Erschienen in Ausgabe: No 44 (10/2009) | Letzte Änderung: 28.09.09 |
Péter Esterházy, Keine Kunst, Titel der Originalausgabe: Semmi müvészet, Aus dem Ungarischen Terézia Mora, Berlin Verlag, Berlin (März 2009), 253 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3827008158, ISBN-13: 978-3827008152, Preis: 22,00 EURO
von Heike Geilen
"Keine Kunst" heißt der neue Roman Péter
Esterházys, und schon der Titel des Buches lässt etwas von der Mehrdeutigkeit
und dem inhaltlichen Anspruch erahnen. Denn der ungarische Autor erzählt
keineswegs locker und leger die Geschichte seiner Familie und ganz speziell die
seiner eleganten, kühnen und provokanten Mutter, auch wenn der unbeschwerte Plauderton,
der zuweilen Tragisches und Ernstes in beinahe schockierender Leichtigkeit
übermittelt, dies anfänglich vermuten lässt. Sondern der vielfach preisgekrönte
Schriftsteller (u. a. 2004 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für
sein Opus Magnum "Harmonia Caelestis") hat sich - wie es scheint -
eines äußerst anspruchsvollen Stilmittels aus der Opera buffa bedient: dem Parlando,
einem schnellen "Singen" mit gut artikulierter Aussprache und
leichter Tongebung unter genauer Beachtung des Rhythmus. "Keine
Kunst" ist also alles andere als keine Kunst, sondern - im Gegenteil -
allerhöchste literarische Kunstfertigkeit.
Dabei hat Esterházy ein ziemlich plebejisches Thema - den
Fußball - mit der vornehmen Aristokratie seiner ehemals gräflichen Adelsfamilie
und dem Aushängeschild derselbigen - seiner Mutter - verknüpft und dies vor dem
Hintergrund des kommunistischen Ungarn der Nachkriegszeit angesiedelt.
Kunstvoll verwebt er diese so ganz und gar nicht zueinander passenden Bereiche
und generiert Lili Esterházy als autokratisches Verbindungsglied zwischen
derber Vorstadtkickerei und stilvollem Anspruch, zusätzlich freundschaftlich verschränkt
durch die Gestalt des ungarischen Fußball-Mythos Ferenc Puskás aus der
Wunderelf von Bern.
Esterházy treibt dieses Spiel soweit, dass er seiner Mutter ebendiese
Fußballliebe als einzig wahre infiltriert. "Es gab nichts, womit meine Mutter so eine Leidenschaft verband
wie mit dem Fußball, weder mit meinem Vater noch mit ihren Kindern noch mit dem
Herrgott." Und an dieser Leidenschaft entlang rankt er vielerlei
ungarische Fußball-Legenden, aber auch allerhand politische Kalauer und
Patei-Anekdoten aus der Zeit des Rákosi- und des Kádár-Kommunismus. Alles in
allem geht es um das Leben und Sterben der Mutter, aber auch des Vaters und
dessen Gefoltertwerden von der Stasi in der Nachkriegszeit. Der Autor berichtet
von der politischen Enge, Unfreiheit und Angst der Ungarn in den 50ern und der
"einzigen" Freiheit durch das Spiel mit dem 21,5 cm (Durchmesser) runden
Lederball.
Doch keine stringente Handlung führt zielsicher zu einer
Pointe bzw. zum kulminierenden Höhepunkt, sondern Esterházy verlangt von seinem
Leser Intellekt und vor allem hochgradige Geistesgegenwart, um seinen
einfallsreichen, kreativen, schillernden, delphischen, mitunter seitenlangen,
durch Klammereinschübe noch zusätzlich irreführenden Schachtelsätzen zu folgen
und sie in ihrer Gesamtheit überhaupt zu erfassen und zu verinnerlichen. Nicht
nur paralleles Wahrnehmen wird hier vorausgesetzt, sondern eine Triade oder gar
vierspuriges Denken sind von Vorteil, um sich nicht im Gewirr der Sätze und
Gedanken zu verlieren. Von einer entspannenden Nachmittags- oder Abendlektüre
kann also bei Weitem nicht ausgegangen werden, sondern es gehört eine gehörige
Portion Aktionismus und Willen dazu, sich aus diesem Wirrwarr zu befreien und
die Bedeutung der Sprache, die über der der Handlung liegt, herauszuschälen.
Zwei Sätze aus dem Buch, in denen Esterházy seine Mutter
bzw. seinen Vater charakterisiert, können gleichfalls auf den gesamten Duktus
des Romans übertragen werden: "Meine
Mutter verfügte über die seltene Gabe, die auch mit dem Alter kaum blasser
wurde, mal unerwartet, Verhüllungen herunterreißend, mal ausdauernd und leise
steigernd aufdeckend, ununterbrochen: den Reichtum der Dinge aufzuzeigen.« Der
Vater: "Er klebte alles mit Worten
voll. Nach dem Muster der Sexbesessenheit wurde er von der Wut des Benennens
erfasst, streute die auf ihre Benennung wartenden Dinge mit Synonymen voll, er
redete und redete."
Fazit:
Ein postmodernes, fragmentarisches Puzzle, einen komplizierten
Patchworkteppich voller bizarrer Muster, die allesamt Gedanken und Geschichten enthalten,
die in den 50er Jahren des kommunistischen Ungarns angesiedelt sind, ein
rastloses, multiples, schwindelerregendes Erinnern und Reflektieren ohne
Struktur breitet Péter Esterházy in seinem neuen Roman vor dem Leser aus. "Keine
Kunst" ist zweifelsohne höchst kunstvoll. Dessen vertrackte Wortspiele hat
Terézia Mora phantasievoll und kühn ins Deutsche übersetzt. Ob man jedoch die zahlreichen
kleinen Perlen unter der "Kompliziertheit" findet oder besser
genießen kann, bleibt fraglich. Vielleicht beim zweiten oder dritten Lesen.
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