Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 30.08.11 |
von Hans Kessler
Charles
Darwin (1809-1882) war fasziniert von der Vielfalt der Lebewesen auf unserer
Erde. Und er war ein großer Naturforscher, der eine riesige Fülle von
Beobachtungsmaterial gesammelt und viele Bücher dazu geschrieben hat.
Weltberühmt wurde er durch die Theorie, die er in dem Buch Über die
Entstehung der Arten (1859) darlegt und begründet: Die Deszendenztheorie oder Abstammungslehre (Darwin sprach nicht von Evolution, sondern von Transmutation, Abwandlung, Abstammung u. ä.). Den Kerngedanken dieser Theorie kann
man kurz so zusammenfassen:
Alle Lebewesen haben sich aus gemeinsamen Urformen allmählich entwickelt, im Laufe von langen
Zeiträumen. Die verschiedenen Arten
von Lebewesen kommen also nicht fertig
vom Reißbrett des Schöpfers, sie wurden nicht jede in einem eigenen Schöpfungsakt erschaffen. Sie haben sich vielmehr entwickelt, sind entstanden durch
Mutation und Selektion, d. h. durch zufällige kleine Abänderungen
(Mutationen) an dem, was schon da war, an den schon vorhandenen Lebewesen, so dass es bei deren Nachkommen zu Variation kam und sich dann im Kampf um Nahrung
und Sexualpartner nur die Lebensfähigeren fortpflanzten, während die
weniger Lebensfähigen ausstarben: natürliche Auslese (Selektion). Diese beiden
Faktoren Mutation und Selektion (Abwandlung und Auslese) reichten aus, um die allmähliche Entstehung der Vielfalt der Lebewesen
zu erklären. Darwin hat damit das
Fundament einer Biologie geliefert, die von religiösen Überzeugungen frei
ist.
Er
hat damit nichts anderes getan als das, was der bedeutende
mittelalterliche Theologe und Naturforscher Albertus Magnus
(1200-1280) propagiert hat: „In der Naturforschung
haben wir nicht zu untersuchen, wie Gott der Schöpfer ... sich seiner
Geschöpfe bedient, um durch Wunder seine
Allmacht kundzutun. Wir haben vielmehr zu
erforschen, was im Bereich der Natur durch natureigene Kräfte auf
natürliche Weise alles möglich ist.“
Wie stand Darwin zur Religion, zum Glauben an einen Schöpfer? War er ein Gegner oder gar Feind von
Religion und Schöpfungsglauben?
1) Darwin hat nie einen ideologisch-atheistischen Darwinismus
vertreten, auch nicht in seiner agnostischen Endphase.
Er war aufgewachsen in einer dekadenten Form von Christentum, das einerseits mit Moral, Sünde und Furcht vor ewigen (Höllen-)Strafen operierte,
dessen damals vorherrschende rationalistische Physikotheologie
andererseits überall in der Natur eine auf den Nutzen des Menschen bezogene Zweckrichtung sah, daraus die
göttliche Vernunft ablesen und Gott aus angeblichen Lücken wissenschaftlicher Welterklärung beweisen wollte
(wie es heute wieder die ID-Lobby tut).
In den Jahren zwischen
seiner Weltumseglung auf dem Forschungsschiff
Beagle (1832-1837) und der Veröffentlichung von Über den Ursprung
der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1859) wandte sich Darwin, wie er im
Kapitel „Religious Belief“ seiner
Autobiographie ausführt, von dem
Glauben, in dem er erzogen worden war, und von der Sicht der Physikotheologie – etwa des in Cambridge damals viel zitierten William Paley (1745-1805) – allmählich
ab und einem vorsichtigen Deismus zu.
Er
lehnte die Einzelerschaffung der einzelnen Arten durch
zahllose getrennte Schöpfungsakte ab, ebenso Wunder,
sofern sie als Durchbrechung der Naturgesetze verstanden
wurden, und er war aus moralischen Gründen gegen
die „abscheuliche Lehre“ von ewigen Strafen. Das grausam
qualvolle Leiden in der Natur, das er so oft gesehen
hatte, war für ihn nicht mit einem Schöpfungswerk Gottes
vereinbar, wohl aber mit der natürlichen Selektion. Die
Überzeugung von der Evolution war für ihn eine Befreiung von bedrückenden
religiösen Vorstellungen.
Im
allerletzten Satz seines Werkes On the Origin of Species
(1859) deutet er dann aber kurz eine andere Auffassung von Gott und von
Schöpfung an: „Es liegt etwas wirklich
Erhabenes in der Auffassung, dass der Schöpfer den Keim allen Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und
dass, während sich unsere Erde nach
den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten
Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch
weiter entsteht.“ Es ist bemerkenswert, dass
1500 Jahre vor Darwin ein griechischer christlicher
Theologe, Gregor von Nyssa (335-394), eine ganz ähnliche Sicht vertreten hat, und zwar ganz umfassend ausgedehnt auch auf die kosmische Evolution.
Darwin nahm eine allgemeine
Vorsehung bei der Planung der Gesetze an, die die
Evolution überhaupt erst möglich machen. Eine Welt, die so
„wunderbar geordnet“ ist, könne als Ganzes nicht das
Ergebnis puren Zufalls sein, wenngleich die Details
wenig perfekt und zufällig sind. In einem Brief von 1870 an
seinen Freund, den Biologen Joseph D. Hooker, den er in
„Entstehung der Arten“ öfters erwähnt, schrieb er: „Ich
kann das Universum nicht als Resultat blinden Zufalls
ansehen. Gleichwohl kann ich im Detail keine Evidenz
von einem wohltuenden Plan (design) sehen, oder
überhaupt einen Plan von irgendeiner Art.“ (F. Darwin &
Seward 1903, I, 321) Und in einem anderen Brief an den Naturwissenschaftler Asa
Gray
in Harvard schrieb er: „Ich neige dazu, alles so zu betrachten, als folge es
den Gesetzen des Schöpfungsplans, während
die Details dem überlassen bleiben, was wir Zufall nennen.“ (F. Darwin
1887, II, 105)
2)
Drei Jahre vor seinem Tod schrieb Darwin (1879): »In
meinen extremsten Gedanken war ich nie ein Atheist in dem
Sinne, dass ich die Existenz Gottes verneint hätte. Ich
glaube meistens, aber nicht immer (doch je älter ich werde,
desto öfter), dass ‚Agnostiker’ eher auf mich zutrifft.“
(E Darwin 1887, I, 274) Agnostiker ist einer, der meint, dass wir das, was
über die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht,
nicht erkennen, es aber auch nicht bestreiten können.
Dazu erläutert er in seiner
Autobiographie (1879): „Das ergibt sich aus der äußersten Schwierigkeit oder
vielmehr Unmöglichkeit, einzusehen, dass dieses ungeheure und wunderbare Weltall, das den Menschen umfasst
mit seiner Fähigkeit, weit zurück in
die Vergangenheit und weit in die
Zukunft zu blicken, das Resultat blinden Zufalls oder der Notwendigkeit sein soll. Denke ich darüber nach, dann fühle ich mich gezwungen, mich nach
einer ersten Ursache umzusehen, die in Besitz eines dem des Menschen in gewissem Grad analogen Intellekts ist,
und ich verdiene Theist genannt zu
werden ... Dann entsteht aber wieder der Zweifel: Kann man sich auf den
Geist des Menschen verlassen, der, wie ich glaube, sich aus einem so niederen Geist wie dem der niedersten Tiere
entwickelt hat, wenn er solch
großartige Schlussfolgerungen zieht?“ (F. Darwin 1887, I, 282 f)
Darwin fragt also sehr ernsthaft
und ehrlich. So beklagt er auch den Verlust seiner früheren Freude an Naturerlebnissen, an Poesie und Literatur und sagt,
er sei „eine Art Maschine zum Herausmahlen von allgemeinen Gesetzen aus einer großen Faktensammlung“ geworden.
Früher ein Liebhaber der Musik, ist jetzt „meine Seele zu vertrocknet, um sie wie in früheren Tagen zu
schätzen. Ich bin in jeder Beziehung
ein verwelktes Blatt – außer in der
Naturwissenschaft. Manchmal hasse ich sie deswegen.“ (F. Darwin 1887,
II, 273)
Bittere Worte. Offenbar kann man,
leidenschaftlich bewegt von einer einzigen großen
Fragestellung und fasziniert von den dabei gemachten
Entdeckungen, so sehr in einer eindimensionalen Perspektive versinken, dass
andere Seiten der Wirklichkeit nicht mehr zum
Zug kommen und das Menschsein verarmt.
Sagt hier nicht einer der ganz großen
Naturwissenschaftler zugleich etwas über die Grenzen von Naturwissenschaft aus: dass der Mensch seinen tiefsten Anlagen nach nicht mit
Naturwissenschaft allein er selbst und wirklich Mensch sein kann?
3) Darwins Grundidee (Entstehung
der Vielfalt des Lebens durch abwandelnde Variation
und durch Effizienz bei der nachfolgenden Selektion) hat sich als richtig
erwiesen,
wenngleich als ergänzungsbedürftig (z. B. durch Mechanismen wie Symbiose). Die Durchführung seines Ansatzes aber
ist nicht frei von fragwürdigen Beimischungen: Beispielsweise nahm Darwin, nachdem er zunächst mit dem Ökonomen Thomas Malthus vom struggle for
existence gesprochen hatte, seit 1869 von dem Soziologen Herbert Spencer die problematische Formel survival
of the fittest auf. Und über den Festlegungen durch das naturhaft
Angeborene unterschätzte er die Offenheit jedes neugeborenen Menschen und seine
Formbarkeit durch menschliche Zuwendung, sozialen
Umgang, Erziehung, geistige Bildung usw. Er verkannte die Macht kultureller
Evolution mit ihren (medizinischen, technischen, sozialkooperativen,
pädagogischen usw.) Möglichkeiten, die sich über die biologische Evolution und
die Selektion erheben können, was sein
Konkurrent Alfred Russel Wallace (1823-1913),
der unabhängig von Darwin dieselben Ideen einer Evolution durch Modifikation und Selektion entwickelte,
eher gesehen hat.
Vor
allem aber muss Darwin deutlich unterschieden werden vom Darwinismus als
Weltanschauung, der aus Darwins Idee eine Ideologie macht, und vom Sozialdarwinismus,
der das Recht des Stärkeren im Verdrängungswettbewerb propagiert. Beides hat in Deutschland insbesondere der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) betrieben. Er erklärte Konkurrenz und Selektion
zur Grundlage gesellschaftlichen
Fortschritts und lieferte die Basis für Rassenideologien. In seinem
populären Bestseller Die Welträtsel (Bonn 1899) erhob er den
materialistisch interpretierten Darwinismus zur „monistisch“-materialistischen
Totaldeutung der Welt, zum Religionsersatz: Ein Welturheber sei unvereinbar mit der ewigen Materie und den ehernen, mechanischen Naturgesetzen. Haeckel
tat Gott spöttisch als „gasförmiges
Wirbeltier“ ab und ließ sich in Rom
zum materialistischen Gegenpapst krönen, ohne dass ihm und seinen
Anhängern das Unwissenschaftliche und Lächerliche dieses Vorgehens bewusst geworden
wäre.
Aus: Hans Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht
(c) 2009 Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, 2. Auflage 2009, www.bube.de
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