Erschienen in Ausgabe: No 47 (1/2010) | Letzte Änderung: 21.01.10 |
Mirko Bonné, Wie wir verschwinden, Schöffling & Co., Frankfurt am Main (Februar 2009), 344 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3895614033, ISBN-13: 978-3895614033, Preis: 19,90 EURO
von Heike Geilen
"Wie wir verschwinden" - der Titel des vierten
Romans des Hamburger Schriftstellers Mirko Bonné ist mehrdeutig. Verschwinden?
Wohin? Wer? Und warum? Verschwinden - ein Wort, das vielschichtig gedeutet
werden kann. Davonlaufen, sich fortstehlen, abhanden kommen, nicht mehr
vorhanden sein oder sich entfernen, sind nur ein paar Synonyme, die dazu
einfallen. Und alle treffen sie mehr oder weniger auf die im Buch agierenden
Personen und/oder deren Gefühle und Empfindungen zu.
Zudem scheint der Tod, das Sterben, ein alles verbindendes
Element zu sein. Dies klingt ziemlich düster, schwarz und destruktiv. Aber
nicht so Bonnés Erzählung. In seiner Grundstruktur ist "Wie wir
verschwinden" ein durch und durch optimistischer Roman. Der Autor selbst: "Es geht auch darum, einem älteren
Menschen wieder Spaß am Leben haben zu lassen. Es geht im Grunde darum, ihn
dazu zu bringen, die Geschichte seiner Kränkungen, Verletzungen und all diesen
Dingen, die ihm das Leben vermiest haben, zu überwinden."
Gekränkt und verletzt ist auch der Ich-Erzähler Raymond
Mercey, ein frühpensionierter 63-jähriger Witwer, der sich von einer
Herzerkrankung erholt. Als er nach längerem Klinikaufenthalt zu Hause
eintrifft, erwartet ihn ein Brief seines ehemaligen besten Freundes Maurice
Ravoux, inzwischen Schriftsteller im letzten Stadium einer unheilbaren
Lateralsklerose, der ihn nach "46
Herbste[n], 46 Winter[n] und eine[m] Jahrhundertsommer" um Verzeihung
bittet. Doch Raymond, seit dem Tod seiner Frau Veronique apathisch und
depressiv, kann nicht verzeihen. "Wen
kümmert schon wirklich die Seelenpein eines anderen. Eine Fehlfunktion von
Gehirn und Neurotransmittern. Wen kümmerte die meine? Einen, so schien es, der
im Sterben lag, den ich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber hatte
mich deshalb auch gleich seine Seelenfehlfunktion zu kümmern?"
Hervorgerufen wurde diese Verletzung durch einen Verrat. "Wir hatten jahrelang einen gemeinsamen
Traum gehabt, aber diese Jahre, vier oder fünf, waren mittlerweile zehnmal
solange Vergangenheit. Der Traum war verschwunden, so verschwunden, wie wir mit
unserer Maschine hatten verschwinden wollen." Gemeinsam hatten Maurice
und Raymond die "Große Maschine des Verschwindens" gebaut - eine
Draisine -, auf der sie aus ihrem engen Dorf Villeblin südöstlich von Paris
fliehen wollten. Doch Maurice verrät ihr Geheimnis, zuerst der Jugendliebe von
Raymond - Delphine, um sich dann mit jener ganz aus dem Staub zu machen. Für
Raymond geht seine Kindheit an diesem verhängnisvollen Tag, dem 4. Januar 1960,
zu Ende.
Verhängnisvoll ist auch der schwere Verkehrsunfall, der sich
just in dem Moment ereignet, als die beiden Halbwüchsigen Villeblin den Rücken
kehren wollen. Einer der beiden Unfalltoten ist derer beider Idol, der
Schriftsteller und Philosoph Albert Camus (dessen Freund- und Feindschaft zu
Jean-Paul Sartre Analogien zu Maurice und Raymond aufweist). Sein Geist und
sein berühmtes Werk "Mythos des Sisyphos" stehen über der Handlung
des gesamten Romans. Maurice beginnt über den Vorfall einen Roman zu schreiben,
dessen Entwurf er Raymond in seinem ersten Brief beilegt und der in den
folgenden Korrespondenzen langsam Gestalt annimmt.
Doch zur Versöhnung ist Raymond, der sich "fehl am Platz [fühlt] in der Ordnung
der Dinge, die anscheinend nur auf Konflikt, Streiterei, Auseinandersetzung und
Feindseligkeit beruhte", noch nicht bereit. Erst das Zerbrechen der
Ehe seiner Tochter Jeanne und die wachsende Freundschaft zu seiner Nachbarin
Robertine reißen ihn aus seiner Lethargie und lassen ihn über das Leben, das
keineswegs mit Anfang 60 zu Ende ist, nachdenken. "Eine Trennung, so heilsam sie anfangs sein mag, bedeutet immer
auch, dass die Hälfte von einem selbst verloren geht - als hätte man mit dem
anderen, den man aufgibt, die Kraft zu unterscheiden verloren." Schritt
für Schritt, mehr leise als laut, gewinnt Raymonds Leben wieder an Struktur und
Helligkeit. "Vielleicht musste man
manchmal Fehler machen, damit man merkte, dass man noch lebte." Nicht
der Verlust des Lebens, sondern der Lebendigkeit ist das Schlimmste was einem
passieren kann. "Wie wir verschwinden" setzt sich ganz nach Albert
Camus mit der Frage auseinander, wie man die Liebe zum Leben erhalten kann.
Mirko Bonnés Roman beginnt ganz leise und unspektakulär.
Anfangs umkreist der Plot den Leser wie ein trudelnder Schmetterling. Es fehlt
etwas klar Greifbares, Substantielles. Bonnés Stoff, seine Wesenheit, ist
zunächst schwer fassbar und der Hintergrund diffus, die Zeit scheint nahezu
gedehnt. Man weißt noch nicht, worum es eigentlich geht. Doch mit zunehmendem
"Geschehen" bekommt die Handlung mehr und mehr Klarheit. Der Plot
verdichtet sich und nimmt Gestalt an. Licht und Schatten gewinnen Konturen.
Zunehmend kommt die "Maschine des Verschwindens", die so lange auf
dem toten Gleis stand, in Fahrt.
Fazit:
"Wie wir verschwinden" ist der leise, aber
intensive, unzeitgemäße Roman einer Freund- und Feindschaft im Gestern und im
Heute. Angesiedelt in Frankreich ist auch sein gelassen erzählerischer Ton
durch und durch französisch. Ein Buch von der Liebe und der Eifersucht, von Tod
und Verlust, aber und vor allem vom Leben.
Der Roman ist einer von 20 Titeln, der für die Longlist zum
Deutschen Buchpreis 2009 nominiert wurde.
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