Erschienen in Ausgabe: No 45 (11/2009) | Letzte Änderung: 06.10.09 |
von Lutz Rathenow
Der Herbst 89 als aufgeregte Zeit:
die DDR begann durchzudrehen, und ihre Macht über sich zu verlieren.
Dennoch gab es noch viel Angst. Rechnete ich mit einer halb
chinesischen Lösung, einem kleineren Massaker und einigen
Schein-Öffnungen (Striptease für Westgeld)? Ich lenkte mich durch viele
Aktivitäten von der Tatsache ab, erstmals in eine Sinn- und
Arbeitskrise geraten zu sein. Da müsste man über den Westen reden und
seine Erwartungen an die DDR – im Mai lud mich ein deutsches
Nachrichtenmagazin von einem Empfang in Ostberlin aus, weil man auf die
DDR-Führung hoffte. Ich tourte mit einer bitterbösen Geschichte durch
das Land, in der ein Stasi-Mann sich in eine Psychose hineinsteigert
und von Arbeitern an einem Kiosk versehentlich oder zielgerichtet
getötet wird. Die Reaktionen in den Kirchen: Begeisterung bis
deutliches Unbehagen. Ich merkte, das ich den locker differenzierten
Ton aus meinem Ostberlinbuch zu verlieren drohte. Der Staat kam mir zur
nahe.
Der 4. November, die riesige Demo in Berlin, der
ungarische liberale Jugendverband war mit vier Vertretern in der
Vornacht angereist (vermittelt von Jürgen Fuchs) und wollte eine
Grußbotschaft überbringen. Sie schliefen kurz bei mir, dann ging ich
mit ihnen zur Demo und erlebte viel Misstrauen im Vorbereitungsraum -
nur durch Rolf Hochhuth an meiner Seite und der Drohung einer
Verbotsschlagzeile am nächsten Tag in der WELT bekamen die Ungarn ihr
Rederecht. Alle applaudierten ihnen dann.
Alles war sehr schön, aber
Osteuropa schien weit weg. Westberlin (fast in Rufweite) schien nicht
vorhanden zu sein. Und zur gleichen Zeit galt noch das Verbot für
Westjournalisten, die Montagsdemos in Leipzig zu besuchen. Ich war seit
Wochen damit beschäftigt den, Westjournalisten die Bedeutung von
Leipzig und Plauen zu erklären, bekam aus Plauen Zahlen und Anektoden
durchtelefoniert - die kurzen Agenturmiteilungen von DPA und AP druckte
dann kaum jemand im Westen. Der berlinfixierte Blick verzerrte schon
damals die Wahrnehmung. Besser auf den Westen und auf Osteuropa
vorbereitet zu sein, das wäre unsere Chance gewesen. Ich wollte den
Westen, ich hätte mir auch eine tolerante Kolonisierung der DDR durch
Luxemburg oder die Schweiz und notfalls auch Österreich vorstellen
können. Die DDR lebt durch ihr Verschwinden fort. Als Mythos und als
Projektionsfläche für sehr vetrschiedene Vorstellungswelten. Mit dieser
Absurdität müssen ihre Gegner leben lernen: durch sein Verschwinden dem
Staat eine virtuelle Dauer-Existenz verschafft zu haben. Dafür war
meine Schreibkrise mit dem Mauerfall beendet und ich mußte mich nicht
mehr so oft mit (West)-Journalisten treffen, um Briefe in den Westen
schmuggeln zu lassen.
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