Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 09.11.09 |
von Julia Glesner
Zum 250. Geburtstag Friedrich Schillers am 10. November 2009
veröffentlicht die Klassik Stiftung Weimar im Wallstein Verlag Göttingen die Monographie
»Schillers Schädel - Physiognomie einer fixen Idee«. Veranlasst wurde die
Publikation durch den Abschluss der umfassenden wissenschaftlichen
Untersuchungen, die die Frage verfolgten, ob einer der beiden Schädel, die bis
Sommer 2006 in der Fürstengruft zu Weimar beigesetzt waren, als der Friedrich
Schillers identifiziert werden kann.
Friedrich Schiller wurde schon früh als »Nationalautor«
verehrt. Bald nach seinem Tod nahm diese Verehrung fast religiöse Züge an. Die
Frage nach seinen Relikten und -- nachdem diese 1826 angeblich geborgen worden waren
-- nach der Echtheit seines Schädels erhielt deshalb eine große Bedeutung und
wuchs sich über zwei Jahrhunderte hinweg zur »fixen Idee« aus. Der Band
»Schillers Schädel -- Physiognomie einer fixen Idee« zeichnet die wechselvolle
Geschichte des Schiller-Schädels in zwei Erzählsträngen nach. Der erste zeigt,
wie es überhaupt zu den Zweifeln an der Echtheit des Schädels kommen konnte. Er
führt den Leser in das Sterbejahr Friedrich Schillers 1805. Der Dichter wurde,
wie andere Bürger von Stand, die über keine Familiengrablege verfügten, im Kassengewölbe
auf dem Jakobskirchhof beigesetzt. Schon früh kam es zu öffentlicher Kritik an
dieser für einen Nationaldichter als unwürdig empfundenen Form der Bestattung.
Als der Weimarer Bürgermeister Karl Leberecht Schwabe 1826 in die Gruft stieg,
um Schillers Gebeine zu bergen, war deren sichere Identifizierung unmöglich
geworden, weil alle in der Gruft untergebrachten Särge bereits in Verwesung
übergegangen waren. 1911 kam es zu einer zweiten Grabung im Kassengewölbe, nach
deren Auswertung August von Froriep einen zweiten Schädel präsentierte, der 1913
ebenfalls in der Fürstengruft niedergelegt wurde.
Der Streit um Schillers Schädel, der von 1826 bis 2008
andauerte, ist ein spannendes Lehrstück der Wissenschaftsgeschichte, das die Fortschritte
der Anthropologie und anderer Verfahren der Identitätsbestimmung dokumentiert.
Schillers Sarg in der Fürstengruft ist heute leer, nachdem eine vom
Mitteldeutschen Rundfunk Landesfunkhaus Thüringen und der Klassik Stiftung in
Auftrag gegebene DNA-Analyse ergeben hat, dass keiner der beiden mutmaßlichen
Schiller-Schädel tatsächlich dem Dichter zuzuordnen ist. Die Frage, wo sich die
sterblichen Überreste Schillers befinden, bleibt vermutlich für immer unklar.
Die vom Mitteldeutschen Rundfunk im Mai 2008 ausgestrahlte Fernsehdokumentation
von Ute Gebhardt «Der Friedrich-Schiller-Code» hat die Geschichte um Schillers
Schädel der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Der Film fasste die
anthropologischen und molekularbiologischen Untersuchungen zusammen, mit deren
Hilfe die Klassik Stiftung Weimar und der Mitteldeutsche Rundfunk den
historischen Streit endgültig beilegen konnten.
Der zweite Erzählstrang des Buchs stellt die Geschichte von
Schillers Schädel in den Zusammenhang kulturgeschichtlicher Fragen: Wie kam es,
dass Schillers Schädel über zwei Jahrhunderte die Gemüter bewegen konnte? Wie
und warum entwickelte sich um die sterblichen Überreste des Dichters ein
säkularisierter Reliquienkult? Im 19. Jahrhundert wird Schiller, nicht Goethe,
mehr und mehr zum Heros und Heiligen der Deutschen. Die Feierlichkeiten zu
Schillers 100. Geburtstag 1859 entwickelten sich zu einem nationalen Fest zu
Ehren des Dichters. In den geistigen Auseinandersetzungen und in den Kriegen
des 20. Jahrhunderts wurde Schiller von allen Seiten zum Eideshelfer für ganz unterschiedliche
weltanschauliche Positionen. Nur vor dem Hintergrund dieses ideologisch hoch
aufgeladenen Dichterkults sind die enormen Anstrengungen zu verstehen, mit
denen man die Schiller-Schädel-Forschung betrieb. Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte sind dabei eng verschränkt.
Entsprechend breitet die Publikation reiches Material zur Schiller-Rezeption
aus, die den Rahmen für die wissenschaftlich untermauerte Suche nach
authentischen Erinnerungsstücken bildet.
Die von Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle herausgegebene
Publikation erscheint im Wallstein Verlag. Sie gliedert sich in acht Kapitel,
die der Chronologie der Ereignisse folgen. Thematische Eckpunkte sind dabei:
Schillers Tod und Bestattung, die darauffolgende Bergung und
Wiederbestattung der Relikte, sowie deren Untersuchung durch die Anthropologen
Carl Gustav Carus, Herrmann Welcker, August v. Froriep und Michail Gerassimow.
Der wissenschaftshistorische Erzählstrang wird durch Abschnitte ergänzt, die
der kultischen Verehrung des Dichters als einer Heilsfigur der deutschen Nation
und der damit verbundenen Porträt-Ikonografie nachspüren. Exkurse zu
ausgewählten Themen vertiefen den theoretischen Hintergrund. Zu den Autoren
gehören Ute Gebhardt, die Regisseurin des Dokumentarfilms »Der
Friedrich-Schiller-Code«, und Ursula Wittwer-Backofen, die als Anthropologin an
den jüngsten Untersuchungen des Fürstengruft-Schädels mitgewirkt hat. Weitere
Autoren des Bandes sind Aurelia Badde, Götz-Lothar Darsow, Lily Fürstenow-Khositashvili,
Nikolas Immer, Janine Ludwig, Gisela Maul, Roland Meyer, Ulrike Müller-Harang,
Günter Oesterle, Christoph Schmälzle, Claudia Schmölders, Hellmut Seemann und
Caroline Welsh.
Im Rahmen einer öffentlichen Festveranstaltung, die am
Vorabend des Jubiläums im Stadtschloss zu Weimar stattfindet, stellen die
beiden Herausgeber, Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle, den Band vor. Gedichtrezitationen
des Schauspielers Bernd Lange und musikalische Darbietungen des Gitarristen
Christoph Theusner runden die Veranstaltung ab.
Publikationsdaten
Herausgeber: Jonas Maatsch und Christoph Schmälzle
ISBN: 978-3-8353-0575-5
Wallstein Verlag Göttingen 2009. 240 Seiten, 131 überw. farb. Abb., € 26,90 (D), 27,70 (A), CHF 45,50
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