aufführung des Stückes etwas tun, damit
das Stück doch aufgeführt werden kann. Es sind ja die Vertreter der
jüdischen Gemeinde auf die Bühne gegangen mit Transparenten und haben
dagegen protestiert und es verhindert. Naja, und nachdem
die Vorstellung seit Stunden nicht begonnen hatte, ging ich auf die
Bühne und habe - leise - mit Bubis verhandelt. Und sagte ihm: Ihr habt
bewiesen, dass Ihr die Vorstellung verhindern könnt, Ihr verhindert Sie
nun schon zwei Stunden. Es reicht. Es sind hier viele Journalisten,
auch Journalisten aus dem Ausland, und alle wollen das sehen, um sich
zu überzeugen, was das eigentlich ist. Bitte gebt die Bühne frei. Bubis
hat mir eine Antwort gegeben, die jede Diskussion beendet hat. Er hat
gesagt: Und wenn wir bis 6 Uhr früh hier stehen, wir gehen nicht von
der Bühne, wir bleiben hier. Denn es ist ein Beschluss der Gemeinde,
dass wir diese Vorstellung verhindern sollen, also kann ich nichts
machen. Ich kann Ihren Wunsch nicht erfüllen, ich bin gebunden an
diesen Entschluss. Da bin ich runtergegangen und habe mich wieder ins
Publikum gesetzt.
Tosia RR: Und wurde es gespielt?
MRR: Nein.Das
heißt, es wurde dann viel später ein einziges Mal gespielt. Ich habe es
gesehen. Es ist ein ganz schlechtes Stück, Sie können es sich nicht
vorstellen. So ein Mist. Nirgends auf der Erde hat man das Stück
aufgeführt. In New York hat man es dann noch einmal versucht, in einem
kleinen schäbigen Theater, doch die Aufführung blieb leer - man hat es
nach zwei Vorstellungen abgesetzt.
Röhl: Die Geschichte ist historisch interessant.....
MRR: Es war das erste Mal, dass
Juden so öffentlich protestierend aufgetreten sind, und es gibt ein
Wort von Rühle, das in dem Zusammenhang von großer Bedeutung ist. In
einer Funkdiskussion mit Bubis hat er gesagt: Die Schonzeit ist vorbei.
Haben Sie kapiert? War ein dolles Wort. Die Schonzeit - (gemeint war:
für die Juden) - ist vorbei.
Röhl: Vor knapp 20 Jahren, während dieser Diskussion fiel so etwas?
MRR: Ja genau. Mitten in dieser Zeit, ich glaube, es war in den achtziger Jahren.
Röhl: Nicht umsonst ist
Fassbinders Drehbuch "Der Müll, die Stadt und der Tod" (bei Suhrkamp)
schon 1976 wegen "antisemitischer" und "linksfaschistischer" Stellen
vom Markt genommen worden. Das Stück handelte vom Häuserkampf in
Frankfurt in den siebziger Jahren. Einer der besonders traktierten
Grundstücksbesitzer war damals Ignatz Bubis, der ein paar Jahre zum
bevorzugten Feind der Frankfurter Gewaltszene geworden war. Deshalb
verstehe ich, dass Bubis sich durch das Stück angegriffen fühlte. Er
war angegriffen.
MRR: Bubis war das Vorbild für
die Figur "Der reiche Jude". Die einzige Figur im Stück, die keinen
Namen hatte. Der reiche Jude. Ein Typ.
Röhl: Ist das Antisemitismus?...
MRR: Ja, natürlich war das ein
antisemitisches Stück. Selbstverständlich. Na, was denn sonst? Und
Bubis ist von Rühle gebeten worden, das Stück nicht zu verhindern. Der
Rühle ist umgekehrt vom damaligen Frankfurter Oberbürgermeister
Wallmann bekniet worden. Der sagte zu Rühle: Machen Sie das doch nicht.
Wir sind die Partnerstadt von Tel Aviv. Verzichten Sie doch auf das
Stück! "Nein", sagte Rühle.
Röhl:Und
dies ist übrigens auch aus der Sicht von Ignatz Bubis, den ich unter
anderem zu diesem Stück 1999 ganz kurz vor seinem Tod ausführlich
interviewt habe, ein offener linker Antisemitismus. Man kennt immer den
Antisemitismus von rechts.....
MRR:Nein.
Nein. Joachim Fest hat damals diesen Fehler gemacht. Er hatte in der
FAZ geschrieben: Der linke Fassbinder hat das Stück geschrieben. Nur
war Fassbinder nie links in seinem Leben. Er hat mit den Linken nichts
im Sinn gehabt. Jeder der rüpelhaft war, wurde für links gehalten.
Röhl: Sie würden Fassbinder ...
MRR:Der hatte nichts mit linken Ideen zu tun.
Röhl: Aber auch nicht mit rechten Ideen.
MRR:Nein, überhaupt nicht, Politik hat ihn nicht interessiert.
Röhl: Schätzen Sie Fassbinder eigentlich?
MRR:Ach Gott
ja, natürlich. Er hat einige Filme gemacht, die sehr gut waren. Ich
habe früher Stücke von ihm gesehen, die mich interessiert haben. Er war
mit Sicherheit nicht mein Typ. Das können Sie sich denken. Aber: dass
er Talent hatte, ja. Von Fassbinder war ein Stück, da war ich sogar bei
der Uraufführung in Bremen. Er hat schon Sinn gehabt für die Bühne. Gar
keine Frage. Und seine Filme: Effi Briest ist kein revolutionäres Buch,
und er hat aus Effi Briest doch einen recht beachtlichen Film gemacht.
Röhl: Hatten Sie je etwas mit der Szene in Frankfurt um Joschka Fischer und Cohn-Bendit zu tun?
MRR:Wenig,
wenig. Sehen Sie, ich kann mich gar nicht daran erinnern. Ich kenne
Daniel Cohn-Bendit: Er hat ein Interview mit mir gemacht Ende der
Siebziger für den "Pflasterstrand." Das war gar nicht so schlecht. Er
hat hier auf dem Sofa gesessen. Ich habe ihn später mal bei der einen
oder anderen Gelegenheit gesehen.
Die "Frankfurter Verlobung"
Röhl: Ich frage dies, weil
Sie in Frankfurt vor einem Jahr im Schauspielhaus in dem Theaterstück
des inzwischen verstorbenen Kabarettisten Matthias Beltz waren, das ja
ebenfalls diese Zeit der siebziger Jahren beschreibt: "Die Frankfurter
Verlobung". Wie man überall lesen konnte, waren Sie von dem Stück
begeistert.
MRR: Es hat mir sehr gefallen. Es stand sogar in der "Bildzeitung", dass ich ein zweites Mal in die Aufführung gegangen bin.
Röhl: Es geht in dem Stück
um die linksradikale Vergangenheit von Beltz und Joschka Fischer in den
siebziger Jahren. Matthias Beltz tritt in der Person des "Gerhard",
einem Rechtsanwalt mit linksradikaler Vergangenheit quasi selber auf
die Bühne, "Bille" ist eine Weggefährtin, mit der er sich verloben
will. "Johannes" tritt als Sohn von "Bille" als rebellierendes
68er-Kind auf. "Mascha", die Freundin des Sohnes, ist TV-Journalistin.
Sie will alles über die linksradikale Vergangenheit des "Ministers"
wissen. Hinter der Figur des "Ministers", der in dem Stück nie
auftaucht, aber auf den alle warten, ähnlich wie in "Warten auf Godot",
verbirgt sich unverschlüsselt Außenminister Fischer. "Gerhard" alias
Matthias Beltz erzählt "Mascha" in einem langen Monolog von einem
Molotowcocktailanschlag von 1975, bei dem ein Polizist lebensgefährlich
verletzt wurde. Wussten Sie, dass meine Person in dem Stück eben als
diese Journalistin Mascha vorkommt?
MRR: Mascha, in diesem Stück?
Röhl: Ja. Ich hatte Beltz
vor ein paar Jahren mehrfach und intensiv interviewt und ihm dabei im
Scherz erzählt, dass ich ein echtes "Kommunistenkind" sei, da beide
Eltern viele Jahre aus Moskau finanziert worden waren. Daher kam er
wohl darauf, mich als Russin, als "Stalins Tochter", wie es in dem
Stück heißt, zu verfremden. Was mochten Sie an dem Stück, dass Sie mit
Ihrem Wohlgefallen damals in allen Medien zitiert wurden?
MRR: Es hat mich interessiert,
als zeitkritisches Stück, das die Atmosphäre jener Jahre auf der Bühne
zeigte. Es war auch sehr gut gespielt, der Schauspieler, der den Beltz
spielte, Edgar Selge und seine Frau, Franziska Walser, waren beide sehr
gut.
Röhl:Und der Inhalt?
MRR: Liebe, das ist eine Weile
her, seit ich das gesehen habe. Mich hat das Stück sehr interessiert,
aber ich habe über das Stück selbst nicht geschrieben und ich möchte es
jetzt nicht irgendwie analysieren - das ist zu spät.
Röhl: Ist das ein Racheakt von Beltz gewesen?
MRR: Das kann ich nicht
beurteilen, ich kenne das Milieu nicht so genau. Ich weiß es nicht.
Mich hat das Stück sehr interessiert und die Aufführung auch. Ich habe
ein Stück Zeitgeschichte und auch Frankfurter Geschichte in dem Stück
gesehen. Schluss.
Martin Walser
Röhl: Sie selber sind vor zwei Jahren das Vorbild für eine Romanfigur geworden.
MRR: Jetzt wollen Sie über Martin Walser reden. Langweilen Sie mich nicht.
Röhl: Was sagen Sie dazu,
dass der Suhrkamp Verlag sich hinter seinen Autoren Walser gestellt hat
und das Buch sogar ein Verkaufserfolg wurde?
MRR: Na ja, hören Sie zu! Bei so
einer Affäre, das ist natürlich eine dolle Werbung. Der Verlag hat da
solche halbherzigen Maßnahmen ergriffen. So gab es keine einzige
Anzeige dieses Buches. Der Verlag hat es nicht inseriert, nirgends,
kein einziges Mal. Die Ulla Berkewicz hat sich damals zurückgezogen.
Sie hat die Entscheidung dem Berg überlassen. Der Günther Berg ist
inzwischen rausgeschmissen aus dem Verlag, aber er hat das damals so
entschieden. Eine Kritik von Joachim Kaiser in der "Süddeutschen" hat
dabei stark mitgewirkt. Ja, ein Autor rächt sich.
Röhl: Sie sagen Rache, aber war denn Herr Walser wirklich ein literarisches Opfer von Ihnen?
MRR: Nein, ich habe ja manche Bücher von ihm gelobt und gerühmt. Manche
habe ich verrissen. Aber er war wütend. Er fand, dass ich sein Unglück
sei. Er wollte sich rächen und er hat ausdrücklich erklärt, dass er
diese Rache lange vorbereitet hat. Es war ein Racheakt, und ein
Racheakt, bei dem eindeutig in dem Roman die Figur ein Jude ist. Es
wurden antisemitische Ressentiments bedient von dem Roman: ein Jude,
der nicht deutsch sprechen kann, alles, was Sie wollen. Ich fand das
Buch infam und niederträchtig und der Walser ist eigentlich nicht mehr
salonfähig.
Ehrengast Albert Speer
Röhl: Sie beschreiben, dass
FAZ-Mitherausgeber Joachim Fest, als Sie Anfang der siebziger Jahre in
Frankfurt bei der FAZ als Literaturchef im Feuilleton begannen, Sie zu
der Präsentation seines Buches "Hitler. Eine Biographie" nach Berlin
eingeladen hatte und Sie und Ihre Frau dort Albert Speer persönlich
begegneten. Und dass dies ein schockierendes Erlebnis natürlich war.
Ich empfinde diese Begegnung als eine der ungeheuerlichsten Erlebnisse
in dem Buch überhaupt, diese Zusammenführung auf einem Parkett...
MRR: Ja!
Röhl: ....wo Albert Speer nicht als Kriegsgefangener oder als Verbrecher vor Ihnen stand, sondern quasi als eingeladener...
MRR: Als Ehrengast! Was wollen Sie von mir wissen? Es steht alles in meinem Buch!
Röhl: Ja, mir scheint fast
zu wenig. Ich finde, dass dieser Punkt keine angemessene, öffentliche
Beachtung gefunden hat, wenn ich das sagen darf. Ich habe gelesen, dass
Sie ( zu Tosia RR gewandt) sehr erschrocken waren über den für sie
überraschenden Gast.
MRR: Ja.
Röhl: Ist das von Joachim
Fest eine Art Koketterie gewesen? Wollte er wissen: Wie reagieren die
jetzt? Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen?
MRR: Ich bin überzeugt, dass
Joachim Fest sich überhaupt nicht dessen bewusst war, was er mir damit
angetan hat. Und ich bin überzeugt, dass es für Joachim Fest eine Ehre
war, dass eine so historische Persönlichkeit wie Albert Speer bei der
Präsentation seines Buches zugegen war.
Röhl: Okay, wenn er in Handschellen dort gestanden hätte, in einer Ecke.
MRR (lacht): Ich verstehe Sie.
Tosia RR (lacht)
MRR: Er war ein eleganter Herr
ohne Handschellen. Sehr elegant, dezent angezogen, überaus höflich.
Eingeladen wurde er von Wolf Jobst Siedler. In dessen Wohnung fand ja
die Sache statt. Und der Siedler scharwenzelte um ihn her, um den
Ehrengast.
Röhl:Er bekam die Aufmerksamkeit.
MRR: Ja.
Röhl:Er war der Mittelpunkt.
MRR:So war's.
Tosia RR:So war's.
Röhl: Und Sie können dann ja
nicht hingehen und ihm eine runterhauen, wenn ich es mal salopp
ausdrücken darf. Es gibt einfach kein angemessenes Mittel. Was macht
man da in dieser Situation?
MRR: Wissen Sie, die Sache war
die, dass ich mir einen Augenblick überlegt habe, wie ich reagieren
soll. Und da kam von hinten oder von der Seite Siedler und führte mich
hin zu ihm, ganz schnell ging das. Ich war schon da! Ich hatte von ihm
fünf, sechs Schritte entfernt gestanden - und nun stand ich direkt vor
ihm und er grüßte mich. Er war schon darauf aufmerksam gemacht worden,
dass da noch ein Jude übrig geblieben ist und jetzt da ist, den er
gleich sehen wird.
Röhl: Er war bestimmt vorher genau informiert worden.
MRR: Bestimmt war er das, das weiß ich. 'türlich! Er war vorbereitet. Er war zu mir auf übertriebene Weise höflich.
Tosia RR: Natürlich!
Röhl: Das sprengt den Rahmen, wenn so einer geladen wird als Ehrengast, dann gibt es keine Handlungsmöglichkeiten mehr.
MRR: Ja. Und denken Sie an die
Äußerung von ihm, die ich zitiere! Das Buch war ja aufgebahrt auf einem
Pult mit Samt bezogen und er kuckte auf das Buch und dann nach oben und
sagte: ER hätte seine Freude dran. Ja, ER, Adolf Hitler.
'68, RAF und Erich Fried
Röhl:Sie
haben beschrieben, dass ihre erste Begegnung mit der 68er-Bewegung 1967
war, als die Gruppe 47 in der Nähe von Erlangen tagte...
MRR:Die sind
zu der Tagung gekommen, wo wir uns getroffen hatten und haben sich vor
das Haus gestellt und haben gebrüllt: Die Gruppe 47 ist ein
Papiertiger! So ein Blödsinn. Es waren Studenten, die wussten nicht,
was sie redeten, und einige Schriftsteller wie Erich Fried und Martin
Walser versuchten Reden zu halten und die zu beruhigen. Später, als ich
über diese Tagung in der "Zeit" schrieb, habe ich aus der Sicht dieser
Leute den großen "Fehler" begangen, dass ich nur über die Tagung, nicht
aber über diesen Zwischenfall schrieb. Ich hielt ihn nicht für
bedeutsam. Fried und Walser und einige andere versuchten die Studenten
zu verstehen und sich ihnen anzupassen. Ich halte das für falsch.
Röhl: Zehn Jahre später
schrieb Erich Fried ein "Gedicht" über die Ermordung des
Generalbundesanwalts Siegfried Buback 1977 durch die RAF. Dieses
Gedicht erschien in der FAZ. Erich Fried fasste in diesem Gedicht die
klammheimliche Freude der Sympathisanten am Mord an Buback zusammen -
war das Literatur?
MRR:Nein, es war ein widerliches
Gedicht. Ich entsinne mich noch. Ich hatte Kummer genug wegen dieses
Gedichtes. Ichmusste die Zusammenarbeit der FAZ mit Erich Fried
jedenfalls zeitweilig unterbrechen.
Röhl:Wegen dieses Gedichtes?
MRR: Wenn ich das nicht getan
hätte, hätte ich eine Weisung bekommen. Und ich wollte keine Weisung
von den Herausgebern bekommen. Ich habe von mir aus abgebrochen und der
Herausgeber Reißmüller hat es mir noch sehr verübelt und gesagt, was
solle denn das Wort "einstweilen" bedeuten. Nun, das sollte nur
bedeuten, dass die deutsche Literaturgeschichte keine lebenslänglichen
Urteile kennt. Ich hab auch noch gesagt: Die FAZ hat manchem
Journalisten seine Vergangenheit großzügig verziehen. Ich meinte Karl
Korn, der viele Jahre lang Herausgeber für Kultur war und der im
Dritten Reich die schreckliche Jud Süss-Kritik geschrieben hatte und es
waren noch andere Nazis in den frühen Jahren in der FAZ. Es war ein
widerliches, törichtes, dummes Gedicht. Erich Fried war kein sehr
kluger Mensch, aber begabt war er schon. Er hat auch manch gutes
Gedicht geschrieben.
Röhl: Wie stehen Sie zu den 68ern?
MRR: Da sind Sie bei mir an der
falschen Adresse. Ich bin in die BRD 1958 gekommen. Ich habe an keiner
einzigen Demonstration teilgenommen, an keiner einzigen politischen
Versammlung, Kundgebung und dergleichen. Das habe ich nicht gesucht.
Mich haben interessiert: Heinrich Böll, Max Frisch, Ingeborg Bachmann,
Friedrich Dürrenmatt, aber nicht die DKP und 68er-Bewegung. Ich habe
das, was sich hier in Frankfurt abgespielt hat, aus Hamburg aus großer
Distanz gesehen und den Eindruck gehabt, das ist die
Freizeitbeschäftigung der Wohlstandskinder gewesen. Die Aufmärsche
haben mich an meine Kindheit und Jugend in der Nazizeit erinnert.
Mit freundlicher Genehmigung von Bettina Röhl (www.welt.de)
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