Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 21.08.09 |
Martin Geck, Wenn der Buckelwal in die Oper geht. 33 Variationen über die Wunder klassischer Musik, Siedler Verlag, München (Februar 2009), 224 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3886808963, ISBN-13: 978-3886808960, Preis: 19,95 EURO
von Heike Geilen
Auch unmusikalische Menschen verstehen etwas von Musik. Das
zeigen neuste wissenschaftliche Studien. Das menschliche Gehirn mag und braucht
diese "organisierte Form von Schallereignissen", von Geburt an, wenn
nicht schon früher. Musikalität scheint angeboren zu sein. Musik ist ein
menschliches Bedürfnis. Und jene, die ihre besonders ausgeprägte Musikalität
auch noch auszudrücken verstehen und sie mittels Noten auf Papier festhalten, haben
unsere ganze Bewunderung.
Martin Gecks Wertschätzung, ja seine Leidenschaft, gilt der
klassischen Musik. Der Professor für Musikwissenschaften widmet sich ihr auf
ganz eigene Art - mit Worten. Und er stimmt damit in den Dreiklang vieler
Künstler und Gelehrter ein, die "Sinn
und Zweck ihrer Kompositionen, Bilder, Bücher und Reden in schönem Latein"
beschrieben: "Docere, movere,
delectare - lehren, bewegen, erfreuen."
In seinen "33 Variationen über die Wunder klassischer
Musik" - wie es der Untertitel verkündet - lädt er den Leser zu einer
Rundfahrt zu "originellen Stätten
klassischer Musik" ein. Dabei hat er für stete Abwechslung gesorgt: "Werke, Schaffensmomente, Probleme und
ihre Lösungen, historische Kontexte, Widersprüche, Ausblicke.", so wirbt
Geck in seinem Vorwort oder "Thema" wie er es tituliert. Für ihn
selbst "sind es allesamt Wunder an
Inspiration, Sinndichte, Nachdenklichkeit, Zerbrechlichkeit, Wirkungsmacht und
Widersprüchlichkeit". Die Auswahl der Themen spiegelt seine jahrelange
Beschäftigung mit Musik wider, sei es nun beim Schreiben und Lehren oder noch
mehr beim Hören und Musizieren.
"Die Welt
taumelt, Musik fängt sie auf."
Bunt gemischt hat er seine Variationen, die sich allesamt über
drei bis fünf Seiten erstrecken und mit vielen kleinen lustigen Illustrationen
versehen sind. Man muss das Buch keineswegs stringent von vorn nach hinten
durchlesen, sondern es empfiehlt sich geradezu mal das eine, dann wieder ein anderes
Thema zu verinnerlichen. Denn diese folgen keinem steten Ablauf, sondern sind
bunt gemischt und nahezu wahllos aneinandergereiht.
Geck betrachtet Anfänge und (Leit-)Motive in klassischen
Stücken, untersucht Formenanalyse und -lehre, kehrt die revolutionäre Macht der
Harmonik heraus oder huldigt der Musik als Körpersprache. Geradezu essayistischen
Charakter nehmen seine Betrachtungen von Gewalt und Humor in der Musik, der
Einzug des Boudoirs und Bordells in der Oper oder von Tonbuchstabenspielen
einiger Komponisten an. Der Autor spricht der Reprise ein Lob aus, erörtert die
Notwendigkeit einer Generalpause, um letztendlich über das Inszenieren unterschiedlichster
Abschiede zu plaudern. Dabei bedient er sich mehr oder weniger bekannter
Musikstücke und natürlich ihrer Schöpfer - der Komponisten. Bach, Haydn, Mozart,
Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Brahms, Debussy, Wagner bis hin zu Arnold
Schönberg schlendern durch die Zeilen.
Bleibt noch die Frage zu klären, wie es zu dem Titel des
Buches kam. Denn Buckelwale können weder gehen (auch wenn ihnen dies in rauen
Urzeiten zu Eigen war), noch spazieren sie in die Oper. Gelegentlich sind sie
dort zwar anzutreffen, so gesehen bei einer modernen Inszenierung Puccinis
"Madama Butterfly" in der Semperoper Dresden, aber dann mit feinstem
Bambus überzogen und als höchst sonderbares Ambiente und wunderliche Dekoration
des Papierpalastes von Cio-Cio-San.
Martin Geck geht es mit diesem auffälligen Bild um etwas
ganz anderes: um das Spannungsverhältnis zwischen Natur und Kunst, zwischen
Vertrautem und Anderem, ja Undenkbarem. Buckelwale verkörpern mit ihrem Gesang
die Natur. Und wir Menschen "sind
Buckelwale, die sich in die Oper verirren; denn auch wir selbst tragen die
Natur der Musik in uns, können singen, wie uns der Schnabel gewachsen ist,
stundenlang ein und dieselbe Melodie vor uns hin pfeifen. Es gibt den
Buckelwal-Gesang unter der Dusche und die vielstimmigen Buckelwal-Strophen auf
dem Fußballplatz – gleichfalls kilometerweit zu hören. Doch gottlob sind viele
von uns nicht nur Buckelwale, sondern auch Delfine – und damit geborene
Liebhaber 'klassischer' Musik.", erklärt Geck und spielt damit auf
eine Geschichte Herodots aus dem klassischen Griechenland an.
Diese Spannung jedenfalls, die sich unweigerlich einstellt,
wenn wir Musik machen oder hören, versucht dieses Buch zu analysieren und zu
erklären. Denn diese hat - da ist sich Martin Geck sicher - "etwas mit unserem Woher und Wohin zu
tun [...] Indem wir im Augenblick leben, wissen wir DASS wir sind. WER wir
sind, erfahren wir über unsere Vergangenheit und unsere Zukunft - und dabei
hilft Musik auf unverzichtbare Weise. Sie verschafft uns Zugang zu Dingen, die
wir zwar in uns tragen, aber immer wieder vergessen." Musik ist nicht
widerspruchsfrei, doch sie reicht "dem
Menschen die Hand zur Versöhnung - zur Versöhnung mit sich selbst. Die Welt
taumelt, Musik fängt sie auf."
Fazit:
Alles in Allem eine sehr unterhaltsame und kluge,
ungewöhnliche und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema klassische Musik.
Martin Gecks Buch fungiert durchaus als kleiner Cicerone ("Fremdenführer")
für den interessierten Konzert- und Opernbesucher. Ihm gelingt es, dem Leser
anhand vieler Beispiele "aus dem
klassischen Repertoire unversehens eine kleine Musikästhetik
unterzuschieben."
Nur überfordert er den Musiklaien, den reinen Hobbyhörer ein
wenig. Denn wer ist schon so stilsicher bzw. hat eine derart umfangreiche
CD-Sammlung zu Hause, dass er den vielen Fachbegriffen, Fall- und Notenbeispielen
folgen kann.
Eines bewirkt das Buch aber auf jeden Fall, es setzt
Verstehungsprozesse in Gang bzw. erweitert den Horizont.
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