Erschienen in Ausgabe: No 42 (8/2009) | Letzte Änderung: 29.10.09 |
Willi Achten, Die florentinische Krankheit, Edition Köln (September 2008), 416 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3936791570, ISBN-13: 978- 3936791570, Preis: 19,95 EURO
von Heike Geilen
Kunst und Wahn
Florenz, das sind Santa Maria del Fiore - der Dom, Michelangelos
David, die Uffizien, Ponte Vecchio und Palazzo Pitti. Laut einer
UNESCO-Statistik besitzt Italien etwa 60 Prozent aller bedeutenden Kunstwerke
der Welt; rund die Hälfte davon befindet sich in Florenz. Nirgendwo liegen
Kunstgenuss und Lebenslust so nah beisammen. Das lässt jedes Jahr rund sechs
Millionen Besucher in die Kulturhauptstadt Europas pilgern. Willi Achten hat
seinen Roman "Die florentinische Krankheit" hier angesiedelt.
Doch allzu leicht wird diese Stadt unterschätzt. "Immer schon täuschen uns Namen.",
erzählt ein Protagonist im Buch erzählen, "Florenz
oder Florentina, so hieß die Stadt noch bei den Römern, da denkt man an Flora, die Göttin der Blumen und Gärten, die Mutter
des Frühlings. Der Name beschwört die Vorstellung von Damen, die in Hotelgärten
zarte Aquarelle aufs Papier bringen. (...) In Wahrheit ist die Stadt hart. Sie
hatte von jeher dunkle Seiten, welche die Besucher sich hartnäckig anstrengen
zu leugnen. (...) Florenz ist auch die Stadt der Rache. Und die kennt viele
Methoden (...) Immer schon gab man sich hier zwischen all der Kunst ungeniert
Grausamkeiten hin. Vielleicht ist das Abscheuliche nur die Kehrseite des
Schönen." So hielt die Stadt von den späten 60ern
bis in die 80er Jahre eine Serie von Ritualmorden an Liebespaaren in Atem. Ähnliche
Morde geschehen auch in Willi Achtens Roman. Die Opfer sind allerdings Frauen, denen
bestimmte Körperteile amputiert werden, offensichtlich animiert durch spezielle
Motive der Malerei. Franz Gerber, ein deutscher Neurologe, der ein
Schlafentzugsprojekt begleitet, gerät unter Verdacht.
Farbenhören,
Stimmenriechen
Ist "Die florentinische
Krankheit" ein Krimi?
Teils, teils, denn der außergewöhnlich
vielschichtige Roman des Autor bedient noch weitere Genre. In erster Linie
offenbart er eine schamlose, exzessive, zerstörerische, ja kranke Liebesgeschichte. Denn Gerber sucht in dieser Stadt nach seiner
ehemaligen Geliebten - Sophia, eine Kunsthistorikerin. Während er durch die Gassen
schlendert, liest er immer wieder in deren Dissertation und Tagebuch, das in
seinem Besitz ist und das als Wegweiser fungiert. So erschließt sich ihm - und
gleichfalls dem Leser - die erotische Ausstrahlung der Bilder und
Skulpturen, von denen Florenz so übervoll ist. Auf Sophias Spuren wird er
überflutet von den Reizen der Stadt. Zunehmend gleitet er ab in irrlichternde,
alptraumhafte Halluzinationen. Ist Gerber dem Stendhal-Syndrom verfallen? Jenem
Phänomen, von dem der französische Schriftsteller 1817 als erster berichtete,
das sich mit Herzrasen, Schwindel und Verwirrung bemerkbar macht und bis heute immer
wieder verstörte Touristen in die Psychiatrie einliefern lässt?
All diese außergewöhnlichen "Florenz-Syndrome"
haben Willi Achten zu einem multiplen Roman - einer Mischung aus Stadtführer
und Krimi, Kunst- und Liebesgeschichte - inspiriert. Dabei nimmt er den Leser
an die Hand, schlendert mal langsam und bedächtig, dann wieder rasend und
gehetzt durch die Straßen der toskanischen Stadt. Die nahezu authentische Melange
aus visuellen, akustischen und olfaktorischen Reizen, ein Farbenhören und
Stimmenriechen, versetzt den Leser fast wahrhaftig an den Ort des Geschehens
mit seinen Reizüberflutungen.
Hinzu kommt ein Vermischen von drei Zeitebenen: Gerbers Romanze
mit Sophia, die beinahe paranoide Suche nach ihrem Verschwinden und seine letztendliche
"Endstation" auf der psychiatrischen Station von Santa Maria Nuova. Namen
und Orte überschneiden sich immer wieder. "Es
sind die Details, die uns verrückt machen...", berichtet Gerbers
Psychotherapeutin. Der Autor vermag derartig suggestiv zu schreiben, dass man
meint, selbst von dieser neurologischen Überreizung und einem Gefühl der
Irrealität betroffen zu sein. Vielleicht, weil manchmal "das Leben so bizarr und exzentrisch wie die Kunst" ist.
Doch Willi Achten verknüpft die vielen Einzelheiten faszinierend zu einem
erstaunlichen Ganzen, bei dem alles mit allem zusammenhängt.
Fazit:
"Die florentinische Krankheit" offenbart eine
bizarre, undurchsichtige Allianz aus Vergessen und Erinnern, Verlust und
Schmerz in der Liebe, Kunstgenuss und krankhafte -manie, Zufall und Schicksal.
Es ist ein Roman
voller Versteckspiele und doppelter Böden, bei dem man zeitweise nicht mehr
weiß, wo die Wachheit endet und Schlaf und Traum beginnen. Willi
Achten webt einen brillanten Teppich aus imaginären und teilweise
surrealistischen Sinnesreizen, Bildung und Spannung par excellence, in einer Stadt, die alles zu
binden scheint und "die Welt im Raum verschwinden lässt".
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