Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 19.10.09 |
von Daniel Krause
Cioran
Es herrscht kein Mangel an
musikwissenschaftlichen Abhandlungen. Anders verhält es sich mit
Musik-Philosophie:
Zeitgenössische Ästhetik befasst sich viel eher mit
Bildender Kunst und Literatur. Sollte die viel beschworene
Sprachferne aller Musik – aller guten
Musik – deren theoretische ‚Zurichtung’ erschweren? Ist
Philosophie über Musik am Ende unmöglich? Nicht ganz:
Das 19. Jahrhundert hat mehrere gehaltvolle Musikphilosophien
hervorgebracht. Vor allem Schopenhauer und Nietzsche sind zu nennen.
Ihre Interventionen tragen den Stempel des Genies und scheinen
beglaubigt durch die Kraft ursprünglichen Erlebens. Wie armselig
nehmen sich jene ‚Musikphilosophien’ aus, die ‚aus
Verlegenheit’ entstehen, als Lückenbüßer
innerhalb eines Systems der Ästhetik: In musikalischen
Belangen sind Kant und Hegel wahre Philister.
Im 20. Jahrhundert begegnen kaum
irgendwelche ‚Musikphilosophen’. Gewiss, da ist Adorno. Doch was
marxistisch, ‚dialektisch’, ist an seinen Schriften, erscheint
veraltet. So gibt es recht besehen gibt es keinen, der E. M. Cioran,
dem letzten Gnostiker, dem Aphoristiker, Hysteriker und
Meisterdenker der Musik, das Wasser reichen könnte. Nicht,
dass er viel
geschrieben hätte. (Geschwätzig war er nie, er liebt
Prägnanz und Kürze. Darum galt er als bester Stilist der
Franzosen.) Allein, wir verdanken ihm manche der einsichtsvollsten,
prägnantesten Bonmots zur Musik. Lassen wir einige Prägungen
E. M. Ciorans Revue passieren.
Wie alle, denen Musik am Herzen
liegt, ist Cioran durchdrungen von der Erfahrung,
dass Musik an ‚ontischer’ Potenz der Philosophie und allen
Wissenschaften überlegen ist:
« Les idées
sont des mélodies defuntes. » (490)
[„Ideen sind abgestorbene
Melodien.“ Zitiert nach der französischen Gesamtausgabe bei
Gallimard, Paris 1995. Übersetzung Daniel Krause.]
Der Philosophie will es nicht recht
gelingen, den ‚metaphysischen’ Vorrang der Musik vergessen zu
machen. Selten wurde das so geistreich auf den Punkt gebracht:
«À
quoi bon fréquenter Platon, quand un saxophone peut aussi bien
nous faire entrevoir un autre monde.» (Ebd.,
797)
[„Weshalb sich mit Plato befassen,
wenn uns auch ein Saxophon eine andere Welt ahnen lässt.“]
Cioran bestimmt die ‚Diskursform’
der Musik – und die Gründe ihrer Überlegenheit:
«La
méditation musicale devrait être le prototype de la
pensée en général. Quel philosophe a jamais
suivi un motif jusqu’à son épuisement, à son
extrême limite? Il n’y a de pensée exhaustive
qu’en musique. Même après les philosophes les plus
profonds, on éprouve le besoin de recommencer à zéro.
La musique seule nous donne des réponses définitives.»
(Ebd., 313f)
[Alles Denken sollte dem Muster der
musikalischen Kontemplation folgen. Welcher Philosoph hätte je
ein Motiv vollständig ausgeschöpft, bis zur äußersten
Grenze? Nur in der Musik findet wahrhaft erschöpfendes Denken
statt. Selbst wenn man die tiefgründigsten Philosophen gelesen
hat, empfindet man das Bedürfnis, von Grund auf neu anzusetzen.
Nur die Musik gibt uns endgültige Antworten.]
Nicht allein Philosophie und
Theologie werden in die Schranken gewiesen – Gott selbst bezieht
seine raison d’être aus der Musik. Cioran fasst eine
musikalische Theodizee und Kosmogonie ins Auge:
«Sans
Bach, la théologie serait dépourvue d’objet, la
Création fictive, le néant péremptoire. S’il y
a quelqu’un qui doit tout à Bach, c’est bien Dieu.»
(Ebd., 797)
[Ohne Bach würde der Theologie
ihr Gegenstand fehlen: die eingebildete Schöpfung und das
allumfassende Nichts. Wenn es jemanden gibt, der Bach alles verdankt,
so ist es Gott.]
Cioran, der Sohn eines Popen, als
Gotteslästerer? In Wahrheit ist er ein kraftvoller Denker
religiöser Ekstase, Teresa von Avila seine liebste Lektüre.
Es trifft nicht eigentlich zu, dass Cioran die Musik über
oder neben die
Religion stellt – Musik und Religion ist es um ein
und dasselbe zu tun. Das
Universum selbst stellt sich als Klanggebilde dar:
«La
nostalgie de la mort élève l’univers entier au rang
de la musique.» (Ebd.,
451)
[Die Sehnsucht nach dem Tode erhebt
das Universum in den Rang der Musik.]
Hier scheint die pythagoreische
Weltenharmonie durch, wiewohl in den herbstlichen Farben eines
radikalen, grundstürzenden ‚Pessimismus’. Doch so düster
diese Zeilen klingen – sie enthalten – beinahe – einen
Gottesbeweis:
«Il y
eut un temps où, ne pouvant concevoir une éternité
qui m’eût séparé de Mozart, je ne craignais
plus la mort.» (Ebd.,
798)
[Es gab eine Zeit, da ich den Tod
nicht mehr fürchtete: Ich konnte mir eine Ewigkeit ohne Mozart
nicht vorstellen.]
Mit Cioran ist Musik per se
religiös, metaphysisch bestimmt – ganz gleich, ob im
weltlichen oder geistlichen ‚Fach’. Es bedarf keiner liturgischen
Indienstnahme oder erbaulicher Texte. Sonaten und Opern entfalten
dieselbe transzendierende Kraft wie Oratorien und Choräle:
«Il
n’y a au fond de musique que religieuse. Dans son sens ultime, la
musique ne peut pas être l’organe d’expression de ce monde.
De même: il n’y a au fond de musique que triste. […]»
(Ebd., 246)
Cioran führt beide Perspektiven
zusammen, in einem funkelnden Bonmot:
«La
musique, système d’adieux, évoque une physique dont
le point de départ ne serait pas les atomes, mais les
larmes.» (Ebd.,
798)
[Die Musik ist ein endloser
Abschied: Sie ruft eine Physik in uns auf, die nicht auf Atomen
gründet, sondern auf Tränen.]
Das ist gewiss keine neue Erkenntnis
(wenngleich wie neu formuliert): Ein viel zitiertes Aperçu
Franz Schuberts besagt, er kenne keine fröhliche Musik. Zwar
gibt es Humor
in der Musik, besonders bei Haydn: Das reicht vom derben ‚Furzen’
des Fagotts zu süffisanten harmonischen Wendungen und – nicht
zuletzt – zur Parodie kompositorischer Einfalt. (Das bekannteste
Beispiel ist Mozarts Ein
musikalischer Spaß,
KV 522. Hier werden dümmliche Komponisten aufs Korn
genommen.) Auch gibt es heitere
Stimmungen, speziell in
jenen Sätzen, die mit ‚Allegro’ oder ‚Andante’
überschrieben sind. Doch Fröhlichkeit?
Man müsste bis Rosamunde
hinabsteigen (nicht
Schuberts Rosamunde
ist gemeint...). Ob ihre schenkelklopfende Lustigkeit nicht
zugleich die Traurigkeit der Depravation verströmt, wie
alle Schlager und volkstümlichen Lieder – es mag an dieser
Stelle offen bleiben.
Ciorans erste Leidenschaft gilt
Bach, aber als Kronzeuge fürs ‚Geistige in der Musik’ gilt
ihm auch Bachs Antipode: Keiner hat Erhellenderes über Mozart
geschrieben, Busoni, Alfred Einstein, Wolfgang Hildesheimer
eingeschlossen. Ein schlimmes Versäumnis, dass im
„Mozart-Jahr“ 2006 allerhand Bücher und Büchlein
neu aufgelegt wurden – nicht aber Ciorans Schriften:
«Il
se dégage de certains andantes de Mozart une désolation
éthérée, et comme un rêve de funérailles
dans une autre vie.» (Ebd.,
798)
[Manches Andante von Mozart
verströmt eine ätherische Trostlosigkeit, als träumte
es von Begräbnissen im anderen Leben.]
Mozart und Bach bilden die
Angelpunkte des musikalischen Weltbilds und Wertesystems E. M.
Ciorans. Trotzdem vermag er, sich anders geartete Musik
anzuverwandeln. Sie nimmt dann, unvermeidlich, das triste „Violett“
Cioranschen ‚Weltschmerzes’ an:
«Chopin
a promu le piano au rang de la phtisie.» (Ebd.,
798)
[Chopin hat das Klavier in den Rang
der Schwindsucht befördert.]
Kein Zweifel: Wer seine
Art von Musikalität nicht teilt, wird Ciorans Schriften –
ihrem Gehalt nach – ablehnen müssen. In der
‚Außenperspektive’ scheinen Ciorans Schriften
hochgradig idiosynkratisch, extravagant. Man kann sie in toto
verwerfen – oder, von vornherein, einverstanden sein. Eines ist
aber in jedem Fall zuzugestehen: Unter allen ‚Musikschriftstellern’
ist Cioran der größte Stilist. Solche Verdichtung,
Prägnanz und Genauigkeit – Musikalität
– ist selten, sonst nie, anzutreffen. Das wird jeder
Leser, auch der Gegner, anerkennen. Auf den Klang
der Sätze kommt es
an:
„Ideen sind abgestorbene
Melodien.“
Celibidache
Ein anderer Rumäne, geboren
1912 – wie E. M. Cioran – hat Ähnliches vertreten, in
ähnlich idiosynkratischer, allerdings nüchternerer Form.
Musik ist Sergiu Celibidache das Medium des Absoluten. (Das einzige.)
In Anlehnung an Edmund Husserl und
dessen Phänomenologie – der ‚Lehre von den Phänomenen’,
d.h. den ‚Bewusstseinsinhalten’ – hat Celibidache ein Vokabular
etabliert, das es gestattet, das ‚Geistige in der Kunst’ zu
erfassen: Musik besteht nicht aus Tönen, sondern aus deren
Beziehungen. Sie „transzendiert“ den Klang, ist demnach
nicht ‚hörbar’.
„Bei einer Reihe von klanglichen
Wahrnehmungen verschwindet jede einzelne Erscheinung und es
entsteht die Frage: Was bleibt? Was bleibt, ist die Beziehung, die
nur durch Transzendenz erfahrbar ist. Der transzendierende
Geist ist weder bei dem ersten Glied einer Relation, noch bei dem
zweiten, sondern er überschreitet alle beide und eignet sich die
Essenz ihrer […] Beziehung an.“ (Sergiu Celibidache: „Über
musikalische Phänomenologie“, München 1985, 27)
Musik entfaltet sich als
Wechselspiel zweier gegenläufiger Tendenzen: „Expansion“
und „Kompression“, „extroverter“ und „introverter“ Kraft.
Diese Ausdrücke lassen sich näherungsweise durch
‚Anspannung’ und ‚Entspannung’, ‚Kadenz’,
übersetzen. Der eine Augenblick extremster Anspannung muss
als der Höhepunkt jeder Komposition gelten:
„Wie weit kann die Expansion sich
ausdehnen? Bis sie sich nicht weiter ausdehnen kann! Dieser […]
Punkt jeder expansiven Entwicklung heißt der ‚Höhepunkt’.
Dieser Wendepunkt, wo die extroverte Richtung der Expansion in die
introverte umschlägt, ist der […] Angelpunkt, um welchen sich
jede Form von musikalischer Architektur funktionell gliedert.“
(Ebd., 45)
Das Zusammenhang von „Expansion“
(Differenz, Distanz zur Grundtonart) und „Kompression“
(Identität, Wiederholung, Rückkehr zur Grundtonart)
beschreibt das Universalgesetz aller Musik – so Celibidache –,
gleich, ob es sich um Palestrina handelt oder Alban Berg. Beim
Variationen- wie beim Sonatensatz wird dieses Widerspiel offenkundig,
doch auch die Fuge, selbst Schönbergs Reihentechnik wären
zu nennen. Zumal die Themen Brahmsscher Sinfonien erscheinen
nicht als in sich abgeschlossene Gestalten, sondern – im Sinne
„entwickelnder Variation“ – als ‚Knoten’ von
Entwicklungsmöglichkeiten. Dichte beziehen solche Themen
aus der Anzahl künftig einzulösender
Variationsmöglichkeiten, als Katalysator eines möglichst
komplexen Entwicklungszusammenhangs. (Die dichteste solcher Texturen
ist Brahms mit dem ersten Satz seiner Vierten Sinfonie gelungen.)
Nicht zufällig zählt Brahms neben Bruckner, Haydn und
Beethoven zu Celibidaches musikalischen Hausgöttern.
Dies Sicht auf Musik mag dazu
verhelfen, eine Merkwürdigkeit der Musikpsychologie zu
verstehen: Bachs „Goldbergvariationen“ sind weder das
bekannteste noch das beliebteste Werk der Musik, als eigentlich
„gelungen“ gelten sich ebenso wenig – Glenn Gould konnte
ungestraft behaupten, manches darin gehöre zum Dümmsten,
was Bach geschrieben habe –, aber kaum irgendwelche Musik wird so
innig geliebt: In Umfragen firmieren die „Goldbergvariationen“ –
von niemand anderem als Gould vorgetragen – als jenes Werk der
Musik, das Hörern am meisten am Herzen liegt. Es handelt sich,
unzufälligerweise, um eine Variationenfolge: Hier liegt jenes
Formprinzip vor, das Differenz und Identität, „Expansion“
und „Kompression“ – und damit das Gesetz das Atems – am
eindringlichsten formuliert (nicht weniger als
einunddreißig Mal). So verwundert es nicht, dass E. M. Cioran
die „Goldbergvariationen“ als „über-essentielle“ Musik
bezeichnet: Musik, die hinsichtlich ihres ontischen Reichtums
„überdeterminiert“ scheint – und darum die halb
bewusste Liebe der Hörer weckt.
Zum Schluss
E. M. Cioran und Sergiu Celibidache
helfen gleichermaßen, solche Zusammenhänge
verstehen. Deswegen ist es geboten, beide zu lesen – und 1912 als
annus mirabilis zu verehren.
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