Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 17.07.09 |
Jürgen Carsten: Gerecht ist … Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls – eine kritische Würdigung. Marburg (Tectum): 2008. 104 Seiten. EUR (D) 24,90. ISBN: 3828897754.
von Michael Lausberg
John Rawls (1921-2002), Professor für Politische Philosophie an der Harvard
University, gilt als der einflussreichste Vertreter der liberalen politischen
Philosophie des 20. Jahrhunderts. Vor allem mit seinen Werken „Gerechtigkeit
als Fairness“i
und „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ii
versuchte er, das Wesen der Gerechtigkeit genauer festzulegen. Er bestimmte
die Rolle der Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen. Die
Aufgabe von Gerechtigkeitsgrundsätzen sah er darin, die Grundstruktur der
Gesellschaft festzulegen, d.h. die Zuweisung von Rechten und Pflichten und die
Verteilung der gesamtgesellschaftlichen Güter.
Jürgen Kersten macht den Versuch, die Gerechtigkeitstheorie von Rawls zu
analysieren und kritisch zu würdigen. Dabei geht er auf die beiden Grundsätze
der „Gerechtigkeit als Fairness“ ein:
1.Jeder Mensch soll ein gleiches Recht auf alle Grundfreiheiten besitzen
(Wahlrecht, Rede- und Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Person,
Recht auf Eigentum),
2.Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit sind nur dann zu akzeptieren,
wenn a) das Prinzip der fairen Chancengleichheit herrscht, b) wenn sie dem am
schlechtesten gestelltem Mitglied der Gesellschaft noch zum Vorteil gereichen.
Kersten arbeitet die moralphilosophische Annahme Rawls heraus, dass, wenn
die Grundstruktur und die Institutionen einer Gesellschaft gerecht sind, ihre
Mitglieder den Gerechtigkeitssinn erwerben, d.h den Wunsch, gerecht zu handeln.
Dieser Gerechtigkeitssinn wird über soziales und moralisches Lernen, Gefühle
der Freundschaft sowie des Vertrauens entwickelt. Der Gerechtigkeitssinn wird
somit zu einem elementaren Bestandteil der Gesellschaft. Weiterhin entwickelt
Kersten Parallalen zwischen der Theorie Rawls und dem mittelalterlichen
Sachsenspiegel.
Die schon häufig vorgetragene Kritik, dass der Inhalt des Begriffes der Gerechtigkeit
in Geschichte und Gegenwart von religiösen und weltanschaulichen
Vorverständnissen bestimmt ist und sich mit dem Wandel der politisch und sozial
hegemonialen Wertvorstellungen verändert, wird bei Kersten nicht näher
behandelt. Walzer kam zu der Erkenntnis, dass Gerechtigkeit ein menschliches
Konstrukt ist.iii
Kelsen kommt in seiner Erörterung zu derselben Einsicht:iv
„Die Bestimmung der absoluten Werte im allgemeinen und die
Definition der Gerechtigkeit im besonderen, die auf diesem Wege erzielt werden,
erweisen sich als völlig leere Formeln, durch die jede beliebige
gesellschaftliche Ordnung als gerecht gerechtfertigt werden kann.“
Die zweite Schwachstelle der Arbeit ist die fehlende Analyse der von Rawls
Theorie ausgehenden Diskussionen in den Rechts- und Kulturwissenschaften über
Gerechtigkeit. Als Reaktion auf Rawls Darlegungen entwickelte sich ab den
1970er Jahren eine intensive Debatte um die Frage der Gerechtigkeit. Darunter
finden sich radikale Liberale wie Friedrich Hayekv,
Vertreter des Kommunitarismus wie Alasdair Mac Intyrevi
oder Charles Taylorvii,
die Diskurstheorie des Rechts von Jürgen Habermasviii
oder der Capabilities-Ansatz von Amartyra Sen.ix
Insgesamt gesehen kann das untersuchte Buch lediglich als erste Einführung
in das Werk von John Rawls und der Frage nach Gerechtigkeit dienen. Zentrale
Punkte werden entweder nicht angesprochen oder nur kurz erläutert; die im Titel
angekündigte kritische Würdigung wird nur teilweise eingelöst.
i
Rawls, J.: Gerechtigkeit als Fairness, Frankfurt/Main 2004.
ii
Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 2003.
iii
Walzer, M.: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und
Gleichheit, Frankfurt/Main/New York 2006, S. 30.
iv
Kelsen, H.: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1975, S. 18.
v
Hayek, F.A.: Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus,
München 1977.
vi
Mac Intyre, A.: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart,
Frankfurt/Main 2006.
vii
Taylor, C.: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/Main
1993.
viii
Habermas, J.: Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main 1992.
ix Sen, A.: Commodities and Capabilities, Amsterdam 1985.
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