Erschienen in Ausgabe: No 45 (11/2009) | Letzte Änderung: 17.10.09 |
von Marco Meng
Nietzsches
Zarathustra ist ein gewaltiges Opus und beeinflusste vielleicht die Geistesgeschichte
der Menschheit mehr als jedes andere literarische Werk. Sagte ich, literarisches Werk? Ist es aber nicht
vielmehr ein philosophisches? Was offenbart sein Autor darin, dass er sich damit
von allen deutschen Denkern den schlechtesten Ruf erwarb? Und was ist der wirkliche
Inhalt dieses Buches, das vom Übermenschen spricht, den Lob der Einsiedelei
verkündet - und den Tod Gottes?
Mehr
als nur eine ästhetisierende Machtphilosophie ist es vor allem ein Werk der Hoffnung,
des Glaubens - auch der Verzweiflung. Und, die biographische Situation Nietzsches
zur Zeit der Niederschrift bedenkend, ein Kunstwerk, geboren aus verschmähter
Liebe – er selbst nannte es „mein Testament“. Die Umwertung aller Werte, die
ewige Wiederkehr des Gleichen, die Erkenntnis, dass das Dasein, so wie es ist,
ohne Sinn und Ziel ist: hat das nicht mit Lou von Salomé zu tun, dieser jungen Russin,
in die sich Nietzsche damals verliebt hatte? Sie war die vielleicht einzige Liebe
seines Lebens - und die größte, niederschmetterndste Enttäuschung. Mit 25
Jahren war Nietzsche bereits - trotz fehlenden Doktortitels, ja, sogar ohne ein
Studium abgeschlossen zu haben - zum außerordentlichen Professor für Philologie
in Basel berufen worden. Doch was der Beginn einer kometenhaften Karriere zu sein
scheint, endet in jähem Absturz. Seine Versuche, auf den Lehrstuhl für Philosophie
überzuwechseln, scheitern, sein Text "Die Morgenröte" wird selbst von
Freunden kaum gewürdigt. Und endlich zwingt ihn 1876 seine schlechte
Gesundheit, von der Universität Abschied zu nehmen. Nietzsche leidet unter Migräne,
tagelangen Erbrechungsanfällen und mehrstündigen Ohnmachten, dass er kaum mehr zum
Schreiben von Briefen fähig ist: "Ich führe täglich einen Kampf durch, von
dem niemand einen Begriff hat."
Seine
Gesundheit wie seine soziale Lage zu dieser Zeit sind erbärmlich: seine
Schwester löst seinen Haushalt in Basel auf, den Rest seines Lebens wird er ein
Unsteter sein, ohne Zuhause, ohne festen Wohnsitz, selbst ohne
Staatsangehörigkeit. Hin- und hergerissen zwischen der Einsamkeit, in die ihn seine
Krankheit flüchten lässt, ihn in die Entrückung der eigenen Gedankenwelt führt,
und der Sehnsucht nach dem wirklichen Leben, das er in Lou ahnt, wird das
Schaffen zur größten Erlösung für sein Leiden. Musste er das Alleingelassenwerden
am Ende nicht als Auserwählung empfinden? Oder war es eben dieses
Alleingelassenwerden, das ihn in den Wahnsinn trieb? In seinen Briefen
verflucht er die Einsamkeit, die er im Zarathustra lobt. Seine Freundschaft mit
Richard Wagner zerbricht jäh. Da lernt er im April des Jahres 1882 in Rom in der
Peterskirche Lou von Salomé kennen, jung, attraktiv, intelligent, selbstbewusst.
"Von welchen Sternen gefallen sind wir beiden hier zusammengeführt
worden?" In die Petersburgerin, die Tochter eines Generals, verliebt sich
Nietzsche sofort - und weiß nicht, dass Paul Reé, sein Begleiter in Rom, die
Baltin ebenfalls längst liebt. Seine Beziehung zu ihr wird für Nietzsche unweigerlich
zur kränkendsten Enttäuschung in seinem Leben und war dabei doch vielleicht der
letzte Strohhalm, an den sich der Unzeitgemäße vor dem erahnten Untergang noch klammern
mochte.
Anfang
Mai bestiegen Nietzsche und Lou gemeinsam den Monte Sacro und verlebten den August
im Tautenburger Wald. Nicht wissend um die Gefühle seines Freundes Reé bittet
Nietzsche ausgerechnet diesen, für ihn um Lous Hand anzuhalten. Sie lehnt ab, willigt
aber ein, mit den zwei Männern in einer Art Dreiecksgemeinschaft zusammenzuleben,
die vor allem Nietzsches Schwester aus der Fasson bringt. Seine Mutter nennt
ihn damals "eine Schande für das Grab seines Vaters". Wie verletzend
für Nietzsche die Situation ist, wie sehr sie ihm zu schaffen machte, bekannte er
selbst: "Die Affekte fressen mich auf. Ein grässliches Mitleid, eine
grässliche Enttäuschung, ein grässliches Gefühl verletzten Stolzes - wie halte
ichs noch aus... An jedem Morgen verzweifle ich, wie ich den Tag überdaure.” 1885,
innerhalb von zehn Tagen, schrieb Nietzsche den ersten Teil des Zarathustra
nieder, der Text entsteht als ihm selbst später kaum mehr leserliches Gekritzel,
das er auf seinen Wanderungen aufs Papier geworfen hatte. "Die Kürze, der verwünschte
Telegrammstil, zu dem mich Kopf und Auge nötigt, ist die Ursache."
Die
Figur des Zarathustra hatte ihn übrigens schon seit einiger Zeit beschäftigt, den
Namen, den er bereits in der "Fröhlichen Wissenschaft" verwendet
hatte, damals aber wieder gestrichen. Unzweifelhaft ist der erste Teil von
Nietzsches Werk eine versteckte Lebensbeichte, das Tagebuch eines Suchenden, eines
Einsamen - und im Gegensatz zu früheren wissenschaftlichen und - bedingt durch
seine zeitweise Schreibunfähigkeit - aphoristischen Werke vor allem ein Werk der
Poesie. Er selbst sagt bemerkenswerterweise, man dürfe den ganzen Zarathustra
vielleicht unter die Musik rechnen.
Doch
von was handelt nun dieser Zarathustra? Von der bangen Erkenntnis, dass die Vernunft
niemals voranschreitet? Davon, dass es keine Erlösung gibt? Fraglos lesen wir in
diesem Werk von seinen Spaziergängen in der Bucht von Rapallo und zwischen
Chiavari und Porto fino. Der umherirrende Weise, der aus der Einsamkeit kommt und
schließlich wieder dorthin zurück muss, weil er keine angemessenen
Gesprächspartner und nicht einmal Jünger findet, trägt ganz deutlich die Züge
seines literarischen Schöpfers. Andererseits werden im Zarathustra kaum äußere
Ereignisse behandelt; im Grunde ist alles Selbstreflexion, wobei im ersten Teil
die Einheit zwischen Autor und Protagonist deutlicher ist als in der zweiten Hälfte,
wo, nach der Lou-Enttäuschung, eine zunehmende Distanzierung stattfindet. Die
gerne falsch verstandene Formel vom "Übermenschen", an der er sich gewissermaßen
berauschte und die besonders im ersten Teil, während seiner Liebe zu der jungen
Baltin, häufig auftaucht, verschwindet allmählich. War sie nicht das Wunschbild
eines an unglücklicher Liebe Leidenden, eines verschmähten Kranken? Ohne Zweifel
sind es diese Erfahrungen des Jahres 1882, die in ihm das Bild des
Übermenschen, die Sehnsucht nach dem übermenschlichen wach werden ließen. Doch der
Versuch der Selbstüberwindung scheitert, am Schluss muss Zarathustra in seine
Gebirgshöhle, aus der er gekommen ist, zurückkehren - er ist im vollendeten Selbstbezug
angekommen: "Man erlebt endlich nur noch sich selber."
Schreibend
kämpft er nun gegen das Leiden an, wobei er sich insbesondere beim Zarathustra als
Stilist von höchsten Graden auszeichnet. Die dichterische Kraft dieses Buches besteht
dabei vor allem aus der geschliffenen Sprache und der knappen, vielfach
mehrdeutigen Spruchform, die natürlich dem Leser viel Interpretationsspielraum
lässt - was den Wert als literarisches und gedankliches Gesamtkunstwerk
keineswegs schmälert; die Grenzen zwischen Prosa und Poesie, Literatur und Philosophie
hat Nietzsche mit dem Zarathustra gewiss überwunden. Die Heftigkeit,
Kurzbündigkeit, z. T. auch Widersprüchlichkeit und Paradoxe machen es zu einem
der erregendsten Werke der Literatur überhaupt. "0 meine Brüder, bin ich
denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stoßen!" Spricht
da nicht die Stimme des Verstoßenen, der das Leben - wie wir alle - gerne nach
dem Takt seiner Peitsche tanzen lassen will? Und doch: jeder dieser Gedanken, dieser
Einsamkeitsstimmungen des Wanderers, auf der Suche nach Liebe, die er nie
erfahren hat, ist gewiss auch Selbstparodie und Ausdruck erschütternder
Selbstzweifel: "Selbstkenner, Selbsthenker. Der Mensch lebt nicht vom Brot
allein, sondern auch vom Fleisch guter Lämmer."
Interessanterweise
ist auch stilistisch das Lou-Erlebnis mit dem Zarathustra verbunden. Als sie aus
seinem Leben verschwindet, weicht die Spruchform mehr und mehr erzählerischen
Momenten. (Während die Beziehung zwischen Lou Salomé und Nietzsche wohl nicht
über das Platonische hinausgekommen war, entwickelte sich später zwischen ihr
und dem Dichter Rainer Maria Rilke eine langjährige Liebesaffäre - auch hier
mit literarischem Niederschlag: in zahlreichen Gedichten Rilkes findet sich ein
Echo dieser Beziehung, oftmals im Ton einer fast religiösen Anbetung, wie das
1897 entstandene „Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn” aus dem
Stunden-Buch belegt.)
Was
aber wollte Nietzsche mit seinem Werk, in welchem er das Leben verherrlicht, das
ihn selbst quält? Die Lächerlichmachung der Scheinwerte? Sicherlich ist das
Buch eine der schwersten Forderungen, mit denen man an die Menschheit herantreten
kann: im Gegensatz zu anderen verkündet sein Autor und entwirft er keine Zukunftssysteme,
und seine Wahrheiten — die eines Mannes, dessen Leben ein Martyrium ist — sind bitter:
ist Mitleid nicht das Kreuz, an das der genagelt wird, der die Menschen liebt? Die
platonische und christliche Metaphysik überbietet er durch die Rechtfertigung aller
Vergänglichkeit: "Und nur wo Gräber sind, gibt es auch Auferstehung."
Manche Passagen lehnen sich auch direkt an die Bibel an, die in Sätzen wie
“Selig sind die Schläfrigen, denn sie sollen bald einnicken” persifliert wird.
Ohne Zweifel schwingt in vielen Abschnitten dieses Buches Nietzsches Kritik am
Christentum mit, dessen Weltbild er so beschreibt: “Eines leidenden und
zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt.” (Mit dem christlichen Dogma der
Erbsünde ging Nietzsche einmal an anderer Stelle folgendermaßen zu Gericht:
„Christlich ist der Hass gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen
die Freude überhaupt…” und: „Der Priester herrscht durch die Erfindung der
Sünde”.) Im Zarathustra macht Nietzsche wahrlich aus seiner Verachtung der bigotten
Frömmigkeit, der Sünden- und Büßerdogmatik, die er insbesondere im Kapitel “Von
den Priestern” behandelt, keinen Hehl und stellt dem seine „zarathustrische“
Philosophie entgegen: “Und lernen wir, uns besser zu freuen, so verlernen wir
am besten, anderen weh zu tun oder uns Wehes auszudenken.” Das Übermenschliche,
von dem Nietzsche spricht, hat jedenfalls nichts mit Nationalismen, nichts mit
Politik und schon gar nichts mit Rassismus zu tun (seine Schwester hatte später
für eine derartige Interpretation seines Werkes gesorgt), sondern trifft ja
ganz im Gegenteil gerade auf das „Wesen nach dem heutigen Menschen“ zu, das
alle diese Ismen und auch die Dogmen der Ideologien und Gängelungen durch die
Religionen überwunden hat. Ist der Übermensch — gerne missverstanden als der
grausamere, stärkere, gefühllosere Mensch — nicht vielmehr der bessere,
glücklichere, positivere?
Fürwahr
bedeutet der Zarathustra das Erdbeben der Epoche, und als er beendet ist, befindet
sich Nietzsche in einem Hoch, das er nie vorher gekannt hatte — und nie mehr
danach erleben wird: er weiß, dass er mit diesem Werk, das er eine Symphonie
nennt, die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung geführt hat. Doch der Absturz,
wieder einmal, folgt bald. 1885 muss er gegen den Verleger des l .Teils prozessieren,
sucht schließlich einen neuen Verlag, doch niemand ist bereit, das Werk zu
drucken. Ernst Rohde, der ihn zu dieser Zeit trifft, notierte: "Eine unbeschreibliche
Atmosphäre der Fremdheit, etwas mir damals völlig Unheimliches umgab ihn... Als
käme er aus einem Land, wo sonst niemand wohnt."
Als
das Werk endlich eine breite Wirkung erfährt, schreibt Nietzsche (Ausdruck
beginnenden Wahnsinns oder schlichte Maskerade?): "Die nächsten Jahre steht
die Welt auf dem Kopf; nachdem der alte Gott abgedankt hat, werde ich von nun
an die Welt regieren."
Als
er dann in Turin auf der Piazza Carlo Alberto sieht, wie ein Kutscher ein Pferd
prügelt, wirft er sich dem geschundenen Tier um den Hals, tränenüberströmt. War
das der endgültige Zusammenbruch oder nur der lange aufgestaute Ausdruck seiner
Liebe? (Jean Paul: "Was aber Liebe ist, das weiß die Philosophie
nicht.") Zehn Jahre noch lebt Nietzsche, von seiner Schwester gepflegt, in
geistiger Umnachtung. Seinen Zarathustra kann man dutzende Male lesen und wird
sich dabei stets von neuem klar: man vermag ihm nicht nachzufolgen, ihn nicht
zu erreichen. Nicht zuletzt mit dem Zarathustra wurde Nietzsche zum Erneuerer
der deutschen Sprache, als deren unübertroffener Meister er sich hier erwies.
Und fürwahr ist dies eines der größten poetischen Werke, die je ein Mensch
hervorgebracht hat. Noch mehr als in seinen anderen Schriften finden wir im
Zarathustra eine nicht immer für den Leser zu durchschauende Synthese aus
Ironie und Pathos, tiefstem Ernst und Lachen.
Über
Nietzsche existieren in mehr als dreißig Sprachen über viertausend Schriften — und
doch, so Martin Heidegger, hat die Auseinandersetzung mit ihm nicht einmal
begonnen.
0
Mensch! Gib acht!
Was
spricht die tiefe Mitternacht?
Ich
schlief, ich schlief -
Aus
tiefem Traum bin ich erwacht!
Die
Welt ist tief,
Und
tiefer als der Tag gedacht.
Tief
ist ihr Weh -,
Lust
- tiefer noch als Herzeleid;
Weh
spricht; vergeh!
Doch
alle Lust will Ewigkeit -
Will
tiefe, tiefe Ewigkeit.
(Friedrich
Nietzsche)
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