Erschienen in Ausgabe: No. 37 (3/2009) | Letzte Änderung: 27.10.15 |
von Stefan Groß
Die intellektuelle Welt ist sich einig: Friedrich Schiller
bleibt der große Wortführer des 19. Jahrhunderts – auch in Sachen Politik. Er
war aber, dies lässt sich nicht bestreiten, kein rein politisierender
Philosoph, wenngleich ihm die Frage nach dem rechten Staatswesen all zu sehr
interessierte. Was er zu erzielen erhoffte, war eine Reformierung der
Gesellschaft vor dem Hintergrund einer ästhetischen Revolution. Schiller geht
es nicht um ein utopisches Ideal von Geselligkeit, sondern um ein dezidiertes Programm,
wie gesellschaftliches Miteinander überhaupt möglich wird. Er ist dabei
Visionär und kritischer Zeitzeuge zugleich. Visionär, weil er an einer
Reformierung der Gesellschaft festhält, Realist, weil er weiß, daß sich diese
nur durch eine aufgeklärte Menschheit einfordern lässt.
Diese sich durch Freiheit selbst bestimmende Subjektivität, das ästhetische
Ich, das sich zur Gattung steigern soll, war und blieb ohne die Kantische
Philosophie aber undenkbar, denn der Königsberger Denker wurde zum Leitstern
für eine Ästhetik, in der sich Freiheit und Notwendigkeit synthetisieren
sollten; das Vermögen, das dies leisten soll – die Urteilskraft.
Es ist also auch der Dichter Friedrich Schiller, der sich die Ästhetik Kants
kritisch zum Vorbild nimmt, um das miteinander zu verbinden, was sich innerhalb
der Kantischen Philosophie diametral gegenübersteht. Schiller, der
Gefühlsmensch, moniert also genau das, was den Kantischen Rigorismus ausmacht,
was diesen – auch noch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, bei Max Scheler
etwa – als Manko vorgeworfen wurde. Denn: Eine Denkungsart, die sich allein auf
einen radikal formulierten Pflichtbegriff, wie bei Kant, reduziert, lehnt
Schiller schlichtweg ab, weil es zum Wesen des Menschen gehört, Pflicht und
Neigung miteinander zu verbinden. Anders gesagt: Reine Pflicht, so die Kritik,
schliesst Neigung aus und damit das, was den Menschen als sinnliches Wesen
auszeichnet. Pure Neigung ohne Pflicht, dies endet in reiner Triebhaftigkeit,
die der Natur des Menschen widerstreitet. Weder Kants „Kritik der reinen
Vernunft“ noch die „Kritik der praktischen Vernunft“ in ihrer Einseitigkeit als
reine Erkenntnistheorie, die um die Grenzen des Verstandes spekuliert und als
rein praktische Philosophie mit dem kategorischen Imperativ in ihrer Mitte
Sollensregeln aufstellt, nimmt Schiller als der Weisheit letzten Schluss,
sondern Synthese bleibt sein letztes Wort. Der ästhetische Terminus, den er
dafür reserviert, ist das „Spiel“, denn, wie hinreichend bekannt, wird der
Mensch erst dann zum vernünftig-sinnlichen Wesen, wenn er spielt, wenn sich
Form- und Stofftrieb zu einer symbolischen Einheit verbinden. Für diese
Synthese steht letztendlich auch die Kunst.
Schiller, dem Eleven der Karlsschule des Herzogs von Württemberg ist jeder
politische Dogmatismus suspekt, ja, er rebelliert seit früher Jugend gegen eine
Inszenierung der Macht, die in einem reinen Despotismus kulminiert.
Schillers Antwort auf die negativen Formenspiele des politischen Fanalismus
bleiben bekanntlich seine „Die Räuber“, wo der ausgebildete Mediziner nicht nur
eine Anti-Utopie, besser, eine radikale Reform der gesellschaftlichen
Verhältnisse entwirft, sondern auch seine ganz konkreten Vorstellungen von
einem freien Menschen in einer als frei-bestimmten, herrschaftsfreien Ordnung
verortet. „Die Räuber“ werden damit zum Synonym für ein Freiheitsideal, dem
jede Gängelei fraglich wird, jeder Erziehungsdrill unakzeptabel bleibt – eine
Erziehung durch und mit Politik undenkbar.
Schiller, der spätere Professor in Jena, beginnt seine politische Karriere also
mit einem Anti-Erziehungsstück, mit einer puren Provokation, die auf die
gesellschaftlichen und soziokulturellen Verhältnisse im Württembergischen
Herzogtum abzielt. Was der Ästhetiker dabei im Auge hat, ist die radikale
Infragestellung eines absolutistischen Weltbildes, das sich am Gedanken des mos
geometrico orientiert. Die reine Machtinszenierung des Barock und des Rokoko
sind die erklärten Feindbilder. Denn: Die Welt, insbesondere die ästhetische,
lässt sich nicht auf das Vokabular reiner Verstandestätigkeit reduzieren,
sondern bedarf einer nicht im Lot stehenden Ordnung, die sich eben als
ästhetische Ordnung und Unordnung zugleich kennzeichnen lässt.
Die Sturm- und Drangzeit des jungen Schiller, die antiklerikale und
antiaufgeklärte Phase, weicht aber sukzessive einer politischen Denkungsart,
die nicht das aus der Gesellschaft ausbrechende, ihr kontraproduktiv sich
entgegenstellende Individuum ins Zentrum rückt, sondern den Weltbürger, der
sich seiner politischen Verantwortung zugleich bewusst ist. Der „Weltbürger“
ist es, der gemässigte Klassiker, der ein radikal-blindwütiges Ästhetisieren
mit antidokrinärem Affekt in Frage stellt.
Für den Schiller der ästhetischen Briefe bedeutet dies – auch rückblickend und
sich distanzierend von den „Räubern“:
„Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkern beantwortet
wurde, ist nun, wie es scheint, vor den Richterstuhl reiner Vernunft anhängig
gemacht, und wer nur immer fähig ist, sich in das Zentrum des Ganzen zu
versetzen und sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als einen
Besitzer jenes Vernunftgerichts betrachten, sowie er als Mensch und als
Weltbürger zugleich Partei ist und näher oder entfernter in den Erfolg sich
verwickelt sieht. Es ist also nicht bloß seine eigene Sache, die in diesem
großen Rechtshandel zur Entscheidung kommt; es soll auch nach den Gesetzen
gesprochen werden, die er als vernünftiger Geist selbst zu diktieren fähig und
berechtigt ist.“ Was sich also vom Frühwerk zur ästhetisch-philosophischen
Phase zu Beginn der 90er Jahre vollzieht, ist ein Paradigmawechsel auf
breitester Front. Politische Indifferenz, ja, a-politische Vorstellungen werden
durch ein staatsbürgerliches Denken ersetzt, das die „Gattung“ zunehmend in den
Mittelpunkt rückt. Diesen Paradigmawechsel herbeizuführen, dies bleibt die
Aufgabe der „schönen Seele“, die Anspruch auf „Versöhnung“ erhebt.
Eine Revolution der Denkungsart obliegt dabei ganz der ästhetischen Erziehung.
Nur so ist es zu verstehen, dass die Schönheit der Freiheit vorauszugehen habe,
denn nur durch die ästhetische Bildung wird eine freiheitliche möglich. Diese
Aufgabe einer ästhetischen Erziehung übermittelt der Ästhetiker nicht dem
Staat, dem er keineswegs zutraut, zu moralischer Erziehung beizutragen, sondern
sendet diese an die Adresse der schönen Kunst, die, um wahrhaft wirklich zu
sein, schöner Schein bleiben muss. Eine rein politische Erziehung von Seiten
des Staates aus betrachtet Schiller als illusionär, denn die Belange des
Staates lassen sich eben nicht mit dem Ideal des schönen Scheins vermitteln.
Bevor es also zu einer Veredlung des Menschengeschlechts, zu jenem von Schiller
geforderten Paradigmenwechsel zwischen Notstaat und Vernunftstaat kommt, muss
sich das Individuum, quasi aus sich selbst heraus, zur ästhetischen Erziehung
entscheiden.
Noch vor der Analyse, wie sie Fichte in seinen Beschreibungen über das
gegenwärtige Zeitalter liefert, ist es Schiller mit seinen ästhetischen
Briefen, der jeden radikal-fundierten Extremismus kritisiert. Der Mensch lässt
sich weder, wie die platonische Denkungsart nahelegt, auf seine intelligible
Struktur, auf ein rein rationales Dasein also, reduzieren noch bleibt er bloßes
Resultat sinnlicher Wahrnehmungsprozesse, sondern, und dies macht sein
eigentliches Menschsein aus, er bringt aus Freiheit sein eigentliches
Wesen zum Vorschein. Jede Radikalität der Denkungsart, die sich auf eines der
beiden Extreme reduziert, ist dem Analysten der Geschichte ein Greuel. Wohin
die Radikalität von einseitigen Denkmustern führt, dazu bedarf es ja keineswegs
einer Analyse des 20. Jahrhunderts, dies hat der ästhetische Philosoph bereits
in der Aufarbeitung seines geschichtliche Umfelds und aller Geschichtlichkeit
vor ihm mit überzeugender Detailgenauigkeit herausgearbeitet. Schillers
Idealismus kulminiert damit in einer Philosophie selbstbestimmter Freiheit,
denn Freiheit wird zum A und O jeder Spekulation.
Freiheit ist damit nicht nur in der Politik, sondern wird auch – und in aller
erster Linie – in der Kunst das letzte Wort sein. Schiller schreibt: „[…] denn
die Kunst ist eine Tochter der Freyheit, und von der Nothwendigkeit der
Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift
empfangen“. So sehr also Schiller an eine Versöhnung von Sinnlichkeit und
Vernunft glaubt, so sehr er sich diese wünscht, deutlich wird, dass die
Vernunft ein Prä hat. Ohne das Noumenon der Vernunft bleibt moralisches sowie
ästhetisches Handeln undenkbar.
Vor dem Blickwinkel des Politischen betrachtet, heisst dies: Soll ein Staat
kein Produkt von fremdbestimmten Individuen sein (Notstaat), dann muss er
Produkt von sich selbst bestimmenden Individuen werden. Was den wahrhaftigen
Staat daher auszeichnet, ist vernünftige Selbstbestimmtheit, die sich dazu
entschliesst, den rohen Naturstaat in den Vernunftstaat zu überführen. Die Idee
dieses Staates, so Schiller, bleibt aber so lange problematisch, so lange der
sinnliche Trieb regiert. Es kommt also darauf an, die sinnliche Neigung, die
problematisch ist, zu überwinden, bzw., sie ins Gleichgewicht mit der Vernunft
zu setzen. Eben dieses Gleichgewicht herzustellen, bedeutet für ihn Versöhnung.
„Es käme also darauf an, von dem physischen Charakter die Willkür und von dem
moralischen die Freiheit abzusondern – es käme darauf an, den ersten mit
Gesetzen übereinstimmend, den letzteren von Eindrücken abhängig zu machen – es
käme darauf an, jenen von der Materie etwas weiter zu entfernen, diesen ihr um
etwas näher zu bringen – um einen dritten Charakter zu bilden, der, mit jenen
beiden verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze
einen Uebergang bahnte und, ohne den moralische Charakter an seiner Entwicklung
zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfand der unsichtbaren Wirklichkeit
diente.“ Schiller gibt, nichts anderes ist von einem Zeitzeugen zu erwarten,
auch ein Resümee dessen, was er an seinem gegenwärtigen Zeitalter kritisiert.
Von den Idealen der „Französischen Revolution“, die von vielen aufgeklärten
Denkern frenetisch gefeiert wurden, verabschiedet er sich früh, er spürte jenen
grenzenlos-politischen Idealismus, der letztendlich im Terror kulminieren
musste. Der Verlauf der Revolution hat Schillers Zaudern bestätigt, denn die
Freiheit wurde durch einen radikalen Terror erkauft; die Revolutionäre wurden
selbst zu „Schindern“.
Insbesondere in den ersten Briefen der ästhetischen Erziehung markiert Schiller
ein Gesellschaftsbild, das kritischer nicht ausfallen kann. Wenngleich er
betont, dass er nicht gern in einem anderen Jahrhundert „leben und für ein
andres gearbeitet haben“ würde, so wird doch deutlich, was der Zeitbürger, der
zugleich Staatsbürger ist, beabsichtigt. Schiller ist ein gnadenloser Chronist,
seine kritische Sicht auf den Zeitgeist bleibt prägnant. Wie später Engels und
Brecht analysiert der Ästhetiker die Unarten, die Verflachung der Mode und den
geistigen Verfall auf breitetester Front. Die kritische Analyse dessen, was den
sogenannten Zeitgeist ausmacht, liest sich wie eine genuine Beschreibung der
Kulturverflachung, wie man sie auch im 21. Jahrhundert findet. Geradezu aktuell
ist Schiller, wenn er schreibt:
„Jetzt aber herrscht das Bedürfniß, und beugt die gesunkene Menschheit unter
sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte
frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das
geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt,
verschwindet sie von dem lermenden Markt des Jahrhunderts.“ Mit diesem Negativbefund
des Zeitgeistes zeigt sich Schiller nicht nur als Philosoph, der gegen den
Werteverfall anstreitet, sondern als authentischer Journalist, der gegen die
Moden des Zeitgeistes kämpft.
Wenngleich das Vokabular Schillers, in dem er seine radikal-harsche Kritik
formuliert, antiquiert erscheinen mag, der Befund und die Kritik bleiben auch
für heutige Verhältnisse ungemein aktuell. Der Weimarer Ästhetiker spricht von
Erschlaffung, von einem ermüdeten Zeitgeist, der sich in den Seelen einnistet,
und der zu einer unendlichen Seelenruhe führt, die ungemein a-politisch ist.
Der Klassiker setzt diese Erschlaffung seinerseits mit einer Ermüdung der
Denkungsart gleich, mit dem freien Spiel der Kräfte, die sich nicht im Kampf
mit der Ratio abmühen, sondern im selbstvergessenen Kampf an der Sinnenfront
sich ermüden. Erschlaffung meint daher nichts anderes, als ein auf die
pur-gelebte Sinnlichkeit hinvegetierendes Dasein, dem jede ideale Note fremd
ist, dem jeder Idealismus vaghalsig und nicht mit der „Kontinuität“ eines
behaglichen Lebens vereinbar scheint. Schlaffheit, dies legt Schiller nahe, und
dies erweist sich auch als Desaster der Moderne, ist ein pures Spiel mit den
Formen, ein Zweck ohne Zweck, eine gleichgültige Verschiebung von
Verantwortung, ein regelloses Spiel mit leeren Hülsen und Floskeln. Das
Ergebnis dieser Flucht in die Spielerei ist und bleibt, dies hat Schiller schon
erkannt, im höchsten Grade unproduktiv, denn eine auf reine Sinnlichkeit sich
reduzierende Individualität kulminiert im absoluten Individualismus, der in
seinem negativsten Befund in einem stoischen Egoismus endet. Dieser Egoismus
der Denkungsart ist es, den Schiller in seinen ästhetischen Briefen kritisiert,
den er als schlechten Auswuchs brandmarkt. Egoismus, diese, auch die Moderne
kennzeichnende und hinreichend prägende Größe, die jedes soziale Miteinander
destruiert, diesen Egoismus greift Schiller mit aller Nachhaltigkeit an, ihn zu
negieren, bleibt eines der Ziele einer ästhetischen Erziehung, die zuerst den
Menschen an sich, dann den Menschen als Gattung ansprechen will. Purer
Egoismus, so Schiller, ist also mit der Idee, dem Ideal einer ästhetischen
Erziehung, unvereinbar.
Menschsein bedeutet, und dies ist eine Schlussfolgerung Schillers, die sich aus
den ästhetischen Briefen ziehen lässt, Sein im Anderen und im Anderen-Sein.
Schiller bezieht damit eindeutig Position gegen jenen grenzenlosen
Individualismus, den er, schon vor zweihundert Jahren, als bloße Schimäre, als
unproduktive Geisteshaltung entlarvt. So nimmt es nicht wunder, wenn er
schreibt:
„Mitten im Schooße der raffinirtesten Geselligkeit hat der Egoism sein System
gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir
alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft“. […] Stolze Selbstgenügsamkeit
zieht das Herz des Weltmanns zusammen, das in dem rohen Naturmenschen noch oft
sympathetisch schlägt, und wie aus einer brennenden Stadt sucht jeder nur sein
elendes Eigenthum aus der Verwüstung zu flüchten.“ Noch deutlicher wird
Schiller, wenn er bemerkt:
„Die Kultur, weit entfernt, uns in Freyheit zu setzen, entwickelt mit jeder
Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfniß, die Bande des
physischen schüren sich immer beängstigender zu, so daß die Furcht, zu
verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt, und die Maxime
des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt. So sieht man
den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und
bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es
ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“
So verwundert es nicht, dass Schiller eine „Totalität des Charakters“ fordert,
denn dieser gilt ihm als das Fundament des ästhetischen Fortschritts, der
Kultivierung. Auch hier zeigt ein Blick in die Moderne, wo rohe und gesetzlose
Triebe walten, in aller Deutlichkeit, was der Weimarer Ästhetiker vor Augen
hat. Wo unlenksame „Wuth“ und „thierische Befriedigung“ regieren, bleibt ein
Fortschreiten auf das Ideal der Tugend undenkbar. Diesen Verflachungsprozeß zu
analysieren, dies macht Schillers Zeitanalyse für die Gegenwartsanalyse unserer
Zeit noch prägnanter.
Gerade im 21. Jahrhundert scheint sich ein Trend fortzusetzen, der anstatt auf
freiheitliche Autonomie abzuzielen, sich auf ein sklavisches, ja manchmal
barbarisches Rezipieren versteift, der grenzenlose Konsum, in welcher Form auch
immer, ist Resultat einer Gesellschaft, die sich jedem tiefgreifenderem Sinn
verweigert. Es ist nicht nur die virtuelle Welt, Presse und Rundfunk
eingeschlossen, die zu einer Banalisierung der Lebenswelt beitragen, es ist
geradezu ein Phänomen der Zeit, sich freiwillig am inhaltslosen Zeitstrom
abzuarbeiten, sich eindeutig dazu zu bekennen, sich von jeder bürgerlichen
Ordnung zu befreien. Das Resultat dessen, zumindest in Deutschland, ist
grenzenlose Einsamkeit, Beziehungsunfähigkeit, unendliche Erwartung und blinder
Trieb.
Was Schiller produktiv als Spiel begriff, als synthetische Vereinigung von
Rationalität und Sinnlichkeit, dies ist im 21. Jahrhundert derart pervertiert,
dass von einem Spiel, wie es der Klassiker vor Augen hatte, keine Rede mehr
sein kann. Denn: Es geht keineswegs mehr um das Spiel, das Versöhnung
garantiert, sondern nur noch um ein sinnentleertes Spielen, von dem sich
Schiller radikal abzusondern hoffte. Spiel bleibt, dies kann man als Befund der
Gegenwart deuten, Wortspiel, Zeichen eines übersteigerten Individualismus, dem
es gar nicht einfällt, sich mit dem klassischen Spielideal auseinanderzusetzen.
Man spielt, wo man ist, man ist das Spiel, indem man sich als Spieler
einerseits zu erkennen gibt, andererseits, sich des Spiels verweigert, wenn
einem die Regeln nicht mehr passen. Spiel, so lässt sich im 21. Jahrhundert
definieren, ist ein Spiel ohne Regeln, ohne Grenze, ein reines Lustspiel
subjektiver Geltungsnatur. Statt Regulativ sinnentleerte Scheinharmonie, statt
kantischem Rigorismus subjektive Selbstinszenierung.
Schiller selbst aber war Realist genug, um genau zu wissen, dass von den
niederen Klassen keine Revolution zu erwarten sei, sein kritischer
Gesellschaftsspiegel informiert eingehend darüber. Aber auch von den elitären
Schichten, vom aufgeklärten Bürgertum samt seinen Bildungskapazitäten, erhoffte
er sich wenig. So schreibt er in den ästhetischen Briefen:
„Auf der andern Seite geben uns die civilisirten Klassen den noch widrigern
Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr
empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist. […] Die Aufklärung des
Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen,
zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie
vielmehr die Verderbniß durch Maximen befestigt. Wir verläugnen die Natur auf
ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyranney zu erfahren, und
indem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wir unsre Grundsätze von ihr
an.“ Auch mit dieser Feststellung, dass die kulturell-etablierten Schichten an
einer progressiven Umformulierung des Zeitgeistes nur bedingt teilhaben können,
zeigt sich Schiller als detailgetreuer Chronist. So bemerkt er frühzeitig, dass
ein rein auf die Intellektualität reduziertes Denken nichts zu moralischen
Verbesserung beizutragen weiss. Gerade in der kognitiven Einhausung des
intellektuellen Bewusstseins sieht er eine radikale Diskontinuität am Werk, die
sich selbst aufhebt. Den rein Intellektuellen, so die uneingeschränkte Kritik
Schillers, gelingt es nicht, produktiv und kritisch in den Zeitgeist
einzugreifen, diesen zu verändern. Auch ihr Spiel ist eine Paraphrase, die
darin kulminiert, kein „geselliges Herz mit heraus zu bringen.“
Neben den ungebildeten Ständen, denen Schiller zumindest ihr Unwissen verzeiht,
weil dieses allzu sehr auf der subjektiven Seite siedelt, sind es auch immer
mehr die Kulturkreise, die auf eine Krise zusteuern. Ist es dort, bei den
„niedren Klassen“, die Sinnlichkeit, so ist es bei den gebildeten Schichten die
manierierte Vernunft, die die Grenzen überschreitet, weil ihr das sinnliche Substrat
abhanden geht.
Schiller kritisiert also sowohl die niederen Klassen als auch die degenerierte
intellektuelle Welt, die sich anheischig macht, über wahre Kultur und Kunst
Auskunft zu geben. Anders gesagt: Erschlaffung der Natur findet sich sowohl in
einer überzeichneten Triebhaftigkeit, der sinnlichen Natur eben, die ihre
Grenzen verliert, als auch in einer sich auf geistige Postulate zurückziehenden
Intellektualität, der die Erfahrungen der sinnlichen Welt diametral
entgegengesetzt bleiben. Mit einer rein sich selbst gefälligen
Intellektualität, einer l’art pour l’art, lässt sich, so Schiller, der Gedanke
einer ästhetischen Erziehung nicht vereinbaren.
Idealbild seiner Ästhetik bleibt Griechenland, die griechische Kultur, denn
dort findet er jene Synthese der Denkart, die für die Moderne vorerst rein
utopisch bleibt. So bemerkt er zu den Griechen, zur arkadischen Kunst: „So hoch
die Vernunft auch stieg, so zog sie doch immer die Materie liebend nach, und so
fein und scharf sie auch trennte, so verstümmelte sie doch nie.“ Diese
bemerkenswerten Anmerkungen finden sich im sechsten Brief der ästhetischen
Erziehung. Dort spielt Schiller die klassische Antike gegen die Moderne aus.
Gab es dort Einheit, so nunmehr Differenz. Im Heute herrscht Willkür, das
klassische Ideal, Tugend und Sinnlichkeit in eine sie synthetisierende Ordnung
zu überführen, bleibt auf Jahre nicht realisierbar.
„Damals bey jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte hatten die Sinne und der
Geist noch kein strenge geschiedenes Eigenthum; denn noch hatte kein Zwiespalt
sie gereizt, mit einander feindselig abzutheilen, und ihre Markung zu
bestimmen. […] Wie ganz anders bey uns Neuern! Auch bey uns ist das Bild der
Gattung in den Individuen vergrößert auseinander geworfen – aber in Bruchstücken,
nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individuum zu Individuum
herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammen zu lesen.“ Es ist also
die Isolation, die Schiller hier beklagt. Sie ist es auch, die als Phänomen der
Moderne charakteristisch bleibt. Wenngleich es für Schiller kein „Zurück zu
Arkadien“ gibt, da er nur den Versuch tätigt, die Differenzen in einer
elysischen Apologie zu verschmelzen, so wird doch deutlich, worauf der Weimarer
Klassiker zielt. Kontinuität der Denkungsart lässt sich, so die überzeugte
Meinung des Philosophen gar nicht mehr herstellen, selbst wenn man diese
dringend denn je benötigt.
Welche Instanz, so ließe sich aber fragen, vermag diesem Dilemma Abhilfe zu
schaffen. Welcher Kunstgattung gelingt es, progressiv auf den Menschen
einzuwirken?
Es ist die sogenannte Schaubühne als moralische Anstalt, die für Schiller
diejenige bleibt, die zu politischer Bildung erzieht. Sie begreift er nicht nur
als das Medium, das der ausgeprägten Sinnlichkeit der „unteren“ Begehrungsvermögen
entgegensteuert, sondern durch das es allein möglich wird, Glückseligkeit als
höchstes Ziel des Menschen zu realisieren. Auf den Zustand zwischen rein
immanenter Geistigkeit einerseits und regelloser Sinnlichkeit andererseits
reagierend verbindet sich in der Schaubühne Intellektualität und Sinnlichkeit
zu „einem mittleren Zustand, der beide widersprechende Enden vereinigte“. Indem
die Schaubühne die Bildung des Herzens und des Verstandes miteinander
verbindet, erhebt sie sich sowohl über den Staat (und seine
Rechtsvorschriften), der, so Schiller, letztendlich nur „verneinende Pflichten“
gebietet als auch über die Religion, deren Offenbarungen sich zumeist an die
sinnliche Natur des Menschen richten.
„Eben diese Unzulänglichkeit, diese schwankende Eigenschaft der politischen
Gesetze, welche dem Staat die Religion unentbehrlich macht, bestimmt auch den
sittlichen Einfluß der Bühne.“ Die Schaubühne, wo „Anschauung“ und „lebendige
Gegenwart“, Laster und Tugend, Glückseligkeit und Elend miteinander
verschmelzen, steht für eine autonome Kunst, denn sie setzt dort an, wo „das
Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt“. Sie avanciert zu demjenigen Medium,
das den Menschen vor den Richterstuhl der Kunst zieht. Als schöne Kunst, d.h.
letztendlich für Schiller – als harmonische Kunst – vermittelt sie nicht nur
zwischen dem Reich der Phantasie (Einbildungskraft) und der sittlichen
Notwendigkeit, sondern erweist sich auch als geschichtsbildende Kraft, in der
sich Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinden. Aus der Geschichte
bezieht die Bühne ihren Stoff, in der Aktualisierung wird sie politisch. „So
gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als toter Buchstab und kalte
Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und
Gesetze.“ Es sind die allgegenwärtigen Probleme des Alltags, die die Bühne in
das Gewand des Geschichtlichen kleidet, ohne dabei an Authentizität zu
verlieren. Ihr gelingt es auf diesem Weg, weltliche Gerechtigkeit und religiöse
Tugenden so miteinander zu vereinigen, dass sie zu einer Quelle wird, die es
dem Menschen erlaubt, über sein Schicksal hinauszutreten, sich aus seiner
unverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Die spiegelbildliche Repräsentation
geschichtlicher Daten und der Aspekt, aus diesen Erfahrungen zu lernen, um
letztendlich zeitgenössische Vorstellungen von Tugend und Religiosität mit
diesen zu vergleichen, macht die Schaubühne als eine Anstalt aus, die die
geschichtliche Vorzeit aktualisiert und zugleich ihre zeitliche Distanz zu
dieser verdeutlicht.
„Die Schaubühne führt uns eine mannigfaltige Szene menschlicher Leiden vor. Sie
zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse und belohnt uns das augenblickliche
Leiden mit wollüstigen Thränen und einem herrlichen Zuwachs an Mut und
Erfahrung.“ Die Schaubühne ist eine „Schule der praktischen Weisheit, ein
Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den
geheimsten Zugängen der menschlichen Seele“. Die erste Aufgabe der Schaubühne
sieht Schiller im Sichtbarmachen von Problemen, von politischen insbesondere,
wenn man an Dramen wie Don Karlos, Fiesco, Kabale und Liebe, Wallenstein, Maria
Stuart und Wilhelm Tell denkt. Sie alle drehen sich um nichts anderes als um
die große, in jedem Fall exzessiv entfaltete Politik, um Schicksale, die politischen
Intrigen erliegen. „Aber nicht genug, daß uns die Bühne mit Schicksalen der
Menschheit bekannt macht, sie lehrt uns auch gerechter gegen den Unglücklichen
sein und nachsichtsvoller über ihn richten.“ Die Schaubühne übt, wie Schiller
betont, einen sittlichen Einfluß auf die Politik aus, da sie Menschlichkeit und
Sanftmut befördert. Daneben begreift sie Schiller als nationale Instanz, die es
ermöglicht, eine kollektive politische Identität herzustellen. Diese nationale
Identität, diesen Nationalcharakter, sucht er ebenfalls in den ästhetischen
Briefen. In der Schaubühne sieht Schiller die „wirkmächtige“ Instanz – wie
übrigens auch in der antiken Polis –, der es gelingt, eine bessere Menschheit
heranzuziehen.
„Nur der Schaubühne ist es möglich, diese Uebereinstimmung in einem hohen Grad
zu bewirken, weil sie das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert,
alle Situationen des Lebens erschöpft und in alle Winkel des Herzens hinunter
leuchtet; weil sie alle Stände und Klassen in sich vereinigt und den
gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat.“ Allein der Schaubühne
gelingt es, zu einer wahrhaften Erziehung beizutragen, weil sie sowohl die
sinnliche Natur des Menschen als auch seine Vernunft mit anspricht. Neben
dieser pädagogischen Funktion, die die Schaubühne im Rahmen des Kunstdiskurses
auszeichnet, obliegt ihr weiterhin auch die Möglichkeit, bildend auf die
unteren Teile des Volkes zu wirken. Denn:
„Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden,
bessern Teile des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus
in milderem Strahle durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere
Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle
Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens
verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht.“ Die epochemachende Kraft
der Schaubühne, wie sie von Schiller gefordert wird, besteht also darin, der
erzieherischen Pflicht des Staates entgegenzukommen. Wenn der Staat als
gesetzgebende Instanz versagt, bleibt es ihm nur möglich, sich durch die
Schaubühne Geltung zu verschaffen, denn ihr gelingt es nicht nur, Irrtümer
einer fehlbildenden Geschichts- und Realitätssicht zu korrigieren, nur ihr ist
es möglich, „[...] die unglücklichen Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung
in rührenden, erschütternden Gemälden“ an ihrem Schicksal vorbeizuführen.
Das, was auch Brecht vorschwebte, eine Erziehung durch die Bühne, dies war also
auch Schillers ausgewiesenes Ziel. Eine Veredlung der Sitten, so der bekennende
Dramatiker, lässt sich also nur durch die gezielte Wirkung der Schaubühne,
durch ihr existentielles Moment erringen. Die Kunst, die das rationelle Moment
in den Mittelpunkt rückte, musste von diesem wieder abkommen, musste sich
revitalisieren, um die „mühsamen Planzungen“, die der Verstand verwüstet hat,
mit dem Feuer des Herzens zu versöhnen. Auf die heutige Zeit gewendet, bedeutet
dies: Ein blinder Aktionismus, der sich an die Fesseln des Rationalen bindet,
ohne das emotionale Moment zu befriedigen, führt in die Aporie. Der Mensch als
Individuum muss sich an die Gattung fesseln, so wie umgekehrt die Gattung nur
der allgemeine Bestimmungsgrund des Individuums sein kann. Bestimmt die Gattung
mit ihren Wertvorstellungen negativ das Individuum, so kann dieses, wenn es
diese nicht selbst verinnerlicht hat, gar nicht zur Gattung aufsteigen. Das
Individuum, das sich in sich selbst gespalten ist, verliert also auch seinen
Bezug zur überindividuellen Ordnung.
Auch mit diesem Tatsachenbefund zeichnet sich Schiller nicht nur als
detailgetreuer Chronist seiner Zeit aus, sondern beschreibt bereits auch ein
Paradigma moderner Zivilisation. Denn: Was Schiller vor 200 Jahren kritisierte,
die Entfremdung des Individuums von der Gattung, dies zeigt sich als Phänomen
der Moderne. Hier wie damals verliert das Subjekt seinen Ort, wird ortlos.
Denn, wie Schiller bemerkt:
„Ewig nur an ein einzelnes Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der
Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des
Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens,
und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem
Abdruck des Geschäfts, seiner Wissenschaft. […] Der todte Buchstabe vertritt den
lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtniß leitet sicherer als Genie und
Empfindung.“ Und, so heißt es weiter: „Und so wird denn allmählig das einzelne
konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein
friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil in das Gefühl
nirgends findet. Genöthigt, sich die Mannichfaltigkeit seiner Bürger durch
Klassifizierung zu erleichtern, und die Menschheit nie anders als durch
Repräsentation aus der zweyten Hand zu empfangen, verliert der regierende Theil
sie zuletzt ganz und gar aus den Augen, indem er sie mit einem bloßen Machwerk
des Verstandes vermengt; und der regierte kann nicht anders als mit Kaltsinn
die Gesetze empfangen, die an ihn selbst so wenig gerichtet sind.“ Deutlicher
als es Schiller hervorhebt, lässt sich auch die Politikverdrossenheit des 21.
Jahrhunderts nicht beschreiben. Zwar ist es nicht der Konflikt zwischen
Sinnlichkeit und Geistigkeit, der sich als Antagonismus der Moderne ausweisen
lässt; es ist aber sehr wohl eine Tatsache, dass sich zunehmend viele Bürger
von den unverstandenen Prämissen einer politischen Staatsordnung verabschieden.
Dies unterstreicht Schiller für seine Zeit, wenn er schreibt: „Jene
Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen
Lebens genoß, und wenn es Noth that, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt
einem kunstreichen Uhrwerk Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich
vieler, aber lebloser, Theile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet.“
Das Verhängnis der Neuzeit ist das zerstückelte Individuum, das zwischen Ratio
und Sinnlichkeit schwankt, das sich nicht für eine Gesamtnatur entscheiden
kann. Es bleibt zwischen den Schwankungen des Alltags gefangen, ihm gelingt es
nicht, sich in irgendeiner Form zu positionieren. Es verliert sich in der
Gesellschaft, ermüdet sich an dieser, obwohl es doch aktiv an ihrer Gestaltung
teilnehmen sollte. Politische Ignoranz ist die Folge, Wertverkümmerung und
Depression Zeiterscheinungen, die dem Gefühl der Sinnenleere, der geistigen
Zerstückelung, auf den Fuss folgen.
Erziehung bedarf, auch dies hat Schiller mit aller Deutlichkeit vorgetragen,
einer Kulturpolitik, der es gelingt, deutend auf den Menschen einzugreifen,
Sinnzusammenhänge herzustellen, um damit einen neuen Optimismus in
lebensweltlichen, dies heisst, in gesellschaftlich-sozialen Zielen
herbeizuführen. Bei allem Enthusiasmus, mit dem Schiller für sein Ideal einer
ästhetischen Erziehung warb, zeigt sich heutzutage in Deutschland ein
gegenläufiger Trend. Die Kultur als Blüte des menschlichen Geistes, der
Versuch, wie es der Philosophieprofessor forderte, durch sie eine geistige
Erziehung zu erlangen, ist an einem Tiefpunkt angekommen. Gerade das Theater,
Schillers Schaubühne, erweist sich als ein Medium, das nur denjenigen Zutritt
ermöglicht, die sich einen Besuch auch finanziell leisten können. Von einer
Erziehung durch Kunst ist das 21. Jahrhundert weit entfernt, ein Ausweg aus der
Misere nicht im Blick. Vielmehr wird die Kunst selbst zum Spielball der
Politik, ihr Bedeutungshorizont tangiert gegen Null, Theater werden
geschlossen, die Kulturpolitik inszeniert ihren eigenen Untergang, sie erweist
sich als Chimäre, die an der Bildung, Pisa belegt dies hinlänglich, überhaupt
nicht interessiert ist.
Von Schiller kann man lernen, welch produktive Energie ein Medium, wie die
Schaubühne, freisetzen könnte, das allen Menschen ermöglicht, sich zu erziehen,
genauer, erzogen zu werden. Wo diese Bildungsinstanz fehlt, wo die „unteren“
Volksschichten radikal ausgeschlossen werden, da ist es auch mit einem
politischen Erziehungsideal nicht weit, da kehrt sich der politische Zeitgeist
in sein Gegenteil, in eben jene schon beschriebene sinnentleerte Nullität um.
Die Verflachung der Gesellschaft ist, und dagegen hat sich ja Schiller radikal
gewehrt, die notwendige Folge, Kulturverflachung par excellence. Dieser
entgegenzustreiten, dies bleibt Pflicht eines jeden Bürgers, der nicht auf eine
verkümmerte und isolierte Existenz hinstrebt, sondern sich als Weltbürger der Verantwortung
politisch-ästhetischer Erziehung bewusst ist.
Für diesen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu kämpfen, dafür hatte Schiller
die Philosophie Kants instrumentalisiert, dafür wirbt er in seinen ästhetischen
Schriften – dafür ist er auch als Dramatiker mit aller Nachhaltigkeit
eingetreten.
Erscheinung: 17.01.2009
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