Erschienen in Ausgabe: No. 34 (4/2008) | Letzte Änderung: 18.01.09 |
Edmund Nierlich: Literarische Gemeinschaftshandlungen. Konstruktion einer empirisch-literaturwissenschaftlichen Erklärungstheorie. Frankfurt (Peter Lang): 2008. 183 S. Kart. EUR (D) 36.90. ISBN – 978-3-631-56419-6.
von Daniel Krause
Hinführung
Hinter
dem spröden Titel und einem ebenso asketischen Layout verbirgt sich
ein durchaus brisanter Beitrag zur Selbstbesinnung der
Literaturwissenschaft. Er betrifft deren Gegenstand und Methode, vor
allem aber ihre gesellschaftliche Legitimität. Nierlichs Vorschläge
sind radikal. Sie nehmen die Überwindung im weitesten Sinne
„hermeneutischer“ wie „phänomenologischer“
Betrachtungsweisen von Literatur ins Visier. Textzentrierte Methoden
sollen desavouiert werden, darüber hinaus auch solche
rezeptionsästhetischen Zugangsweisen, die auf den individuellen
Leser abheben; nicht umsonst ist von „literarischen
Gemeinschaftshandlungen“ die Rede.
Edmund
Nierlich führt verschiedene Wissensgebiete zusammen: Soziologie,
Pädagogik, Literaturgeschichte, Wissenschaftstheorie und Logik.
Weiters ist ein entschieden politischer Einschlag festzustellen, mit
starkem Akzent auf 'linkem', emanzipatorischem Gedankengut. Nierlich
bezieht rigoros Stellung gegen den seines Erachtens wesentlich
autoritären Gestus real existierender Literaturwissenschaft und
-didaktik. Als methodisches Fundament seiner Erwägungen dient neben
umfänglichen wissenschaftstheoretischen Ressourcen zwischen
Stegmüller und Thomas Kuhn, Tarski, Marx und Kant der amerikanische
Pragmatismus: Wie Henry James zu Nierlichs bevorzugten
Forschungsgegenständen zählt, gibt William James einen ideellen
Orientierungspunkt ab. So heißt es, durchaus im Sinne des
amerikanischen Pragmatismus, von Wissenschaft: „Ein angenähertes
Bild einer empirischen Realität erstellt sie [...] nicht, sie
verändert aber unsere Wirklichkeit.“ (S. 9)
Die
ausgeprägte Präferenz fürs Angelsächsische (samt vielfältiger
Digressionen in die Geistesgeschichte der anglophonen Länder)
verleiht der Untersuchung einen gewissermaßen idiosynkratischen Zug.
Diese Feststellung ist aber zweifach zu relativieren: Zum einen führt
kein Weg an der Einsicht vorbei, dass Wissenschaftstheorie seit der
Emigration des Wiener Kreises 1938 in erster Linie in englischer
Sprache und an amerikanischen wie englischen Universitäten
stattfindet. (Ganz ähnlich, wie im Umkreis poststrukturalistischer
Philosophie französische Sprache und Mentalität dominieren.)
Zweitens ist Nierlich durchaus gewillt, wo es geboten scheint,
kontinentale Autoren einzubeziehen. Dies betrifft selbstredend Ludwig
Wittgenstein, gleichsam das Bindeglied zwischen kontinentaler und
angelsächsischer Wissenschaftskultur, darüber hinaus aber u. a.
Roman Ingardens Arbeiten zur Ontologie des Kunstwerks. Sie haben
nachhaltig auf die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik
eingewirkt, im angelsächsischen Raum allerdings werden sie
weitgehend ignoriert.
Die
Gliederung der Literarischen Gemeinschaftshandlungen ist auf
Übersicht und Deutlichkeit abgestellt. Dies betrifft selbst Details,
so die Entscheidung, die einzelnen Kapitel zu nummerieren, wie es aus
akademischen Seminararbeiten und Qualifikationsschriften, nicht aber
vom Gros literaturwissenschaftlicher Publikationen, vertraut ist. Das
ist gewiss nicht schick, aber nützlich und Ausweis einer sachlichen,
uneitlen Haltung. Besonders zu würdigen ist Nierlichs Bemühen,
zentrale Begriffe seines Vokabulars zu definitorischer Klarheit zu
führen und über jede Etappe der Argumentation sorgfältig
Rechenschaft zu geben. Der Lesefluss gerät dadurch immer wieder ins
Stocken, solcherlei Unterbrechungen sind aber nützlich: zur
Selbstvergewisserung des Autors wie Lesers. Schließlich sei
festgehalten, dass Nierlich sich trotz seines weitreichenden
Anspruchs nicht zur Polemik hinreißen lässt. Hier wird grundsolide
wie detailgenau argumentiert – und in bemerkenswerter Dichte, denn
160 Seiten sind nicht viel für ein derart ambitioniertes
Unternehmen. Nicht auf große Worte hat es der Autor abgesehen,
sondern auf die Feinmechanik des Arguments. Gewisse Sprödigkeiten
des sprachlichen wie visuellen Erscheinungsbilds sind so gesehen
durchaus am Platze.
Zur Sache
Das
Vorwort exponiert Nierlichs zentrale Fragestellung: Weil Texte keine
empirischen Gegenstände sind – „es sei denn, man nähme
unsinnigerweise bedruckte oder beschriebene Blätter für diese“
(S. 7) –, können Texte nicht Gegenstand empirischer Wissenschaft
sein. Wenn sich Literaturwissenschaft als Erfahrungswissenschaft
begreift, muss ihr ein anderer Gegenstandsbereich geschaffen werden.
Aber: „Alle bisherigen Antworten auf diese Frage [...] sind
zumindest mehrdeutig oder vage.“ (Ebd.) So wird die Konstruktion
des Gegenstands einer empirischer Wissenschaft im Allgemeinen und
einer empirischen Literaturwissenschaft im Besonderen zur leitenden
Fragestellung.
In
diesem Zusammenhang wirft Nierlich die Frage auf, wie sich empirische
Wissenschaft auf ihren Gegenstand zu beziehen habe. Eine marktgängige
Antwort lautet: Sie habe Eigenschaften des Gegenstands zu 'erklären'.
Was unter 'Erklärungen' zu verstehen sei, ist aber umstritten. Zu
Recht weist der Autor auf eine Feststellung Joseph D. Sneeds hin, die
noch nach vierzig Jahren gültig scheint: „[...] necessary
conditions for something being an explanation are not hard to come
by, but sufficient conditions elude us“ (S. 10).
Nierlich
schlägt nun vor, Wissenschaft konsequent pragmatisch zu deuten, als
„gesellschaftliche Teilpraxis“. Damit verschiebt sich ihr
Zuständigkeitsbereich: Wissenschaft soll nicht „Objekte
empirischer Wahrnehmung“, sondern „problematische Gegebenheiten
der Praxis“ erklären – diese bilden ihren Gegenstand –, und
zwar „zum Zwecke der Verbesserung einer praktischen Fähigkeit“
(S. 13). Diese Deutung weist einen wesentlichen theoriestrategischen
Vorzug auf: Nicht, dass sie die Frage, was 'Erklären' sei,
abschließend beantworten könnte. Nierlichs Vorgehen ist subtiler
und radikaler zugleich: Es besteht platterdings keine Notwendigkeit,
diese Frage zu klären. Die Idee, es müsse möglich sein,
ein für alle Mal anzugeben, was 'Erklären' sei, scheint Nierlich,
gut pragmatisch, diskreditiert: Die Vielfalt gesellschaftlicher
Zwecksetzungen, denen wissenschafliche Praxis sich ein- und
unterzuordnen habe, lässt es müßig erscheinen, einen allgemeinen,
gehaltvollen Begriff des Erklärens eruieren zu wollen; stattdessen
seien in je unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche,
durchaus provisorische Definitionen zu bilden. Kurzum: Das Problem
des Erklärens wird, eleganterweise, nicht gelöst, sondern
'aufgelöst'.
Mag
es vielerlei 'Erklärungen' geben – von Beliebigkeit kann keine
Rede sein. Begriffliche Setzungen empirischer Wissenschaft sind am
Kriterium gesellschaftlichen Nutzens zu messen. Die Konstruktion der
Literaturwissenschaft geschieht in einem 'politischen' Horizont:
nicht durch politische Institutionen, wohl aber durch Wissenschaftler
in ihrer Eigenschaft als 'citoyens':
„Bewertungskompetenz
aller als Leser in ihrer Freizeit am literarischen Leben
Teilnehmenden sollte im Unterricht
allgemein bildender Schulen gelehrt werden unter dem Globalziel einer
emanzipatorischen Heranbildung möglichst selbstbestimmter und ihre
demokratischen Möglichkeiten optimal nutzender Individuen. Und zur
Verbesserung dieser Fähigkeiten sollte eine empirische
Literaturwissenschaft Gesetzeswissen bereitstellen, das praktische
Probleme lösen hilft“ (ebd.). Mit diesem kompromisslosen Plädoyer
für eine politisch in Dienst genommene Literaturwissenschaft ist nun
ein Hauptangriffspunkt der Kritik beschrieben. Nicht viele Leser
werden geneigt sein, die Autonomie der Kunstsphäre daranzugeben, am
wenigstens solche, deren Sozialisation nicht in die sechziger und
siebziger Jahre fällt. Und jene, die sich mit Nierlichs heteronomer
Bestimmung der Kunst im Grundsatz einverstanden erklären, werden
deren politische Tendenz vor dem Hintergrund eines emphatischen
Begriffs von 'Bildung' nicht sämtlich gutheißen wollen.
Auch
Nierlichs Begriff der Praxis wird Widerspruch aufrufen. Dieser wird
nicht im ursprünglichen griechischen Sinne gedeutet, als Tätigkeit,
die in sich selbst ihr Genügen findet, sondern, kaum überraschend,
politisch. Die Institution Literaturwissenschaft rechtfertigt sich
als Mittel zu emanzipatorischen Zwecken: „Mein
wissenschaftstheoretisches Konzept mag Literaturwissenschaftlern mit
anderen Positionen etwa der Hermeneutik oder der Phänomenologie
befremdlich erscheinen. [...] Der Weg einer methodischen
Neuorientierung soll letztlich im Dienste einer emanzipatorischen
Heranbildung möglichst selbstbestimmter Leserinnen und Leser von
Literatur in einer demokratisch verfassten Gesellschaft beschritten
werden.[...] Keinesfalls aber darf sich eine empirische
Literaturforschung in den Dienst politischer oder wirtschaftlicher
Medienmanipulation stellen
lassen“ (S. 7f). Dies ist eine vergleichsweise bodenständige,
konkrete Literatur-Politik – gemessen an Cultural Studies, Gender
Studies oder dem diffusen 'Macht'-Begriff der
Foucault-Agamben-Schule. Was „Emanzipation“ aber im Einzelnen
bedeutet, was „Demokratie“, welcherlei politische oder
ökonomische Einflussnahme auf Forschung als „manipulativ“ zu
gelten hat, muss im gegebenen Rahmen offen bleiben. So bleiben
politische Stellungnahmen wie diese gleichsam unausgewiesen: „Nicht
ohne Grund war die neuere Literaturwissenschaft bis in die sechziger
Jahre des 20. Jahrhunderts hinein also vorwiegend eine
'Interpretationswissenschaft' und eine konservative dazu, welche
mittels Interpretationsautoritäten an den Hochschulen (und in
nachahmender Form an den Schulen) der Konservierung tradierter
Wertvorstellungen im Interesse einer konservativen gesellschaftlichen
Führungsschicht betrieb“ (S.
113f). Wenn man Nierlich folgt, hat die
Studentenbewegung den Literaturunterricht aus den Zwängen
reaktionärer Indienstnahme befreit. So gesehen ist Literarische
Gemeinschaftshandlungen eine selbstbewusste, erfrischend
'altmodische' Stellungnahme zur aufgeregt geführten Debatte um 1968
und die Folgen. (Wohltuend differenziert fallen des Autors
Einlassungen zum Problem des literarischen Kanons aus: Auch ein
'linker', emanzipatorisch ambitionierter Literaturunterricht kommt
nicht umhin, eine Auswahl unter Primärtexten zu treffen, wenngleich
unter anderen Kriterien als der „konservative“
Unterrichtsbetrieb. Solche normierenden Eingriffe können aber nicht
der Wissenschaft anheimgestellt werden.)
Um
schließlich ein nahe liegendes
Missverständnis auszuräumen: Edmund Nierlichs Plädoyer für
exoterische, demokratisch sich ausweisende Zugänge zur Literatur
schließt keine Präferenz für triviale, naiv inhaltsbezogene
Lesarten ein. Im Gegenteil: „[...] so besteht zwar ein
verlegerisches Interesse, möglichst spannende oder anrührende
Erzählungen zu vermitteln [...], aber den Zielen der [...]
literarischen Gemeinschaftshandlung insgesamt zuwiderlaufen kann. An
dieser Stelle ist die literarische Kooperation zwischen Lesern und
Autor durch Kitsch oder Kolportage sogar gefährdet“ (S. 158).
Nierlich schränkt allerdings ein, dass „mit sprachlicher Manier
eine Grenze der literarischen Kooperation überschritten“ werden
kann (ebd.). Radikale Avantgarde läuft Gefahr, der Hermetik zu
verfallen.
Fazit
Wer
Edmund Nierlichs pragmatische wie politische Voreinstellungen teilt,
wird von der sorgfältigen begrifflichen Analyse der Literarischen
Gemeinschaftshandlungen profitieren. Ob es gelingt, jene Leser
ins Einverständnis zu ziehen, die solcherlei Affinitäten entbehren,
ist allerdings fraglich. Die Schwierigkeit dieses Projekts liegt
nicht so sehr darin, dass Nierlichs Erwägungen im Einzelnen
anfechtbar wären – in der Form des Arguments ist diesem Autor
wahrlich nicht am Zeug zu flicken –, sondern in den Prämissen, die
wenig konsensträchtig scheinen. Nierlichs Zugriff auf Literatur ist
recht besehen nicht einmal anti-hermeneutisch oder
anti-phänomenologisch. Er steht quer zu diesen Zugangsweisen: Die
'Grenzen der Verständigung' sind erreicht. Zumal die karge
rhetorische Form und mangelnde Fürsorge für solche Leser, die nicht
so sehr überzeugt, sondern überredet werden wollen, könnte zur
Folge haben, dass diesem wertvollen Beitrag zur Aufklärung über
Literatur und deren Wissenschaft und Didaktik die gebührende
Anerkennung versagt bleibt.
Freilich:
'Wissenschaft', die nicht den Widerstand sucht, wäre nicht würdig,
sich so zu bezeichnen. Edmund Nierlich kann wenig mehr tun, als den
Leser einzuladen, seinen „Ansatz zur Bereicherung und
Weiterentwicklung des Fachdiskurses in konstruktivem Austausch zu
diskutieren“ (S. 7).
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