Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 17.07.09 |
von Lisz Hirn
“Car le tragique n´est pas une épreuve parmi beaucoup
d´autres, il est l´épreuve par excellence de l´exister comme homme.”[1]
(François Chirpaz)
Dieser Essay behandelt die These, dass
eine Renaissance des tragischen Denkens in unserer abendländischen Kultur
notwendig ist und dieses Denken allein die nötige Schlagkraft hat, um den Vigor
des Abendlandes neu zu entfachen, welcher in Zeiten der allgegenwärtigen
Weltwirtschaftskrise besonders leidet. Selbstverständlich stellen sich
sogleich Fragen, die geklärt werden sollen: Zum einen, warum und wofür das
tragische Denken notwendig sein soll, zum anderen, was das tragische Denken von
anderen Arten des Denkens unterscheidet und auszeichnet. Schon eine Definition
des „Tragischen“ stellt sich eine große Herausforderung dar. Aus diesem Grund
versucht der vorliegende Aufsatz, die Fragestellungenaus einem hermeneutischen Blickwinkel zu
erörtern.
Inwiefern ist das tragische Denken für uns (post)modernen
Menschen von Bedeutung? Hat es überhaupt eine? Es scheint so zu sein, wenn man
sich die Mühe macht, den Blick in diverse philosophische Magazine zu werfen, in
welchen doch tatsächlich, in einigen Fällen recht umfangreich, auf die
Bedeutung des Tragischen für die bestehende(n) Lebenswelt(en) Rücksicht
genommen wird. So findet sich im französischen Philosophie Magazine No. 10[2] ein interessantes Interview zwischen einem
Philosophen, Clément Rosset, und einem Kunsthistoriker, Jean Clair, das es wert
ist, in diese Diskussion aufgenommen zu werden. Jean Clair eröffnet das
Interview mit Clément Rosset:
„Heutzutage ist die Melancholie durch stetiges
Klagen ersetzt worden. Da ist, was die Psychoanalytiker den ganzen Tag in ihrem
Kabinett hören: von den Leuten, die einen Coach brauchen, um am Morgen
aufzustehen! Das verrät eine intellektuell und materiell unterstützte, zu
Infantilismus und zur Sterilität verurteilte Gesellschaft. Denken ist schmerzhaft,
besser man schaut fern.“
Clément Rosset fährt fort:
„Der Ausgangspunkt meiner Philosophie ist das
Bewusstsein des Tragischen der Existenz. Alles ist dazu bestimmt zu
verschwinden, der Tod umgibt uns und wir sind durch unsere Inkonsistenz
bedroht. Oder man lehnt das Tragische und den Tod ab. Und diese Ablehnung des
Tragischen, also der Realität, bezahlt man teuer. Umgekehrt ist die Kapazität,
den tragischen Teil des Realen wieder zu etablieren, für mich der Prüfstein der
moralischen Gesundheit und der Freude. Man muss mit dem Tragischen zu leben
lernen. Man kann übrigens zwei Achsen in der Geschichte der Philosophie
unterscheiden, die Philosophen, welche dem Tragischen Recht geben - Pascal,
Nietzsche... - und diese, welche alles tun, um es (das Tragische) durch die
Rationalisierung der Welt zu beseitigen - Platon, Kant, Hegel...“
Die Philosophie jeder Kultur, vor allem
der jeweils bestimmenden, färbt das Denken der Menschen in ihr und so müssen
wir fragen, ob wir momentan in einer “èpoque tragique ou antitragique” leben? Das ist eine schwer zu
beantwortende Frage. Das
Tragische scheint sich unter den momentanen Lebensbedingungen und der
ideologischen Instabilität, sowohl sozial-politisch als auch
religiös-moralisch, wieder einen Platz, zumindest im philosophischen Kontext, zu sichern. Zumindest scheinen die neueren
Publikationen auf diesem Sektor ein Indiz dafür zu sein. Die Autoren dieses
Sektors befinden sich zumeist nahe an Esoterik und New-Age-Philosophy; auf
jeden Fall sprechen ihre hohen Verkaufszahlen für ein aufnahmebereites (westliches) Publikum. So
kritisiert beispielsweise Charles Pépin, im Citizen K International in
seinem Artikel “Contre la philothérapie”[3], die Degradierung der
Philosophie zur schlichten Selbst- und Lebenshilfe im Alltag:
“Die offizielle Rede ist, dass die Philosophie “glücklich macht“, nicht dass sie diese
komplexe, beschwerliche oder verzweifelte Zerlegung des Rätsels der
Wirklichkeit ist, sondern eine Kompilation von Rezepten, die zum Glück führen
sollen, eine Art von Philotherapie. [...] Sie ist als eine beruhigende Weisheit
verkauft worden, währenddessen sie mit einer gefährlichen Praxis des Staunens
verwandt sein könnte.Keine Erwähnung, selbstverständlich, von der
Definition der Philosophie als Schöpfung von Konzepten oder von den Schicksalen
all jener Philosophen, die Selbstmord begangen haben, all jenen depressiven,
pessimistischen oder tiefen Schmerz empfindenden Philosophen. [...] Sie (die
Philosophie) macht vielleicht lebendiger, aber nicht glücklicher. [...] und
wenn (die Leser) einfach versuchten sich zu kultivieren? Zu entdecken, dass es
andere Schicksale, andere Arten zu leben und zu denken gibt? Zu entdecken, dass
die Geschichte der Philosophie nicht einfach ein Heilmittel gegen den Stress
ist?“
Weiter stellt sich die Frage, ob dem Tragischen
überhaupt eine Existenzberechtigung zugesprochen wird oder das “Tragische”
geleugnet wird: Wird das Tragische bejaht oder verneint, verdrängt oder
akzeptiert? An dieser Stelle möchte ich den deutschen Philosophen Friedrich
Nietzsche besonders hervorheben, der sich für eine Renaissance des Tragischen
eingesetzt hat und die Bedeutung des Tragischen für die menschliche Existenz
hervorgehoben hat. Zahlreiche seiner Schriften beweisen dies, unter anderem Die
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik aus Nietzsches früher Schaffensperiode.
Dieser Philosoph soll deshalb als
Ausgangspunkt für weitere Überlegungen genommen werden.
Nietzsche fasst die Welt als “tragisch” auf;
die tragische Weisheit ist wahrhaftig und reflektiert die wahre “Natur” der Wirklichkeit und das
“Wesen“ der
Welt. Darauf bezogen schreibt Nietzsche in Die Geburt der Tragödie: “Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine
Uebersetzung der instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache
des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust
verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens
durch seine Vernichtung nicht berührt wird.”[4]Nietzsche schreibt weiter: “Wir
sollen erkennen wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergang bereit sein
muss, wir werden gezwungen, in die Schrecken der Individualexistenz
hineinzublicken -.”[5] Nietzsche misst den Wert jeder
Philosophie, vor allem jedes Philosophen, an der Fähigkeit mit dem Tragischen
umgehen und sich dem Tragischen stellen zu können. Daher
die Frage und gleichzeitig der Appell: Wo sind die Philosophen der Postmoderne,
die sich dem Tragischen stellen können, die eine Renaissance des Tragischen
einleiten können - sowohl als Lebensprinzip als auch als Prinzip des
künstlerischen Schaffens.
Die Entscheidung, ob das Tragische als ein
Lebensprinzip anerkannt oder geleugnet wird, führt Nietzsche zur
Auseinandersetzung mit Sokrates und, im weiteren Sinne, mit dem Dramatiker
Euripides. Sokrates sowie Euripides negieren beziehungsweise verkennen den
Gehalt des “Tragischen”,
der (klassischen) Tragödie an sich, also das Ungewisse/Ungeheure/Unaufhellbare
der Existenz, das sich in der Tragödie andeutet. “Das
Ungeheuere verliert sich in dem euripideisch-sokratischen Glauben an den “Verstand als die eigentliche Wurzel alles Genießens
und Schaffens”. Gerade von diesem schlechthin
Unaufhellbaren aber bezieht Nietzsches Denken in allen seinen Phasen seine
Stoßkraft.”[6]
Schopenhauer ist für diesen Diskurs relevant. Dieser
Philosoph ”sieht”, wie
Nietzsche, das Tragische, nur ist sein Umgang mit dieser Erkenntnis
ausschließlich pessimistisch. Schopenhauer plädiert für die Negation des
Willens (zum bloßen Sein)[7], während Nietzsche diesen Willen zu
bejahenempfiehlt. Nietzsche bejaht die
menschliche Existenz in ihrer umfassenden Tragik, in ihrem Leid und in ihrer
Lust. “Viele meinten, Nietzsche sei in seinem
ersten Buch ein blinder Anhänger Schopenhauers gewesen - tatsächlich hat er
aber in der griechischen Kunst ein Bollwerk gegen den Pessimismus Schopenhauers
entdeckt.”[8] Denn die Bändigung des Schreckens,
des Leidens, durch die Kunst ist ein weiterer wesentlicher Punkt um Nietzsches
ästhetische Konzeptionen verstehen zu können. Es muss betont werden, dass diese
“Bändigung”
nicht in der schopenhauerischen “Resignation” endet, sondern in einer Affirmation des Lebens “[...] durch die Hervorbringung von Kunstwerken [...]”[9]. Der Sinn einer Renaissance des tragischen
Denkens ist nicht der Verfall in einen aussichtslosen und passiven Pessimismus,
sondern vielmehr der Versuch der Akzeptanz des Tragischen jeder menschlichen
Existenz. Durch dessen Annahme können wir viel gewinnen: Zum einen unsere
Solidarität, zum anderen unsere individuelle Würde. Alle tragischen Philosophen
teilen uns das Folgende mit: Wir müssen uns in unserer Existenz bewähren, wir
müssen uns dem Tragischen stellen. Die Renaissance des Tragischen kann den (vor
allem in der westlichen Welt) vorherrschenden Nihilismus ausrotten, damit wir
eine Welt schaffen können, indem es Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit gibt,
und in der wir etwas finden können, wofür es sich zu leben lohnt.
Abschließend ist noch einmal auf das weiter oben
zitierte Interview hinzuweisen und dessen Konklusion festzuhalten. Clément Rosset enthält sich im Gespräch mit
dem Philosophie Magazine eines Urteils, jedoch nicht eines
abschließenden Kommentars, welches Nietzsche entspricht: „Die Augen vor der
Tragödie zu schließen ist eine sehr schlechte Methode gegenüber sich selbst.
Aber dass das, global, eine heute geläufigere Weise als gestern ist, dessen bin
ich nicht sicher. Ich denke, dass man zugleich pessimistisch und vollkommen
heiter sein muss.“
[1] CHIRPAZ, Francois: 2003. Dire le
tragique. IN: Corinne Hoogaert [Hrsg.]: Rhétoriques des latragédie. S. 13. [Denn das Tragische
ist nicht eine Empfindung untervielen anderen, es ist dieEmpfindung des Existierens als Mensch par excellence.]
[2]PHILOSOPHIE MAGAZINE Nr.10, Juin 2007, Crises
existentielles. Elles rythment notre vie. Paris:MédiaObs, S. 53.
[3]CITIZEN K INTERNATIONAL, Numéro XLIII,
Été 2007, Carla Bruni, L´Ensorceleuse, Paris: LeGrand Kapital SAS, S. 83.
[4]Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 108.
[5]ebda, S. 109.
[6]Ursula Schneider, Grundzüge einer
Philosophie des Glücks bei Nietzsche, S. 30.
[7]Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S.
385-575.
[8]Walter Kaufmann, Nietzsche, S. 152.
[9]ebda, S. 152.
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