Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 31.08.09 |
von Angela Merkel
Ich glaube, dieses Jahr 2009 bietet uns ausreichend Gelegenheiten
zum Innehalten, um sich der eigenen Grundanschauungen zu versichern. Es
ist ein Jahr voller Jubiläen, ein Jahr, in dem wir daran denken, dass
vor 90Jahren die erste deutsche Republik aus der Taufe gehoben wurde.
Wir blicken zurück auf 60Jahre Bundesrepublik Deutschland– nach der
Katastrophe des Nationalsozialismus ein Aufbauwerk, das in einer
wunderbaren Art und Weise gelungen ist und, wie ich nach 60Jahren am
23.Mai gedacht habe, mit einem Grundgesetz, das vieles aufgenommen
hat, was wir an Lehren aus der Geschichte zu ziehen hatten. Wir werden
außerdem am 9.November dieses Jahres an den Fall der Mauer vor
20Jahren denken. Das ruft uns noch einmal etwas in Erinnerung, was für
mich immer wieder fast ein bisschen besonders und verwunderlich ist,
nämlich dass nun schon fast ein Drittel der Zeit, in der es die
Bundesrepublik Deutschland gibt, Ost und West miteinander auskommen
müssen und auch auskommen, wie ich finde.
Wir sehen aber auch, dass die Situation in diesem Jahr dadurch
geprägt ist, dass diese Bundesrepublik Deutschland zusammen mit der
Welt vor einer ziemlich einzigartigen Herausforderung steht, nämlich
vor der Bewältigung einer internationalen Finanzmarkt- und
Wirtschaftskrise. Deutschland als mehrmaliger Exportweltmeister, als
eine in der Welt zutiefst vernetzte Volkswirtschaft, hat natürlich
besonders drastisch unter den Auswirkungen dieser Krise zu leiden.
Deshalb sehen wir die Herausforderungen, vor denen wir stehen, in
diesem Jahr in einer ganz besonderen Weise. Wir sehen, dass unsere
Gesellschaft von tief greifenden Veränderungen erfasst ist: Immer
weniger Erwerbstätige, mehr Rentner, eine massive Veränderung des
Altersaufbaus, die sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten
fortsetzen wird. Fast ein Fünftel der Einwohner unseres Landes hat, wie
wir es heute nennen, einen Migrationshintergrund. Deutschland ist
kulturell vielfältiger geworden.
Daraus ergibt sich natürlich eine Vielzahl von Fragen: über die
Zukunft der Arbeit, über die Nachhaltigkeit unserer sozialen
Sicherungssysteme, über die Zukunft der Familien, über unser
Bildungssystem– wie werden wir zu einer Bildungsrepublik?–, über die
Endlichkeit der Ressourcen und darüber, wie wir mit dem Anspruch
anderer Länder auf der Welt umgehen, die für sich natürlich ein
gleiches Maß an Wohlstand beanspruchen wie wir. Diese Frageliste ließe
sich beliebig erweitern. Ich will das hier nicht tun, sondern ich will
nur sagen: Ohne Grundsätze, Werte und Leitbilder, die Halt und
Orientierung geben, werden wir diese Fragen nicht beantworten können,
keine Lösungen finden und auch unsere Interessen nicht vertreten
können. Wer im Meer der verschiedensten Interessen nicht
orientierungslos hin- und hergetrieben werden will, der braucht einen
verlässlichen inneren Kompass.
Die Frage heißt nun für jeden: Worauf soll dieser Kompass
ausgerichtet sein? Ich möchte an dieser Stelle Bezug nehmen auf die
Enzyklika des Papstes, die kürzlich veröffentlicht wurde– "Caritas in
Veritate"–, in der betont wird, dass– ich zitiere– "das erste zu
schützende und zu nutzende Kapital der Mensch ist, die Person in ihrer
Ganzheit". Dieses Zitat aus der Enzyklika scheint mir insbesondere aus
dem Blickwinkel des christlichen Menschenbildes wunderbar zu sein. Das
heißt also, aus der zentralen Rolle des Menschen, die in dieser
Enzyklika immer wieder betont wird, ergibt sich der Schlüssel für alle
Herausforderungen, auch für eine verantwortliche Politik. Das hört sich
relativ trivial an. Und doch erfahren wir, dass in vielfältigen
Erscheinungen unserer Zeit eigennütziges Streben nach Geld, Einfluss
oder Ansehen immer wieder zum Schaden anderer gereicht. Ich glaube, die
internationale Finanz- und Wirtschaftskrise ist geradezu ein Beispiel
für eine tiefe Maßlosigkeit, für Gier, für Exzesse, für eine völlig aus
der Kontrolle geratene Durchsetzung von Eigeninteressen.
Wenn nun der Mensch der zentrale Orientierungspunkt jedes
politischen Handelns ist, dann stellt sich natürlich die Frage: Was ist
unser Bild vom Menschen? Ist es ein Bild, das vom Zutrauen oder vom
Misstrauen gegenüber den Menschen geprägt ist? Für mich ist es wichtig,
dass ich versuche, mich vom christlichen Menschenbild leiten zu lassen;
das heißt, von einem Menschenbild, demnach dem Menschen als Ebenbild
Gottes die Freiheit zusteht, sich nach eigenen Fähigkeiten und
Neigungen zu entfalten. Aber– jetzt kommen wir zu dem spannenden
Punkt– es ist eine Freiheit, die keineswegs grenzenlos ist. Es ist
keine rücksichtslose Freiheit, denn der Mensch ist kein isoliertes
Individuum, sondern er ist im christlichen Menschenbild nur in der
Eingebundenheit in die Gemeinschaft denkbar– eine Gemeinschaft von
Individuen natürlich, mit jeweils eigenen Interessen, mit eigenen
Fähigkeiten, mit eigenen Schwächen. Daraus resultiert ein
Spannungsfeld. Doch Eigenwert und Eigenständigkeit des Menschen werden
nicht angetastet– die Würde jedes Menschen ist unantastbar. Aber es
ist eben keine Freiheit von allem, es ist keine Beliebigkeit, sondern
es ist eine Freiheit zu etwas, eine Freiheit zur Teilhabe, zur
Zuwendung zu anderen Menschen.
Aus diesem Menschenbild erwächst in der konkreten Politik eine
Vielzahl von Antworten, die jeweils in der politischen Diskussion
durchaus ein massives Spannungsfeld in sich bergen. Ich begrüße an
dieser Stelle auch die Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die ich
jetzt entdeckt habe und die wissen, wie mühselig wir oft um Antworten
ringen. Ich will hier nur etwas ansprechen, was mit der Individualität
des Menschen zu tun hat und was uns immer wieder als Aufgabe gestellt
ist– vom Beginn des Lebens bis hin zum Ende des Lebens. Eine Vielzahl
von Möglichkeiten steht den Menschen heute zur Verfügung, wenn wir nur
an die Forschungsmöglichkeiten, an die Eingriffsmöglichkeiten denken.
Natürlich ist unsere Art der Gesetzgebung– vom Embryonenschutzgesetz
über die Fragen des §218, über das Ringen um eine Regelung für
Spätabtreibungen, über jedes Verbot der aktiven Sterbehilfe hin zum
Ringen um die Ausgestaltung einer Patientenverfügung– immer auch
Spiegelbild unseres Ringens um die Frage: Was bedeutet "Die Würde des
Menschen ist unantastbar"?
Ich könnte über jedes dieser Gesetzgebungsverfahren eine lange
Ausführung machen. Das möchte ich jetzt nicht. Ich darf Ihnen aber
sagen: Wenn wir das "C" in den Namen von CDU und CSU nicht tragen
würden, würden alle diese Gesetze anders aussehen. Ich kann in jedem
dieser Gesetze eine Mitgestaltung der Union erkennen. Ich weiß, dass
wir nicht immer einer Meinung waren. Ich weiß, dass es auch viel Hader
mit denen gibt, die wissen, wie das "C" zu interpretieren ist. Aber
wenn Sie sich einmal in Europa umschauen und wenn Sie sich einmal
anschauen, welche Vielfalt von Regelungen wir heute in vielen
europäischen Ländern haben, die immerhin ein ähnliches Werteverständnis
haben, dann darf ich Ihnen sagen: Ich bin stolz darauf, dass Parteien
mit einem "C" im Namen an der Gestaltung dieser Gesetze mitwirken und
das tiefe Ringen um den Schutz der Würde des Menschen auch in diesen
Dingen ausdrücken.
Wir haben dabei schon Niederlagen erlitten; jüngst erst wieder
bei der Patientenverfügung. Es gab zwei Entwürfe, die sehr klar den
Ausdruck unseres Menschenbilds in sich getragen haben. Wir haben dafür
keine Mehrheit gefunden. Wir haben aber in zähem Werben zum Beispiel
eine Mehrheit für eine Regelung der Spätabtreibungen gefunden, mit der
wir ausdrücken wollen: Auch behindertes Leben ist lebenswertes Leben;
es darf nicht per se in Frage gestellt werden. Wir müssen Eltern
ermutigen, auch mit behinderten Kindern zu leben. Ich glaube, dies ist
ein wichtiger Beitrag.
Das dahinterstehende Menschenbild ist auch unvereinbar mit einem
staatlichen Streben, Menschen zu bevormunden, zu entmündigen und sie
entgegen ihrer natürlichen Unterschiedlichkeit sozusagen
gleichzumachen. Das war ein Ansatz, den wir in den kommunistischen
Diktaturen immer wieder gespürt haben: die staatliche Idee, Menschen
sozusagen nach einem Bilde zu formen, das von einer Gruppe der Gesellschaft vorgegeben war. Dies verbietet sich im christlichen Menschenbild.
Verantwortete Freiheit drückt sich natürlich auch in Toleranz
aus, aber wiederum nicht in einer beliebigen Toleranz, sondern in einer
Toleranz, die die Fähigkeit beinhaltet, sich auf den Anderen
einzulassen, ihn in seinem Anderssein zu akzeptieren und es als
Bereicherung zu empfinden, nicht als Last. Das ist eine der großen
Tugenden, die der Begriff Toleranz in sich birgt.
Natürlich wird jeder, der sich als Politiker auf das christliche
Menschenbild beruft, in Kauf nehmen müssen, dass an ihn besondere
Maßstäbe gelegt werden. Das heißt also, Politik aus christlichem
Glauben heraus muss sich beschränken. Das empfinde ich in meiner
politischen Arbeit als etwas sehr Begütigendes. Wir sind Geschöpfe
Gottes und wir sind sozusagen dazu verpflichtet, nicht in staatliche
Allmachtsansprüche zu verfallen, sondern unser Werk zu tun– aber auch
in dem klaren Wissen darum, dass wir unvollkommen sind und dass wir an
dieser Unvollkommenheit nicht zerbrechen müssen, weil die Liebe Gottes
gegenwärtig ist und jeden, der in dieser Welt agiert– auch die
Politiker; so verstehe ich es jedenfalls–, umfängt.
Aber dieses Wissen, dass wir Sünden begehen und dass wir
unvollkommen sind, darf natürlich nicht dazu führen, dass wir
lethargisch werden und sagen: Wir tun mal gerade das, was wir für
richtig halten. Wir sind aus der Schöpfungsgeschichte heraus vielmehr
mit dem Anspruch in die Welt gestellt, diese Welt so zu gestalten, dass
wir mit ihr verantwortungsvoll umgehen. Das heißt, Politik können wir
nur machen, indem wir aus dem christlichen Menschenbild heraus– ich
kann zu gleichen Schlüssen im Übrigen auch aus anderen Überzeugungen
heraus kommen– um die Natur des Menschen wissen, Fehler zu begehen.
Dabei müssen wir aber auch immer wissen, dass Politik Gesellschaften
gestaltet und dass wir einen Gestaltungsauftrag haben, der immer
Freiheit in Verantwortung in sich trägt.
Unsere Unvollkommenheit gebietet es nach meiner Überzeugung auch,
dass wir ein Stück weit demütig werden. Diese Demut bewahrt uns davor,
Freiheitsräume anderer zu beschneiden, sie bewahrt uns davor, zu
definieren, wann nach unserer Meinung Leben lebenswert ist und Leben
nicht lebenswert ist, und sie bewahrt uns davor, uns im Sinne Orwells
gleicher als andere zu wähnen oder zu fühlen.
Deshalb ist es natürlich wichtig, dass wir akzeptieren, dass sich
gerade auch Kirchen immer wieder als kritisches Korrektiv unserer
Politik einmischen. Das macht unser Leben manchmal nicht einfacher,
denn eigentlich finden wir uns schon ganz gut– zumindest besser als
die anderen–, bekommen aber trotzdem oft mehr Kritik als diejenigen,
die die Kirchen vielleicht schon ein wenig "abgeschrieben"– in
Anführungsstrichen– haben. Das dürfen sie natürlich auch nicht, denn
jeder Mensch muss ja auf den Pfad der Tugend geführt werden.
Aus dem christlichen Menschenbild lassen sich mit Sicherheit
nicht per se konkrete Handlungsanweisungen ableiten, aber wir sind dazu
verpflichtet, uns immer wieder unseres Leitbildes zu vergewissern und
unsere Politik in dem von mir beschriebenen Umfeld zu gestalten. Die
Präambel unseres Grundgesetzes bringt es prägnant auf den Punkt: "Im
Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen". In diesen
Tagen– vor allem um den 23.Mai herum– habe ich sowieso sehr häufig
daran gedacht, was für eine Weisheit und was für eine tiefe Demut die
Väter und Mütter des Grundgesetzes geleitet haben, als sie es
geschrieben haben. Wenn wir heute ein neues Grundgesetz zu schreiben
hätten, weiß ich nicht, ob wir noch eine Mehrheit dafür bekämen, zu
sagen: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen."
Verantwortete Freiheit leben– was bedeutet das? Was bedeutet das
zum Beispiel für die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Zeiten
zunehmender Globalisierung? Die Weltwirtschaft erfährt– Sie wissen
das– im Augenblick den tiefsten Abschwung seit Ende des Zweiten
Weltkriegs. Es gibt viele Menschen, die Sorgen um ihren Arbeitsplatz
und um ihre Zukunft haben. Für die Entwicklungsländer wird es umso
schlimmer, je mehr sich die Kapitalgeber aus ihnen zurückziehen. Uns
trifft die Krise schon massiv, aber wenn wir nach Afrika schauen, wenn
wir in asiatische Schwellenländer schauen, so sehen wir, in welche
existenziellen Nöte die Völker dort gestürzt werden.
Es darf also auf gar keinen Fall sein, dass wir verantwortete
Politik nur noch für uns selbst machen, weil es uns schlechter als
vielleicht noch vor einem Jahr geht, und dass wir deshalb den Blick für
andere auf der Welt verlieren. Wir leben in einer globalen Krise. Es
gehört vielleicht zu den politisch schwierigsten Aufgaben, gerade auch
in dieser Zeit unsere Verantwortung für die ganze Welt immer wieder zu
betonen. Ich könnte jetzt von meinem Kampf darum erzählen– der zum
Schluss erfolgreich endete, also mit einer parlamentarischen Mehrheit
und mit der Unterstützung meiner Kollegen–, von den 80Milliarden Euro
des Konjunkturprogramms 100Millionen Euro zusätzlich für die Weltbank
zur Verfügung zu stellen. Das war nicht einfach. Allerdings darf ich
auch mit Stolz sagen, dass wir eines der wenigen europäischen Länder
sind, die ihre Entwicklungshilfe im Augenblick nicht kürzen, sondern
sogar noch erhöhen.
Wir müssen das Wort "Krise", das jetzt ja sehr viel gebraucht
wird, beim wahren Wort nehmen und uns noch einmal an seinen
altgriechischen Stamm erinnern: "krisis" bedeutet soviel wie
Entscheidung oder entscheidende Wendung. Damit haben wir sozusagen auch
begrifflich einen Schlüssel in der Hand, aus dieser schwierigen
Situation etwas zu machen. Wir müssen– mit einer eigenen Gewissheit,
wohin wir denn wollen– eine entscheidende Wendung herbeiführen.
Deshalb glaube ich, dass wir gerade jetzt guten Grund haben, uns über
die Zukunft unseres Gemeinwohls sehr viele Gedanken zu machen.
Ich habe mit Freude gesehen, dass der bayerische
Ministerpräsident Horst Seehofer eine Kommission ins Leben gerufen hat,
die sich mit der Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft beschäftigt. In
dieser Kommission hat auch Erzbischof Marx einen Beitrag beigesteuert,
den ich mit Interesse zur Kenntnis genommen habe. Ich glaube, dass
dieser Beitrag wie viele andere Beiträge in diesem Kompendium und auch
meine Überlegungen dazu führen, dass wir die Krise dazu nutzen, uns die
Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft noch einmal zu vergegenwärtigen
und auch ganz selbstbewusst festzustellen: Wenn die Prinzipien der
Sozialen Marktwirtschaft weltweit angewendet worden wären, wäre es
nicht zu dieser tiefen Krise gekommen.
Die Soziale Marktwirtschaft ist ja sehr stark aus der
katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik heraus
entstanden, und zwar interessanterweise als eine Antwort auf das
Versagen in der ersten Weltwirtschaftskrise. Sie hat sich schon in den
30er Jahren entwickelt und ist der Überzeugung gefolgt, dass der Staat
der Hüter der Ordnung sein muss, dass es Begrenzungen der individuellen
Freiheit auf den Märkten geben muss, dass es Situationen geben kann, in
denen der Staat eingreifen muss, wenn die Selbstheilungskräfte der
Märkte nicht mehr funktionieren. Diese europäische Schule und ganz
speziell die deutsche Schule der Antwort auf die Weltwirtschaftskrise
stehen neben der keynesianischen Schule, die im angelsächsischen Raum
stärker praktiziert wurde und in der Krisenbekämpfung erst einmal durch
das Ausgeben von Geld– ich sage das einmal etwas trivialisierend; ich
möchte Herrn Keynes aber nicht unterbewerten– gekennzeichnet ist. Wir
kämpfen in dieser Krise für die europäische Schule.
Ich sage Ihnen, dass ich der tiefen Überzeugung bin– und ich
habe, Herr Erzbischof Marx, in Ihren Aussagen sehr viel Ähnliches
gefunden–, dass wir alles dafür tun müssen, damit sich eine solche
Krise nicht wiederholt. Das bedeutet, dass wir lernen müssen,
international vernetzt und nachhaltig zu denken. Das hört sich ganz
prima an und ist in der Theorie sehr einfach. Aber unser gesamtes
Denken ist ja doch sehr stark monodirektional, also eher linear
ausgerichtet und wenig vernetzt. Unser Gefühl für die Zusammenhänge des
globalen Wirtschaftens ist noch nicht so ausgeprägt, als dass wir alle
hierbei schon superkundig wären. Dennoch müssen wir lernen, auf der
Zeitachse und in der Komplexität breiter zu denken, als wir dies über
viele Jahrzehnte hinweg getan haben.
Darin liegt eine sehr große Herausforderung, wobei ich der festen
Überzeugung bin, dass die Politik allein sie nicht bewältigen kann,
wenn sie nicht von einer breiten gesellschaftlichen Diskussion
begleitet wird, in der sich unsere gemeinsamen Werte durchsetzen. Um
diesen gesellschaftlichen Diskurs bitte ich Akademien wie die Ihre und
bitte ich viele, die in dieser Republik dazu beitragen können und
sollten. Denn wir kommen in eine Situation, in der Staaten nicht nur
zur Friedenssicherung politisch zusammenarbeiten müssen, sondern zum
ersten Mal auch bei der Gestaltung ihrer Wirtschaftsordnung– so sagt
es uns auch der Papst in seiner Enzyklika– eine globale Verantwortung
entwickeln müssen.
Wie schaffe ich es aber, sozusagen aus dem Nationalstaat, aus
meiner Verwurzelung in meiner Heimat heraus nach dem
Subsidiaritätsprinzip die Fähigkeit zu entwickeln, auch wirklich
globale Verantwortung wahrzunehmen? Darum ringen wir im
augenblicklichen politischen Leben, zum Beispiel in den G20-Treffen. In
der Notsituation, in der Krise, als wir alle begriffen haben, dass wir
sozusagen kurz vor dem Abgrund stehen, hat das gut funktioniert. Aber
wie gut wird das funktionieren, wenn wir dann einmal wieder aus dem
Gröbsten heraus sind? Wird dann jedes Land vielleicht doch wieder
versucht sein, seine Interessen vor die der anderen Länder zu stellen?
Deshalb ist eine meiner Ideen gewesen– für die ich
dankenswerterweise viel Unterstützung bekomme–, ähnlich wie nach dem
Zweiten Weltkrieg, als eine Charta der Menschenrechte in den Vereinten
Nationen aufgeschrieben wurde– so eine Einigung würde man heute auch
nicht mehr so einfach hinbekommen; sie ist aus einer extrem
krisenhaften Situation heraus entstanden–, nun diese Krise zu nutzen,
um eine Charta des nachhaltigen Wirtschaftens aufzustellen und damit zu
sagen: Wir müssen die Lehren aus dieser Krise ziehen, damit sich
Vergleichbares nicht wiederholt. Der Nukleus dafür kann die G20 sein.
Das kann dann auch erweitert werden und Eingang finden in grundlegende
Prinzipien des weltweiten Zusammenwirkens. Mir liegt sehr daran, dass
wir dies zustande bringen. Der nächste G20-Gipfel in Pittsburgh wird
eine gute Möglichkeit sein, hierbei einen Schritt voranzugehen. Das
sollten wir auch tun, damit wir das Eisen schmieden, solange es heiß
ist. Denn man kann sich sehr gut vorstellen, dass, wenn man erst einmal
wieder aus dem Gröbsten heraus ist, vieles von dem vergessen wird, was
uns heute Sorgen bereitet.
Wir wissen mit Blick auf die verschiedenen Probleme– vom
Klimawandel über die Schwankungen der Rohstoffpreise bis zum
Bevölkerungswachstum und zu der Frage, wie wir damit umgehen–, dass
wir in einer Welt leben, in der wir mit der Endlichkeit der Ressourcen
umzugehen lernen und deshalb auch den Gedanken der Nachhaltigkeit
verankern müssen. Es ist unsere Aufgabe, unseren Nachkommen eine Welt
zu hinterlassen, die ihnen die gleichen Chancen zu leben bietet, wie
wir sie für uns in Anspruch nehmen. Diese Aufgabe ist hart. Sie wird
viel Umdenken von uns verlangen, sie wird viel Kreativität von uns
verlangen und sie wird vor allen Dingen ein Stück Zuversicht von uns
verlangen.
Da kommt wiederum unser christlicher Glaube ins Spiel. Ich bin
einmal in einem evangelischen Diskussionsforum in eine aussichtslose
Lage gebracht worden, weil ich immer wieder gefragt wurde: "Wie wollen
Sie das denn machen? Heißt das, dass unser Lebensstandard sinken wird?
Können Sie das alles garantieren? Sind Sie sich auch wirklich sicher?
Können Sie dies nicht tun und jenes nicht tun?" Ich wurde immer
verzweifelter. Irgendwann hat Bischöfin Käßmann zu dem Frager gesagt:
"Wissen Sie, manchmal braucht man auch ein Stück Gottvertrauen."
Dieses Gottvertrauen brauchen wir, dieses Eingebettetsein in die
Erkenntnis, dass wir nicht die ersten sind, die vor Problemen stehen,
dass wir vor keinen unlösbaren Problemen stehen, dass wir Kraft haben,
dass wir Gedanken haben, dass wir Kreativität haben und dass wir
umfangen sind von der Liebe Gottes, die uns diese Kraft gibt, und zwar
auch in Situationen, in denen wir keine genaue Prognose vornehmen
können, wie es in 20 oder 25Jahren aussehen wird– zumal wir jetzt ja
gelernt haben, dass alle wunderbaren Szenarien auch nur von endlicher
Gültigkeit sind. Das heißt, das sollte auch eine Lehre sein. Und das
sage ich als Naturwissenschaftlerin: Wir sollten die Gläubigkeit an
Szenarien, die uns vermeintlich die Zukunft voraussagen können, ein
bisschen ablegen. Szenarien können zwar Wahrscheinlichkeiten aufzeigen,
aber auch dazu verleiten, blind zu werden und die eigene Verantwortung
sowie die eigene Risikoeinschätzung völlig auszuschalten. Das
entspricht mit Sicherheit keiner verantwortbaren Politik.
Wir brauchen also eine politische Ordnung, in der Eigeninitiative
gelebt werden kann, in der soziale Verantwortung gedeihen kann, in der
wir einen Einklang oder eine Balance zwischen Gewinnstreben,
Gemeinnützigkeit, privaten Aktivitäten– natürlich auch im privaten
Unternehmertum– und der ordnenden Hand des Staates finden. Es ist das
Wesen der Sozialen Marktwirtschaft, dass wir uns immer wieder um diese
Balance zu kümmern haben. Wir sind in den letzten Monaten aber auch vor
Situationen gestellt worden, in denen wir als Staat gebeten wurden,
Eingriffe vorzunehmen, wobei ich nie geträumt hätte, dass ich
derartiges nach dem Ende des Sozialismus in einer freien Welt noch
einmal erleben würde.
Deshalb, meine Damen und Herren, glaube ich auch, dass wir uns
zum Beispiel noch lange daran erinnern werden, dass man uns, als wir
als Deutschland im Jahr2007 die G8-Präsidentschaft innehatten und vor
der Unreguliertheit der Hedgefonds und der Finanzsysteme gewarnt
hatten, mitleidig angelächelt und gesagt hat: Ja, so waren die
Deutschen schon immer– kein Zutrauen zum freien Spiel der Kräfte;
guckt euch doch einmal an, wie in Irland der Lebensstandard gestiegen
ist, schaut euch doch einmal an, wie in London die Quellen sprudeln.
Und so saßen wir immer ein bisschen da wie kleine Deppen, die sich
nicht richtig trauen. Wir haben trotzdem auf Regulierung beharrt, haben
uns aber zum damaligen Zeitpunkt nicht durchsetzen können. Das gehört
zu der bitteren Erkenntnis. Dies hat mich aber darin bestärkt, in
Zukunft für die eigenen Überzeugungen, die sich aus den Prinzipien der
Sozialen Marktwirtschaft ableiten, noch kräftiger, noch stärker
einzutreten.
Meine Damen und Herren, wir werden in dieser Krise noch so viele
wunderbare Maßnahmen ergreifen können– zur Rettung von Banken, zur
Beschleunigung der Kreditvergabe, zum Abbau von Bürokratie, zur
Förderung von Forschung–, doch wenn wir nicht ein Gefühl des
Zusammenhalts unserer Gesellschaft stärken, dann wird dies eine kalte
Welt bleiben, dann wird dies eine Welt bleiben, die die
Herausforderungen nicht bewältigen kann. Das heißt, es geht darum, eine
Gesellschaft mit menschlichem Gesicht zu schaffen, in der die
Wirtschaft dem Menschen dient und nicht der Eindruck entsteht, die
Menschen liefen irgendwelchen irrationalen Mechanismen hinterher.
Deshalb muss Politik Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb deren
wir Menschen ermutigen, sich selbst für diese Gesellschaft zu
engagieren– zum Beispiel ehrenamtlich in kulturellen Vereinigungen, im
Sport, in der Jugendarbeit, in sozial-karitativen Organisationen, in
den Kirchen, in den Religionsgemeinschaften. Das Ehrenamt ist ein sehr
kostbares Gut, das wir fördern können, das wir pflegen können, das wir
aber niemals komplett materialisieren dürfen und das im Grunde aus
einem Bild entsteht, das der Einzelne von dieser Gesellschaft hat–
vielleicht gespeist durch das christliche Menschenbild. Das ist mehr,
als ein Staat jemals regeln kann. Deshalb ist es so wichtig, dass die
staatliche Ordnung Freiräume lässt, dass sie Initiativen zulässt und
dass sie nicht jedem Knüppel zwischen die Beine wirft, sondern dass wir
stolz und froh sind über jeden, der eine Aufgabe für sich sieht. Wir
haben heute tendenziell zu viele Betrachter der Unvollkommenheit
unserer Gesellschaft und zu wenige Macher, die sich mit den
Unvollkommenheiten auseinandersetzen und alles ein bisschen zum Guten
wenden.
Natürlich ist Globalisierung manchmal auch etwas, was uns
zurückschrecken lässt, denn die Welt ist so groß, die Probleme sind so
vielfältig, ich als einzelner Mensch bin so klein und bin mit meinen
endlichen Fähigkeiten im wahrsten Sinne des Worte auch schnell am Ende
meiner Kräfte, sodass es schon sehr schwierige innere
Entscheidungsprozesse in der Frage sind: Wofür genau möchte ich mich
denn nun engagieren? Es ist so wunderbar, sich ein Sportereignis– sei
es Fußball oder Leichtathletik– anzuschauen und die Unvollkommenheit
des jeweiligen Athleten zu kritisieren. Es ist schön, auf dem Kanapee
sitzend und über die Welt bescheid wissend die Rede dieses und jenes
Politikers zu kommentieren. Wenn man dann aber selber am Rednerpult
steht oder sich irgendwie fortzubewegen und aufs Tor zu schießen
versucht, merkt man erst einmal, wie klein und wie endlich man mit
seiner Kraft ist.
Aber die wunderbare Erfahrung, die Menschen machen, wenn sie sich
in einem Ehrenamt engagieren– ob in einer Kirchengemeinde oder
anderswo–, dass man in der Summe aller Anstrengungen doch etwas
Schönes vollbringen kann, andere glücklich macht und dabei auch selber
glücklich wird, sollte von unseren politischen Rahmenbedingungen
gefördert werden. Wir haben das in dieser Legislaturperiode gemacht,
aber ich sage voraus: Zur Bewältigung dieser Krise wird dies noch sehr
viel wichtiger werden.
Das bedeutet natürlich– damit kommen wir zu einer weiteren
aktuellen Diskussion, die wir in den nächsten Wochen noch führen
werden–, dass man die Frage stellen muss: Wie stark muss ich denn
sozusagen die kleine Einheit schützen, damit Subsidiarität gelebt
werden kann und damit Menschen dort tätig sein können, wo sie viel
besser wirken können als auf irgendeiner zentralen Ebene? Natürlich
gibt es immer wieder den Versuch, von Zentralen aus– ob in Brüssel
oder Berlin– Dinge so zu regeln, dass die Menschen mehr entmutigt als
ermutigt werden. Deshalb müssen wir die Frage "Wo muss was geregelt
werden?" auch wirklich in den Mittelpunkt unserer Politik stellen.
Aus einer gemeinsamen Sprache und aus einem gemeinsamen
Aufwachsen in einer Region erwächst natürlich ein
Zusammengehörigkeitsgefühl. Wer die kleinen Einheiten in der
globalisierten Welt nivellieren will, wird daher viel guten Willen des
Menschen zum eigenen Engagement kaputtmachen. Deshalb haben wir uns in
der Europapolitik mit einer Balance zu beschäftigen. Mit dieser Balance
haben wir uns jeden Tag im Umgang mit dem Föderalismus zu beschäftigen.
Mit dieser Balance haben sich die Länder zu beschäftigen, wenn die
Kommunen sagen, dass sie gegängelt werden oder ausreichend Freiheit
haben wollen. Das heißt, es gibt ein andauerndes Spannungsverhältnis in
unserem Leben.
Auf der anderen Seite sind wir heute über 6,5Milliarden Menschen
auf dieser Welt. Wir Deutschen sind 80Millionen. Selbst wenn wir sagen
könnten, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben und wissen,
wo alles langgehen sollte, dann sind aber noch längst nicht
6,5Milliarden Menschen von uns beeindruckt und würden sagen, dass wir
Recht hätten. Das heißt also, die Frage, wie wir unsere Geschichte,
unser Werteverständnis, unser abendländisches christlich-jüdisches Bild
vom Menschen und von der Welt in die Welt einbringen, ist eine Frage,
die in den nächsten Jahren absolut entscheidend sein wird. Wenn am
Anfang des 20.Jahrhunderts noch jeder vierte Mensch auf der Welt ein
Europäer war, dann wird es am Ende des 21.Jahrhunderts nur noch jeder
13.sein. Deshalb müssen wir viel Überzeugungskraft aufbringen. Darin
liegt neben der Friedensaufgabe eine der ganz großen Aufgaben der
europäischen Einigung, weil es auf eine Einigung von Menschen mit einem
gleichen Werteverständnis ankommt, mit einem gleichen Verständnis von
der Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen, aus dem so
viel, was wir tun, resultiert.
Das heißt also, wir müssen– das ist meine feste Überzeugung–
kämpferischer werden; nicht überheblicher, aber kämpferischer. Es ist
kein Selbstläufer, dass sich unsere Art zu leben in der Welt
durchsetzt. Im Gegenteil: Es gibt vielmehr Menschen, die auch anders
denken. Deshalb müssen wir darauf beharren, dass es auch unverrückbare
ethische Werte gibt, die für jeden Menschen gelten. Es gibt keinen
Kompromiss in der Frage: Ist die Würde eines Menschen unantastbar oder
ist sie es nicht? Wenn in dem Moment, in dem das Gemeinwohl infrage
steht, die Würde des Einzelnen nichts mehr zählt– es gibt viele Länder
auf der Welt, in denen so gedacht wird–, dann kommen wir in einen
existenziellen Konflikt, der es uns immer schwieriger machen wird, mit
unserer Art zu leben und auch erfolgreich zu leben. Deshalb müssen wir
uns fragen: Wo werden unsere Werte herausgebildet? Denn sie erwachsen
nicht aus dem politischen Tun.
In diesem Zusammenhang spielt natürlich die Familie, in der der
Mensch aufwächst und in der er seine Persönlichkeit entfaltet, eine
zentrale Rolle, die durch keine staatliche Tätigkeit ersetzt werden
kann. Wir als CDU sagen in unserem Programm: Familien sind dort, wo
Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung
übernehmen. Verantwortung wird nicht übernommen, weil dies sozusagen
ein staatliches Gesetz verlangt, sondern weil es eine innere Bindung
gibt, weil es Liebe gibt, weil es Zuwendung gibt, weil es Geborgenheit
und Verantwortungsgefühl gibt. Dies muss, wo immer es vorhanden ist,
geschützt werden, vom Staat gehegt und gepflegt und weiterentwickelt
werden. Dies ist eine der Kernbotschaften unserer Politik, zu der ich
sage: Sie kommt auch in meinem Fall aus dem christlichen Menschenbild.
Die Verantwortungsgemeinschaft Familie zu schützen, ist nicht
einfacher geworden, weil die Pluralität der Lebensformen zugenommen hat
und weil wir heute eine wachsende Zahl von Ehescheidungen haben. Die
Zahl der Eheschließungen nimmt dagegen nicht gerade zu. Die Zahl der
Alleinerziehenden steigt. Wir haben aber natürlich die Aufgabe, dafür
zu sorgen, dass sich jedes Kind als eine Persönlichkeit in dieser
Gesellschaft entfalten kann.
Das heißt also, wir müssen uns entscheiden, in welcher Weise wir
auf der einen Seite die Akzeptanz jedes menschlichen Wesens leben, uns
aber auf der anderen Seite aber auch nicht scheuen, auszusprechen, dass
wir die Ehe für die verlässlichste Form des Zusammenlebens und des
Lebens von Verantwortung halten, dass wir deshalb den Schutz der Ehe
und nicht nur den Schutz der Familie weiterhin im Grundgesetz verankert
lassen wollen und– das sage ich für mich und für meine Partei und
genauso für die CSU– dass wir zum Beispiel das Ehegattensplitting als
Ausdruck des Respekts vor der Verantwortung, die man dauerhaft
füreinander übernimmt, nicht abschaffen wollen. Es ist richtig, dass
wir damit eine bestimmte Besserstellung bei der Entscheidung für eine
eheliche Gemeinschaft nicht nur in Kauf nehmen, sondern bewusst wollen.
Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht auch anderen Gemeinschaften
zuwenden und dass wir nicht auch Alleinerziehende aufnehmen. Es ist
also nicht so, dass wir diese Lebensmodelle sozusagen negieren und den
Menschen, die nach diesen Modellen leben, keinen Halt geben würden.
Aber diejenigen, die sich für eine Ehe entscheiden und in einer Ehe
ihre Kinder erziehen, sollen sich nicht als Minderheit in unserem Lande
fühlen, während andere sozusagen die geballte Aufmerksamkeit des
Staates bekommen.
Ich sage auch: Wir wollen, dass sich Mütter und Väter frei
entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten. Auch das erwächst aus
der Verantwortung, die jeder Mensch für sein Leben wahrnehmen kann und
möchte. Das führt dazu, dass auch die Pluralität dieser Entscheidungen
zugenommen hat. Die CDU hat sich entschieden, in der Frage der
Lebensgestaltung die Wahlfreiheit der Eltern in das Zentrum zu stellen.
Aber auch das hat uns in dieser Legislaturperiode eine Vielzahl von
Diskussionen eingebracht, weil wir festgestellt haben– ich glaube, an
dieser Feststellung ist nichts falsch–, dass Eltern, wenn sie sich mit
kleineren Kindern dafür entscheiden, Beruf und Familie zu verbinden,
nicht die Möglichkeit haben, dies in unserer Gesellschaft problemlos zu
leben. Indem wir aber gesagt haben "Wir wollen diesen Eltern
Wahlfreiheit ermöglichen", haben andere Eltern sich ein Stück
zurückgesetzt gefühlt und gesagt: Nun geraten wir mit unserer
Entscheidung, für viele oder einige Jahre unsere Kinder zu Hause zu
erziehen, wohl doch wieder ins Hintertreffen.
Da müssen wir sozusagen miteinander lernen, die Vielfalt der
Menschen zu akzeptieren und nicht aus der Beseitigung eines Mankos auf
der einen Seite wieder eine Benachteiligung auf der anderen Seite zu
machen. Deshalb war es richtig, dass wir gesagt haben: Wenn wir die
Kinderbetreuung verbessert haben, werden wir ein Betreuungsgeld
einführen, mit dem wir dann auch Eltern, die mehrere Jahre lang für die
Kinder zu Hause da sind, zeigen, dass sie genauso die Unterstützung des
Staates haben.
Aber mit der wachsenden Pluralität wird auch die Art der
staatlichen Maßnahmen, die gewollt und erwünscht sind, immer komplexer.
Wir müssen aufpassen, dass die Regelungen für jede Art von Lebensform
zum Schluss nicht so sehr in jede Kleinigkeit gehen, sodass der
Gesamtzusammenhang überhaupt nicht mehr erkennbar ist. Deshalb sagen
wir, dass der Gesamtzusammenhang der sein muss, dass die Verantwortung
der Eltern gestärkt wird.
Das gilt auch für die Frage: Wie schaue ich denn auf diejenigen,
die Probleme bei der Erziehung haben? Ich plädiere immer dafür, dass
wir zuerst alles daransetzen, die Elternverantwortung zu stärken, bevor
sich der Staat mit massiven Eingriffen in die Familien einmischt. Auch
hier wissen wir zwar, dass zu langes Warten oft zu schrecklichen
Ergebnissen führen kann. Aber der Staat darf sich nicht sozusagen von
vornherein anmaßen, bessere Kenntnisse zu haben als andere.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass im Umgang mit Familien
staatliche Geldzahlungen, Transferzahlungen, der Ausbau von
Kindergartenplätzen und Krippenplätzen, eine bessere Vereinbarkeit von
Beruf und Familie und eine höhere Akzeptanz familienfreundlicher
Arbeitszeiten in Unternehmen allein nicht ausreichen werden. Es muss
vielmehr auch ein Verständnis in unserer Gesellschaft geben, dass zu
einer nachhaltigen, verantwortungsvollen Politik auch die Sorge um die
nächste Generation gehört.
Die Tatsache, dass es viele Zivilklagen gibt, wenn es um die
Bekämpfung von Kinderlärm geht, sagt schon etwas über die Frage aus,
wie unsere Gesellschaft eigentlich ausgestaltet ist. Dinge, die früher
völlig natürlich waren, werden heute im Rechtsstaat infrage gestellt.
Eltern müssen darum kämpfen, dass das akzeptiert wird, was früher
einmal als Musik galt– Kinderlärm ist Musik in meinen Ohren, was es
nicht immer war. Es gibt durchaus auch Eltern, die selber davon
berichten, dass es Situationen gibt, in denen sie das etwas mühselig
finden. Der Rechtsstaat wird aber niemals eine kinderfreundliche
Gesellschaft per Rechtsdefinition erzeugen können. Das heißt, wir
kommen wieder zu dem Punkt, an dem wir aus Werten heraus gespeist sein
müssen, die uns ein verantwortliches Leben ermöglichen.
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen an einigen
Beispielen zu zeigen, wie unser Verständnis, mein Verständnis, mit
Themen umzugehen, die uns jeden Tag erreichen, durch den christlichen
Glauben geprägt ist. Ich glaube, dass wir versuchen müssen, immer
wieder auf ein gemeinsames Fundament zurückzugreifen.
Der Papst hat, als er noch Kardinal war– in sehr spannenden
Aufsätzen, wie ich finde–, darüber geschrieben, wie sich die
Säkularisierung in unseren europäischen Ländern auswirkt und wie sie
die Präsenz des Glaubens in der alltäglichen Entscheidung schleichend
unterhöhlt. Am Anfang der Trennung von Kirche und Staat und der
Säkularisierung in Europa war das gesamte Leben noch durchdrungen von
der Idee: Mein Leben ist Dienst für Gott. Wenn man in den Bergen in
Italien– in Bayern wahrscheinlich genauso– wandert, muss man sich
einmal anschauen, wo überall der Mensch vor Jahrhunderten Kapellen
gebaut hat. Mit einer Lebenserwartung von 30 oder 35Jahren und mit
einer Armut, wie wir sie heute nicht kennen, war er bereit, Steine
Berge hochzuschleppen– ohne Maschine, ohne Zugkraft, vielleicht nicht
einmal mit Pferd oder Esel–, um zur Ehre Gottes Gebäude zu errichten,
Kirchen und Kapellen.
Das muss man sich einmal vor Augen führen, wenn man sieht, wie
wir heute darum ringen, wenn wir Institutionen für die Gemeinschaft–
dabei spreche ich noch nicht einmal von einer Kirche– pflegen und
hegen wollen, wie anonym vieles geworden ist und wie wenig wir bereit
sind, etwas für das abzugeben, was an eine Kraft gerichtet ist, die
über uns steht. Wenn wir Demut nicht wieder erlernen und wenn wir nicht
wieder lernen, dass wir gewinnen, wenn wir dazu bereit sind, uns selbst
nicht so wichtig zu nehmen und nicht zu glauben, dass jeder von uns im
Zentrum allen Geschehens stehen würde, dann wird es sehr schwierig
werden, einen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu haben.
Apostel Paulus schrieb in seinem Brief an die Galater: "Zur
Freiheit hat uns Christus befreit." Ich glaube, diese Freiheit, richtig
verstanden im christlichen Menschenbild, kann uns dazu befreien, auch
die schwierigsten Probleme anzugehen– mit fröhlichem Herzen und dem
von mir eben schon beschriebenen Gottvertrauen.
Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
www.bundesregierung.de
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