Erschienen in Ausgabe: No 45 (11/2009) | Letzte Änderung: 23.10.09 |
Richard David Precht, Liebe. Ein unordentliches Gefühl, Goldmann Verlag, München (März 2009), 397 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3442311845, ISBN-13: 978-3442311842, Preis: 19,95 EURO
von Heike Geilen
"So wichtig sie
uns ist, in der abendländischen Philosophie gilt die geschlechtliche Liebe seit
Platon als U-Musik.", schreibt Richard David Precht, der nach seinem
Bestseller "Wer bin ich und wenn ja, wie viele?" ein weiteres
philosophisches Buch für Jedermann vorlegt. Doch dieses Mal begibt er sich
nicht auf einen weitschweifigen Parcours, sondern er konzentriert sich
ausschließlich auf ein Thema, ein Sujet, das er bereits in seinem vorangegangen
Buch kurz anriss - die Liebe.
Entgegen der meisten seiner Vorgängerkollegen aus der
philosophischen Zunft, die den Menschen über seine Vernunft definierten und
dieses phänomenale, kostbare Gefühl, diesen wunderbaren, aber manchmal so
verwirrenden und komplizierten Bewusstseinszustand als einen Unfall "mit bedauerlichen Folgen für den
umnebelten Verstand" disqualifizierten, ist es Precht beinahe 400
Seiten wert darüber zu plaudern, zu analysieren, zu hinterfragen, zu
spekulieren, zusammenzutragen, abzuwägen, vorzustellen und vor allem
nachzudenken. Schließlich verfügt kein anderes Lebewesen über so viele Quellen
der Empathie und Liebe wie der Mensch.
"Die Liebe ist
das vielleicht wichtigste Thema an der Schnittstelle von Natur- und
Geisteswissenschaft. Sie erschließt sich weder durch Logik noch durch eine
philosophische 'Letztbegründung'.", bemerkt der Autor. Was ihn jedoch
nicht dazu bewegt, den Statistikern das Feld zu überlassen. Precht stellt sich
der enormen Herausforderung und plaudert mal charmant und witzig, dann wieder
lehrreich und philosophisch, aber nie oberflächlich, über das so wundervoll
Illusionäre wie die Liebe. Erneut ist ihm der Spagat zwischen Wissenschafts-
und Populärlektüre gut gelungen, dieses Mal eindeutig tiefgründiger, als in
"Wer bin ich und wenn ja, wie viele?".
Liebe - ein
ornamentaler "Spandrel" von atemberaubender Schönheit und Komplexität
Wiederum hat er sein Buch in drei Teile gegliedert.
Zunächst unternimmt der Autor einen Abstecher in die
Evolution. Precht untersucht die Fundamente, "auf denen die heute so populären Theorien von den verschiedenen
biologischen Interessen und Ausrichtungen von Mann und Frau stehen."
Welche Programme verfolgen die Gene? Was ist geschlechtertypisches
Sexualverhalten? Funktionieren die Gehirne von Mann und Frau unterschiedlich?,
sind nur einige Fragen, die der Autor zu beantworten versucht.
Der zweite Teil handelt dann tatsächlich von der Liebe
selbst. Zunächst aus biologischer Sicht: Was trennt Liebe von Sex? Welchen
natürlichen Ursprung hat Liebe? Was passiert in unseren Gehirnen, wenn wir
lieben?
Im dritten Teil geht es dann um die persönlichen wie um die
gesellschaftlichen Möglichkeiten und Probleme mit der Liebe heute. Warum ist
uns die romantische Liebe so wichtig geworden? Die liebe Familie - Was davon
bleibt und was sich ändert. Oder: Gibt es im heutigen Konsumzeitalter überhaupt
noch "echte" Liebe?
Letztendlich, so vermutet der Autor, könnte man bei diesem
alles andere als ordentlichem Gefühl von einem "Spandrel" ausgehen,
ein Fachbegriff, der biologisch nicht überlebensnotwendige Eigenschaften,
Fähigkeiten oder Merkmale bezeichnet, sei es nun der menschliche Blinddarm oder
aber auch die Religiosität. Die Liebe, sei sie auch nur eine eigenständige
Größe ohne biologisch eindeutige Funktion, ist auf jeden Fall ein ornamentaler
Spandrel von atemberaubender Schönheit und Komplexität. Und unbestritten sind
die folgenden Aussagen Prechts: "Wer
sich auf einen anderen Menschen einlässt, wer sich ihm seelisch 'hingibt', der
erweitert seinen Horizont und ersetzt seinen Wirklichkeitssinn durch
Möglichkeitssinn. (...) Liebe ist nicht alles im Leben; aber ohne Liebe ist
alles nichts."
Fazit:
"Liebe. Ein unordentliches Gefühl" offenbart sich
weder als Beziehungsratgeber der herkömmlichen Art, noch vermittelt es Seite
für Seite gute Ratschläge oder verteilt Tipps für den Alltag zu zweit. Aber
dieses amüsante und gleichzeitig philosophisch gedankenreiche Buch kann
vielleicht dazu beitragen, sich über ein paar Dinge bewusster zu werden, die
vorher unklar waren. Sei es das eigene geschlechtliche und soziale
Rollenverhalten oder aber ganz persönliche als selbstverständlich und normal
eingeschliffene Reaktionen. Denn "genau
darin", meint Richard David Precht, "liegt heute der Sinn von Philosophie. Sie fördert keine großen
Wahrheiten mehr zu Tage, sondern sie macht, bestenfalls, neue Zusammenhänge
plausibel." Dies ist dem Autor zweifelsohne gelungen.
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