Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 19.10.09 |
Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt (S. Fischer): 2008. 727 Seiten. EURO (D) 29,90. ISBN: 3100751191.
von Daniel Krause
Reiner
Stach hat sein Leben als Forscher und Autor Franz Kafka gewidmet –
mit einer Ausschließlichkeit, wie sie sonst nur Klaus Wagenbach
aufbrachte. Stachs monumentale Lebensbeschreibung, deren zweiter
Band: Die Jahre der
Erkenntnis jüngst
erschienen ist – und ähnlich enthusiastisch
besprochen wurde wie der erste: Die
Jahre der Entscheidungen
–, ist nicht sein erstes Verdienst um die Kafka-Forschung: Reiner
Stach hat den Nachlass von Felice Bauer, Kafkas Braut, entdeckt
und 1999 der staunenden Weltöffentlichkeit
präsentiert.
Am
bemerkenswertesten aber ist dies: Stach ist der erste eigentliche
Biograph Franz Kafkas. Vor ihm hat keiner den Versuch gemacht,
eine umfassende Lebensbeschreibung des wirkungsmächtigsten
– und popkulturell einflussreichsten –
Schriftstellers des 20. Jahrhunderts zu erstellen. Ob diese
eigentümliche Enthaltsamkeit der schreibenden Zukunft je
zureichend erklärt werden kann, steht dahin. Vielleicht
spielt dies eine Rolle: Kafkas Texte sind die am häufigsten
interpretierten.
Die Bibel und Shakespeare mögen auszunehmen sein, ansonsten
aber hat kein Korpus solchen hermeneutischen Furor ausgelöst.
(Längst schießen die Interpretationen ‚zweiter
Ordnung’ ins Kraut: Sie interpretieren die mangelnde
Interpretierbarkeit Kafkas.) Wenn nun verbindliche Aussagen über
die Person Kafkas getroffen worden wären, ihre Absichten und
darüber, welches nicht
ihre Absichten waren, so hätte die Freiheit des deutenden Wortes
– womöglich – gelitten. Allzu deutlich wäre
hervorgetreten, dass viele wissenschaftliche wie
feuilletonistische Äußerungen geistreich und klug sein
mögen, eines allerdings nicht: zutreffend und richtig – wenn
‚richtig’ bedeutet, dass sie den Absichten des Autors
entsprechen.
Der
schiere Umstand, dass dieses Buch existiert, ist demnach höchst
bemerkenswert. Darüber hinaus ist Stachs
ideologiefreier Zugang zum Werk wie zur Person Kafkas zu rühmen.
Stach vertraut nicht Theorien, am wenigsten den tiefenpsychologischen
– sie wurden an Kafka zahlreich erprobt –, sondern dem
eigenen, in jahrzehntelanger Arbeit am Quellenmaterial
geschulten Urteilsvermögen. Dabei ist er nicht
der Illusion verfallen,
ein kontextfreier Blick auf den Autor sei möglich oder auch nur
wünschenswert. Kafkas Vita wird konsequent in
gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet. So
gelingen suggestive, kenntnisreiche Sittenbilder des beginnenden
20. Jahrhunderts. Besondere Aufmerksamkeit wird Kafkas agnostischem
Judentum, einschließlich der gründlichen
Hebräisch-Studien, zuteil, und mehr noch dem Weltkrieg. Stach
ist unter den Ersten, die dem Krieg und dessen Weiterungen, darunter
dem Zusammenbruch der habsburgischen Monarchie, das gebührende
Gewicht beimessen. Der Erste Weltkrieg ist das europäische –
mehr noch: mitteleuropäische und österreichische –
Zentralereignis in der Lebensspanne Kafkas, mit offensichtlichen
Auswirkungen auf die Person und – weniger offensichtlich – auch
auf das Werk. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie verlor Kafka seine
österreichische Staatsangehörigkeit und, von Berufs wegen,
die ‚Muttersprache’, denn künftig waren die Geschäfte
der Arbeiter-Unfallversicherung in tschechischer
Sprache abzuwickeln. Stach weist weiters darauf hin, dass Kafka nach
dem Kaiser, Franz
Joseph, benannt worden war (175), und sich die sterbenden
Kaiserfiguren in seinem Werk (Eine
Kaiserliche Botschaft
etc.) häufen – just in den Monaten nach Franz Josephs Tod. Vor
allem aber: Kafka war körperlich affiziert von den Hungerwintern
der Kriegszeit, und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre, samt
mangelhafter medizinischer Versorgung, haben seinen körperlichen
Verfall befördert. Die Schilderungen des Kriegsgeschehens
und Kafkas täglichen Umgangs mit psychisch und physisch
Kriegsversehrten gehören zu den eindringlichsten Passagen des
Buches.
Ganz
selten möchte man protestieren, wenn etwa Österreich –
das seine besten Zeiten längst hinter sich hatte – als
„Parvenu[s]“ unter den Großmächten des 19.
Jahrhunderts firmiert (9). Wenn einer tausende Seiten schreibt –
und vorab tausende Seiten verarbeiten musste – sind solche
Flüchtigkeiten nicht zu vermeiden. Die imponierende
Leistung im Ganzen verbietet Mäkeleien im Detail – umso mehr,
als viele Einzelheiten sich lehrreich und erhellend darstellen:
Wer hätte gedacht – um irgendein Beispiel zu geben –,
dass Kafka Napoleon, Franz Grillparzer, den klassischen Dramatiker
Österreichs, und mehrere galizische Wunderrabbis aus
denselben Gründen
verehrte: weil sie dem eigenen Gesetz gefolgt, sich selber treu
geblieben seien (135).
Ein
anderer möglicher Einwand hat größeres Gewicht: Nicht
selten wurde angemerkt, Reiner Stach verfahre essayistisch.
Seine Prosa habe selber literarischen Rang. Darin liegt nun auch
eine Gefahr: Neben den zahlreichen Kafka-Zitaten muss Reiner
Stachs Duktus notwendigerweise hölzern und holprig scheinen.
Neben gängiger Wissenschaftsprosa aber: geschmeidig,
lebhaft und – lesbar.
Zuletzt: Reiner Stach bringt den selten
gewürdigten Umstand zur Geltung, dass Kafkas Angehörige und
Freunde unter der deutschen Besatzung in großer Zahl umgebracht
wurden und Kafka selbst – zumindest – in die Emigration gezwungen
worden wäre:
„Alle drei Schwestern Kafkas starben in
Gaskammern, Elli und Valli in Chelmno, Ottla in Auschwitz. Kafkas
Onkel Siegfried Löwy, der Landarzt, entzog sich der drohenden
Deportation durch Suizid. Ellis Sohn Felix starb wahrscheinlich
in einem französischen Konzentrationslager. Marie
Wernerová, die den Kafkas jahrzehntelang als Haushälterin
gedient hatte, wurde ebenfalls deportiert und kam nicht mehr zurück.
Von den vier Frauen, mit denen Kafka die intensivsten Beziehungen
einging, starben zwei in Konzentrationslagern: Julie Wohryzek wurde
in Auschwitz getötet, Milena Jesenská starb als
politischer Häftling in Ravensbrück. Auch Grete Bloch
wurde in Auschwitz ermordet. [...] Kafka [...] hätte nach
dem Ende dieser zivilisatorischen Katastrophe nichts mehr
wiedererkannt. Seine Welt gibt es nicht mehr. Nur seine Sprache lebt
(618ff).“
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