Erschienen in Ausgabe: No 44 (10/2009) | Letzte Änderung: 28.09.09 |
„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, Doch ach – es wankt der Grund, auf den wir bauten.“ [1]
von Ulrich Büchler
Hermeneutischer Anstoß: Krise - die Wendung
der Dinge
Der Begriff
Krise, vom altgriechischen Substantiv krisis
und seinerseits vom Verb krinein -
„scheiden, sondern, sichten“ - abgeleitet, bezeichnet im allgemeinen
Sprachgebrauch die Hochphase einer gefährlichen Entwicklung mit noch ungewissem
Ausgang. Formal weist sich eine Krise dadurch aus, dass ihr Geschehen auf einen
Scheidepunkt zuläuft: eine besondere Situation der Entscheidung über den
weiteren Verlauf der Dinge. Der Scheidepunkt offenbart sich als solcher jedoch
zumeist erst nach Abschluss der Krise. Dann, im retrospektiven Wissen um ihren
Gesamtverlauf, entsteht die zumindest theoretische Option, relativ sicher zu
bestimmen, welcher Verlaufspunkt den tatsächlichen Punkt der Entscheidung
markiert, von dem an eine Wendung zum Guten oder weiter zum Schlechten
eingetreten ist.[2]
Die Besonderheit
eines Krisengeschehens im Vergleich zu anderen Ereignissen zeigt sich also in
der exklusiven Brisanz einer Entscheidung zwischen zwei konträren
Entwicklungsläufen samt ihren Folgeresultaten. Eine Krisenzeit versteht sich
per se als Entweder-Oder-Phase, dieeine
Wendung der Dinge insgesamt einleitet. Im schlechten Fall droht eine Krise in
eine Katastrophe zu münden, was einer Umwendung der Verhältnisse im Sinne eines
gewaltigen Unheils entspricht. Der mögliche Eintritt einer Katastrophe
provoziert darum im Laufe der Krise zwei kardinale Fragen: erstens, wann der
Scheidepunkt der Entwicklung wirklich erreicht ist, und zweitens, welche
Entscheidung zu diesem Zeitpunkt tatsächlich zu treffen ist. Denn sicher ist
nur eines: nur wer zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung fällt,
darf darauf hoffen, dass eine Krise nicht in einer Katastrophe endet.
Ökonomischer Vorstoß: Krise - die
Verwendung der Dinge
Das skizzierte
Strukturschema einer Krise lässt sie natürlich irreal, in idealtypischer
Gestalt erscheinen. Die derzeit reale Krise, die vornehmlich als ökonomische
erfasst ist, widersetzt sich noch schematischer Punkt- und Verlaufstheorie. Wer
weiß schon, welche Gestalt sie letztlich annimmt? Noch zeichnen sich erst Umrisse
ab, wenn sie im globalen Raum ihre Schleifen zieht, vermeintlich ziellos von
Punkt zu Punkt. Niemand weiß, welcher davon als der letztlich eine Punkt der
Entscheidung aufleuchtet. Und ob es der ist, der sich heute und eine zeitlang
schon als möglicher heraushebt. Und wer weiß schon, ob die eine Krise nicht
noch andere erzeugt, mit weiteren Scheidepunkten, neuen Folgen und etlichen
weiteren Fragen? Wer weiß das schon?Hier und jetzt - solange sie noch im Gange ist?
Die Tatsache,
dass es niemand weiß, widerlegt indes nicht a priori alle Versuche vorläufiger
Bilanzierung. Eine Kleinstgruppe von Menschen gestattet sich sogar, wenngleich
jegliche Zwischenbilanz voller Zweifel steckt, eine akkurate Abschlussbilanz.
Was objektiv unmöglich ist, ist dieser Minderheit subjektiv selbstverständlich:
nicht irgendeiner seherischen, sondern ihrer eigenen ökonomischen Potenz wegen,
die sie als Mitglieder der globalen Finanzelite ausweist. Als solche wissen
zwar auch sie nicht um den weiteren Lauf der Dinge und ihren letzten Stand am
Ende der Krise. Aber all das braucht sie nicht mehr zu interessieren. Und erst
recht nicht zu besorgen. Was sie wirklich wissen wollten, wissen sie bereits.
Für sie ist und bleibt nicht nur alles, wie es vorher war. Es kommt noch besser.
Der für die
Spitzengruppe eindeutige Fixpunkt der Scheidung und Wendung war nämlich in dem
Moment erreicht, als ihre Pendantgruppe aus der Politik die Entscheidung
treffen musste, ihr beizustehen und das marode Finanzwesen zu retten. Diese
Entscheidung, sich zwecks Abwendung eines realen Unheils solidarisch zu
erweisen und das Elend mit Kapital zu lindern, versetzte die Finanzgemeinde in
einen regelrecht surrealen Heilszustand. Wie phantastisch paradox! Aus der
Krise geht die Gruppe nicht geschwächt, sondern gestärkt hervor. Zumal
entschieden reicher um die vormals mutmaßliche, nun aber wirkliche Erkenntnis,
dass sie nicht nur trotz, sondern auch wegen ihres Totalversagens Rettung
erfährt: dass die Dinge sich für sie allemal, so oder so, heute und morgen, zum
Guten wenden. Wie auch immer sie für den Rest der Welt stehen.
Die Kapitalelite
hat ihr Glück auf Erden amtlich, mit Brief und Siegel. Endlich kehrt für sie
Ruhe ein. Das Ziel ist erreicht, die Sehnsucht gestillt. Nun ist es ihr immer
gewiss und sicher: Kapital, Solidarität, Absolution - das alles gibt es für sie
bedingungslos und kostenlos, wenn sie ihr Werk nur ordentlich vollbringt. Was
ihr bleibt, ist zu entspannen und feierlich Zeugnis abzulegen, dass ihr die
Krise stets vollste Zufriedenheit verschafft hat. Sodann natürlich: sich zu
rühmen, wie diskret es ihr gelungen ist, widrige Umstände auszunutzen. Und wie
seriös sie dem Staatsapparat vermittelt hat, dass es überhaupt jedem, seinem
und allem öffentlichen Interesse dient, zugunsten ihres Interesses zu
entscheiden. Das war es schon. Der Finanzclub kann zur Schlussbilanz laden.
Egal, ob anderorts noch eine Entscheidung zum Guten oder Schlechten ansteht:
die Dinge sind gelaufen. Denn nicht auf ihre Wendung, sondern ihre Verwendung
zum eigenen Vorteil kommt es an.
Politischer Durchstoß: Krise - die
Entwendung der Dinge
Das Gebaren der
Clubmitglieder ist nur grotesk. Sicher. Es unter Kritik zu stellen, ist jedoch
sinnlos. Einerseits, weil sie es überhaupt nicht realistisch einzuschätzen
vermögen - woher sollten sie auch wissen, was sich gehört? Das mussten sie nie
lernen. Andererseits, weil sie einer Kritik ihres Verhaltens auch nicht
gewachsen sind, weder mental noch rational. Ihr Kapitalgemüt ist von kindlichem
Niveau, noch ganz darauf ausgerichtet, zu nehmen und nicht zu geben. So bringt
ihr Glücksgebaren nur authentisch zutage, dass sie woanders, in einer
Parallelwelt leben - jenseits der Realität lästiger Gesetze und Normen. Wer
weiß schon, von jenem Glücksort zu berichten? Zumal inmitten einer Krise? Wer
weiß schon, wie es ist, wenn alles kommt wie gewünscht: wenn sich alles derart
vollendet verkehrt, dass jegliches Übel zum Wohl und jeglicher malus zum bonus
gerät? Und wer weiß schon, dass die Verkehrung sogar rechtens ist, verbrieft
und besiegelt? Wer weiß so was?
Die einzige
Gruppe von Menschen, die ein solches Glück auf Erden einzuschätzen vermag,
zumindest im Ansatz, ist die Politikelite. Und aus ihren Reihen wohl letztlich
allein die Angehörigen des Finanzmetiers. Sie bilden eine mit Sonderwissen
ausgestattete Spezialeinheit in der Hochregion des Staatsapparats - mit
Direktaufgang zum Universum des privaten Kapitals. Ohne sie würden nicht nur
der Systembetrieb, das nationale Staats- und das globale Finanzwesen, zum
Erliegen kommen. Ohne sie würde zugleich der Parallelbetrieb des Kapitalclubs,
ihre Welt der Freuden und Wonnen, ad hoc zu Staub zerfallen. Die voluminöse
Phantasie der Finanzpolitik erschafft dem Kapital überhaupt erst eigene,
weithin beschützte Welten zum Spielen: sei es durch Entfesselung der
Marktmächte im Vorstadium, sei es durch ihre Bändigung im Hauptstadium der
derzeitigen Krise. Prinzipiell gilt: solange die Politik im Systembetrieb
verbleibt, entscheidet sie niemals frei, sondern so, wie von der Finanzelite
gewünscht. Da gibt es kein Vertun. So ist das eben - so irre einfach.
Das System
versteht jedes Kind. Nicht grundlos ist es der Kapitalelite liebstes Mittel zum
Zweck. Ein verehrtes Zwangsinstrument, das ihr stets einen superben Vorteil
verschafft: es nötigt die Finanzpolitik, ganz im Interesse des Kapitals zu
entscheiden, da die Höhe der Steuereinnahmen maßgeblich von der Kapitalrendite
abhängt. Das ist so einfach wie logisch. Und nützlich, wenn die Risiken des
Systems vom Staat mindestens mitgetragen und notfalls allein getragen werden.
Dann fügt sich alles so glücklich, weil zur Rettung eine Spezialeinheit
bereitsteht, die - ohnehin in der Hochregion zuhause - zu allem bereit ist. Zum
Aufbruch in die Scheide- und Wendepunktssphäre, zum Megagipfel des
Krisengeschehens! Zur Darbringung eines Staatsopfers! Zur Vergeltung der
Finanzschuld! Zur Behebung des Marktchaos! Zur Linderung des Branchenelends!
Superb! Zumal sich jene, die vom Gipfel zurückgekehrt sind, zu allem Überfluss
als Helden wähnen. Das macht sie bereit, nichts zu lernen und alles zu
wiederholen. Also auch die Verwendung der Dinge im Sinne der Clubherren
fortzusetzen. So zuverlässig wie treue Beamte.
Die Illusion
über das eigene Heldentum ist an sich jedoch nur verständlich. Im Grunde eignet
der Finanzpolitik sogar ein Rechtsanspruch darauf. Jahr um Jahr hat sie ohne
Murren für eine profitable Kapitalverwertung gesorgt. Stets war sie bemüht,
wenigstens die Brosamen vom Tisch der Herren aufzusammeln. Wer will es ihr nun
verwehren, dass sie für einen kurzen Moment selbst am edlen Tisch Platz nimmt
und mitzureden wünscht? Mal im Ernst: hätte sie vom Tisch überhaupt fernbleiben
und eine andere als die Rettungsentscheidung treffen können? Unmöglich! Schon
die krude Logik des Systembetriebs zwingt sie dazu, sich so zu entscheiden:
gleichermaßen richtig wie falsch. Richtig, weil es auch im Eigeninteresse
liegt, den Finanzmarkt zu retten. Falsch, weil die Rettung die Marktelite noch
freispricht. Aber was zählt solches Wägen und Wiegen, wenn es eine Katastrophe
abzuwenden gilt. Dann drängt es die Politik über Sitten und Regeln hinweg. So
weit, dass sie sich der Krise geradewegs als Diebin bemächtigt. Nein,
bemächtigen muss! Einer Kleptomanin gleich, die den Finanzclub schlagartig
aller Schulden und Sorgen beraubt. Nein, berauben muss! Ein Lob der rechtsstaatlichen
Politik! Welche Macht muss sie vereinen, wenn sie die Dinge nicht nur zu
wenden, sondern sogar zu entwenden vermag! Respekt, Respekt. Hoch die Gläser -
auf die Helden!
[1] Friedrich Schiller,
Wilhelm Tell I, 2
[2] Klaus Merten, Krise und
Krisenkommunikation, in: Tobias Nolting, Ansgar Thießen (Hrsg.):
Krisenmanagement in der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2008, S. 83 - 97
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