Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 20.07.09 |
Marion Hiller (2008): ‚Harmonisch entgegengesetzt’. Zur Darstellung und Darstellungskunst in Hölderlins Poetik um 1800. Tübingen (Niemeyer) 2008. 294 S. EUR (D) 64,00. ISBN: 3484151188.
von Daniel Krause
„’Harmonisch entgegengesetzt’ ist ein Grundwort der
Hölderlin’schen Poetologie und als das Verhältnis von Einheit und Differenz
zugleich die Grundstruktur von ‚Darstellung’ in der abendländischen Philosophie
und Dichtung. Die Monographie arbeitet dieses zentrale Verhältnis in Bezug auf
sämtliche theoretische Schriften sowie bedeutende poetische Texte Hölderlins
heraus und bestimmt es in Rückgriff auf Platon und Heraklit in seiner
spezifischen Hölderlin’schen Ausprägung. In dieser originären Deutung des
Darstellungsverhältnisses liegt der Zielpunkt der poetologischen Erörterungen
wie der Dichtungen Hölderlins, nämlich die Begründung und das ‚Fühlbarmachen’
der Überlegenheit eines poetischen gegenüber einem diskursiv-philosophischen
Sprechen.“
Diese Worte sind Marion Hillers Hölderlin-Buch vorangestellt, einer
Dissertation aus der Tübinger Germanistik. Hier wird – beim Wort genommen – der
Anspruch erhoben, den „Zielpunkt“ der Dichtung wie Dichtungstheorie Hölderlins
und die Grundstruktur von Erkenntnistheorie seit den Griechen aufzuzeigen. An
Letzterem sind nicht wenige Philosophen gescheitert. (Weshalb solcherlei
Misserfolge durchaus nicht blamabel erscheinen.) Auch Marion Hiller scheitert:
Den philosophischen Problemen Hölderlins wird ihre Darstellung nicht
gerecht – trotz hoher philologischer Meriten. Schon jener Vorspruch
zeigt die Schwierigkeiten an: Wenn Hölderlins Deutung des
Darstellungsverhältnisses im Sinne harmonischer Entgegensetzung „originär“ ist,
stellt sich die Frage, wie sie „zugleich“ die „Grundstruktur von ‚Darstellung’“
in der abendländischen Philosophie und Dichtung bezeichnen kann. Auch fragt
sich, was unter „Darstellungsverhältnis“ (vs. ‚Darstellung’) zu verstehen ist.
Solche begrifflichen Zweideutigkeiten sind symptomatisch für ein im Ganzen
dennoch verdienstvolles, weil philologisch sehr gründliches, Werk der
Auslegungskunst.
Der erste Satz des Buches schlägt die Tonart an: „Die Hölderlinforschung ist
von Dichotomien geprägt.“ Ein listenreicher, rhetorisch bewundernswürdiger
Auftakt: Nicht allein Hölderlins Dichtung und Dichtungstheorie – und
„abendländische“ Philosophie – ist von Entgegensetzungen bestimmt, vielmehr
auch die Literaturwissenschaft, sofern sie sich Hölderlin zuwendet. (Der
Begriff ‚Abendland’ hätte eine gründliche Prüfung verdient, da er diverse ideologische
Implikationen birgt. Dessen ist die Autorin sich sehr wohl. Vgl. Fußnote 12, S.
4.) Marion Hiller nennt beispielhaft die Dichotomien „Romantik und Klassik“,
„Klassizismus und ‚vaterländische Wende’, “Idealismus und Mythologie“,
„Idealismus und Moderne“, schließlich „Dichtung und Philosophie“ (S. 1). Wer
dieser ersten These zum dichotomischen Charakter aller Hölderlin-Forschung
zugestimmt hat, wird sich bereit finden, Hillers weiteren Ausführungen
beizupflichten – auch dort, wo sie selbst „disparat“ bleiben... So viel wird
man Frau Hiller jedenfalls zugestehen: „Aus der Disparatheit der
Forschungsansätze [...] lässt sich [...] ein Zentrum des Streits [....]
ersehen, die Frage nach der Bewertung des Verhältnisses von Einheit und
Differenz.“ (S. 3)
Marion Hillers Arbeit bietet gleichwohl einige Angriffsflächen, im
Besonderen dort, wo sie das angestammte Terrain der Literaturwissenschaft
verlässt, um in philosophische Gefilde auszugreifen. Nicht, dass die Einlassungen
über Einheit und Differenz bei Heraklit und Parmenides ‚falsch’ wären, sie sind
schlicht unsachgemäß. Den professionellen Standards philosophischer
Argumentation wird dieses Werk Allgemeinen nicht gerecht. So erfordert es
einige Chuzpe, das europäische „Einheitsdenken“ als „neuplatonisch-aristotelisch-scholastisch“
zu kennzeichnen (S. 4). Was dieses Wortungetüm bedeutet, wird mit keinem Wort
erläutert. Die „metaphysische“ „Vorherrschaft des Einheitsdenkens“ für das
„heutige funktionale Perfektibilitätsdenken“ und die heutige „lebenspraktische
Haltung gegenüber Negativitätsphänomenen“ wie ‚Entzug’, ‚Krankheit’,
Scheitern’, ‚Tod’“ (Ebd.) verantwortlich zu machen, ist eine durchaus gewagte
kryptoheideggerianische Volte, die wiederum mit keinem Wort gerechtfertigt
wird. Damit ist das Grundproblem dieser Hölderlin-Arbeit bezeichnet:
Philosophen wie Heraklit, Parmenides, Plato und Aristoteles werden vielfach in
Anspruch genommen, eine Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Leistungen
findet gleichwohl nicht statt. Wo einzelne Philosopheme aufgerufen werden,
geschieht es in kühner Verkürzung. Ein Beispiel: „Die eben erfolgte,
diskursive Rede über den ‚göttlichen Moment’ ‚transzendentaler Empfindung’ ist
nur in diesen Aporien als Verweis möglich, denn das Sagen des Augenblicks des Umschlags
sagt ihn als Rede in zeitlicher Erstreckung und in der Differenz von Einheit
und Differenz immer auch schon nicht“ (S. 8). Marion Hillers idiosynkratische
Weise des Zugriffs auf Philosophie ist angesichts des hohen Anspruchs, eine
„nicht-traditionelle Lesart Platons“ (S. 10) bieten zu wollen, umso
enttäuschender.
Der erste Hauptteil der Arbeit ist „Annäherung an die Grundstruktur der
Darstellung“ überschrieben. Hyperion ist Gegenstand der Untersuchung,
als methodisches Leitbild dient zunächst die Narratologie Genettes. Die
musterhaft gründliche Textanalyse führt über bloß erzähltheoretische Fragen
hinaus: Hyperion lebt, so Marion Hiller, von der Spannung zwischen der
„Idealität“ und Homogeneität des „Athenervolks“ und der zwiespältigen, aller
Versöhnung verlorenen Realität des Titelhelden. „Hyperion muss sich [...] – in
seinen ‚Werken’ – als Künstler darstellen, um Künstler zu werden, um somit das
zu werden, was er schon ist. Die Briefe, die Hyperion an Bellarmin schreibt,
sind der Versuch, in der erinnernden Darstellung genau das zu vollziehen (S.
31).“
Die folgenden Einlassungen u. a. über „Bezüge des Hyperion und der Diotima-Gedichte
auf Heraklitische Topoi“ (S. 72ff) zeigen wiederum die Krux dieser Arbeit:
Dichte, teils buchstabengenaue Textanalysen stehen hochgradig unterkomplexen
philosophischen Konjekturen gegenüber: Oft sind es bloße Referate extrem
verkürzter philosophischer Wortmeldungen. Die begrifflichen, auch
formallogischen, Schwierigkeiten Hölderlinscher Philosopheme werden nicht
transparent gemacht. Das mag – vielleicht – philologischem Ethos entsprechen:
Wer wollte die Thesen eines verehrten Dichters auf Richtigkeit oder Kohärenz
prüfen? Philosophisch ist es hochgradig unbefriedigend. (Dies gilt umso mehr
für extravagante arithmetische Gedankenexperimente – „’4 = 1’“, vgl. S. 177.)Marion Hiller ist sich dieser Problemlage durchaus bewusst: „Es geht
Hölderlin [...] um die Herausarbeitung einer ‚poëtischen Logik, die der philosophischen
sowohl entspricht als auch sich von ihr absetzt, wobei ‚Logik’ in diesem
Kontext stärker von der Vielfalt der Bedeutungen des griechischen ‚logos’ als
von dem neuzeitlich verengten Begriff von ‚Logik’ als den abstrakten Gesetzen
des Denkens geprägt zu sein scheint.“ (S. 235) Hier schwingt die Unterstellung
mit, wenn Hölderlin – mit ‚dichterischer Freiheit’ – die Gesetze formaler Logik
missachte, stehe eben dies auch dem Hölderlin-Forscher zu. (Auf dieser
Voraussetzung gründeten Heideggers Hölderlin-Exegesen.) Objekt- und
metasprachliche Maßgaben werden umstandslos konfundiert. Der wissenschaftliche
Diskurs wird mit den Lizenzen der Dichtung versehen. Im Ergebnis sind
solcherlei Hölderlin-Deutungen kaum weniger erläuterungsbedürftig als der
Primärtext. Auch können nicht sämtliche Stilblüten als ‚notwendige’ Anpassung
an den Primärtext gerechtfertigt werden. Die sprachlichen Verschrobenheiten
sind oftmals nicht der bloßen Paraphrase geschuldet: „Die begrifflichen
Varianzen können zwar teilweise hypostasierend aufgehoben werden, doch muss das
Faktum unterschiedlicher Begrifflichkeit als möglicher Vollzug des
Dargestellten auf diskursiver Ebene mit in die Deutung einbezogen werden.“ (S.
172) (Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Marion Hiller läuft
durchaus nicht Gefahr, durch Dunkelheit des Ausdrucks Gedankentiefe simulieren
zu wollen. Sie ist redlich bemüht, wenngleich nicht durchweg erfolgreich, im
Rahmen des Möglichen Verständlichkeit zu gewährleisten. Dass durch Fußnoten ein
veritabler Subtext mit zahlreichen Randbemerkungen, Quellennachweisen und
allerlei Seitenblicken kreiert wird, ist in diesem Sinne durchaus zu begrüßen:
So wird der Haupttext entlastet, die Lesbarkeit profitiert.)
Marion Hiller verzichtet darauf, ihre Erkenntnisse zu bündeln und
zuzuspitzen. (Eben darum fällt es schwer, exakt zu benennen, worum es nun geht,
im ‚Großen und Ganzen’.) Ein eigentliches Resümee, das die Ergebnisse der
Untersuchung zusammenfasst, wird schmerzlich vermisst. So ist der Leser
gezwungen, sich selbst einen Reim auf Darstellung und Dargestelltes bei Hölderlin
zu machen: Hölderlins dichterischer und dichtungstheoretischer Lebensweg
scheint von ‚Einheit’ zu ‚Differenz’ zu führen, oder, in grober Verkürzung, von
Hegel zu Heidegger/Derrida. Dieses Resümee ist nicht eigentlich sensationell
und stellt Marion Hillers Buch unter Wert dar. Das ist schade, denn in Zeiten,
da ein Namedropping ‚literaturtheoretischer’ Schibboleths oftmals die Arbeit
am Text in den Hintergrund drängt, ist Hillers hartnäckiger Blick auf den
Wortlaut der Dichtung, ihre Demut vor dem Text, umso höher einzuschätzen. Dass
zwei Gedichte (samt Exegesen) am Ende stehen: „Wie wenn am Feiertage...“ und
„Hälfte des Lebens“, dass gleichsam Hölderlin das letzte Wort behält, gereicht
der Autorin zur Ehre.
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