Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 05.11.09 |
Tiziano Scarpa, Stabat mater, Titel der Originalausgabe: Stabat Mater, Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (August 2009), 144 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3803132258, ISBN-13: 978- 3803132253, Preis: 16,90 EURO
von Heike Geilen
Kann man Romane hören? Natürlich, wird man entgegnen, zum
Beispiel durch das akustische Medium der Hörbücher. Doch nein, das ist hier
nicht gemeint. Die Frage muss präzisiert werden. Kann man einen Roman wie ein
Musikstück empfinden, ihn wie eine Partitur auf Notenpapier lesen? Ja, man
kann. "Stabat Mater" ist so ein Buch. Gerade erst mit dem wichtigsten
italienischen Literaturpreis - dem Premio Strega 2009 - geehrt, ist diese
feine, beinahe wir mit Tönen gemalte kleine Erzählung eine Ode des Autors an seinen
Lieblingskomponisten Antonio Vivaldi.
Wie stimmt man sich auf so einen Roman ein? Am besten mit
der Musik des venezianischen Priesters und noch besser mit einem Auszug aus
seiner Bearbeitung des "Stabat Mater". Ein Stück,
das ernster, elegischer ist als der Vivaldi den man sonst meistens kennt.
Leid, Klage, aber auch Trost sind die Hauptakzentpunkte des
Stabat Mater, des ursprünglich mittelalterlichen Gedichts, das die Gottesmutter
in ihrem Schmerz um den Gekreuzigten besingt. Leid, Klage und Trost sind auch
die vorherrschenden Grundtöne in Ticiano Scarpas kleinem Kabinettstück, ohne
jedoch den wehklagenden Unterton in den Vordergrund zu rücken. Er umspielt eher
dezent und unauffällig den klaren, ja beinahe nüchternen Text. Der italienische
Autor versteht es virtuos unter Einsatz einer hoch entwickelten Sprache eher
kühl als tränenreich, eine anspruchsvolle und keineswegs banale Geschichte zu
entwickeln.
Plaudereien mit dem
eigenen Tod
Als Hauptfigur des Romans, der im Venedig des 18.
Jahrhunderts angesiedelt ist, begegnet dem Leser die 15-jährige Cecilia. Sie
lebt im örtlichen Kloster und Waisenhaus, dem Ospedale della Pietà. Dieser Ort
ist keineswegs zufällig von Scarpa gewählt, denn er selbst wurde in den sechziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts dort geboren. Die Geburtsklinik des
Ospedale Civile von Venedig war in dem historischen Gebäude untergebracht. "Ich wurde dort geboren, wo einst die
Zimmer der Waisenmädchen waren, wo Vivaldi unterrichtete und seine Schülerinnen
dirigierte und für sie eine Unmenge an Konzerten und geistlicher Musik
komponierte.", erläutert er im Nachwort. Für Scarpa war dieser Zufall
eine Art Wink des Schicksals. Der Ursprung seiner Phantasie beflügelte ihn zu
seiner melancholischen Erzählung.
Düstere, schwere Gedanken Cecilias bestimmen die erste Hälfte
des Romans. Das junge Mädchen, das hintern den Mauern des Waisenhauses,
isoliert vom Rest der Welt aufwächst, erzogen in Pflicht und christlicher
Nächstenliebe, aber ohne jegliche familiäre Bindung und das innigste aller
Gefühle, die Liebe, schreibt heimlich verzweifelte, vorwurfsvolle, flehende
Briefe an ihre unbekannte Mutter: "Frau
Mutter, habt Ihr Euch jemals vorgestellt, wie ich wohl bin? Habt Ihr Euch je
gefragt, wie ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe? Wenn Ihr wollt, dass
Eure Vorstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmt, müsst Ihr Euch ein kleines
Mädchen denken, das die Nächte mit offenen Augen verbringt, von Angst
gepeinigt."
Ihr einziger Begleiter ist ein dunkles Phantasiegebilde,
eine Frau mit schwarzen Schlangen auf dem Kopf, ihr eigener Tod, mit dem sie
von Zeit zu Zeit "plaudert". Ihre einzige Freiheit ist die Musik. Cecilia
ist eine begnadete Violinspielerin, aber ihr ist noch nicht wirklich bewusst, was
heißt, durch Musik zu sehen, zu leben und mit der Außenwelt des Seins in
Kontakt zu treten. Das Mädchen ist stark depressiv und am Rande des Wahnsinns.
Dem Tod mehr zugehörig als dem Leben, verliert sie immer mehr den Kontakt zur
Wirklichkeit. Seite um Seite umgibt sie sich mit einer tiefen Dunkelheit, aus
der nur vereinzelt ein kleines Aufflackern spürbar ist: "Gerade habe ich geschrieben, dass die Worte sich entrollen, aber
vielleicht verknoten sie sich. Sie entrollen sich und verknoten sich, in ein
und derselben Bewegung. Vielleicht bin ich dabei, mich zu befreien, vielleicht
kerkere ich mich selbst ein."
Akustische
Visualisierung
Doch dann scheint Licht in ihre dunkle Seele zu kommen,
hervorgerufen in Person des jungen Priesters und neuen Violinlehrers Don Antonio
(Vivaldi). Scarpa wählt dessen berühmte "Vier Jahreszeiten" als
Inspiration und Anstoß zu einem wichtigen Schritt, zu einem eigenen Weg, den
Cecilia gehen wird. Von nun an werden die Töne im Buch heller, die Düsternis
weicht, das Mädchen hebt den Kopf und bemerkt am Himmel die Schwalben, die es
so unnachahmlich auf ihrer Violine nachzuahmen weiß. Der "Windhauch des
Universums" durchdringt sie und rüttelt sie auf.
Scarpa komponiert sein "Stabat Mater" aus Worten
wie Musik. Er lässt seine literarischen Töne, anfangs in tiefstem Moll, am Ende
in ungeahnte Höhen steigen. "Geräusche,
die ich noch nie gehört hatte, drangen zu mir.", sinniert Cecilia, "Ich versuchte mir vorzustellen, was
sie wohl bedeuten und wer sie hervorbrachte." Ähnliches passiert mit
Scarpas Text, den man beim ersten Lesen kaum erfassen kann. Nur durch eine
"akustische Visualisierung" erfasst man ihn in vollends. Dann wird
der Klang oder die Bedeutung eines Wortes zu einem Akkord, ein Satz entwickelt
sich wie ein Kontrapunkt und wird zu einer Melodie. Olaf Matthias Roth ist
nicht nur Kopist, sondern hat mit seiner Übersetzung aus dem Italienischen eine
großartige deutsche Variation "komponiert".
"Ich wünschte
mir, ich hätte dieselbe Fähigkeit, Worte und Gedanken in Einklang zu bringen,
das was mir durch den Kopf geht, und das, was ich schreibe. Ich möchte mit
derselben Übereinstimmung schreiben können, die zwischen einer geschriebenen
und einer gespielten Note besteht.", erstrebt Cecilia für sich.
Tiziano Scarpa hat es vollbracht. Er hat voller Erfindungsgeist die Einfachheit
herausgekitzelt.
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