Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 16.11.09 |
Anne Wiazemsky, Jeune fille, Titel der Originalausgabe: Jeune fille, Aus dem Französischen von Judith Klein, Verlag C.H. Beck, München (Juli 2009), 206 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 340658389X, ISBN-13: 978- 3406583896, Preis: 18,90 EURO
von Heike Geilen
Am 25. Mai 1966 hatte der Film „Au hasard Balthazar“ (deutsch:
„Zum Beispiel Balthasar“) in Frankreich Premiere (deutscher Start am 01.
November 1967). Es ist das überwältigend einfache und doch endlos komplizierte
Meisterwerk des französischen Regisseurs Robert Bresson und gehört zu den
besten und brillantesten Arbeiten des einzigartigen Filmemachers. Erzählt wird Geburt,
Leiden und Sterben des Esels Balthasar: Das Tier, das kurz nach seiner Geburt von
zwei Kindern, Marie und Jacques, aufgenommen und christlich getauft wurde, wird
im Laufe seines Lebens zum Träger erniedrigender Arbeiten.
Robert Bresson, der eigentümlichste und unvergleichbarste
Filmemacher in der Geschichte des Kinos, kreierte in seinen Filmen einen Stil
der völligen Reinheit, Nüchternheit und augenscheinlichen Attraktions- und
Emotionslosigkeit. Er verzichtete auf die heutzutage nicht mehr wegzudenkenden Effekte,
Tricks und Experimente. Bresson schuf Filme, die abseits der breiten
Öffentlichkeitsmeinung und Massenkunst des 20. Jahrhunderts noch pures „Kino“
waren. In einer Filmkritik ist zu lesen „Wer
'Au Hasard Balthazar' mit zwei wachen Augen anschaut, ihm mit der gegebenen
Aufgeschlossenheit begegnet, der erfährt vielleicht den unsagbaren Reichtum
dieses Films und kann in ihm wohlmöglich tatsächlich 'die Welt in anderthalb
Stunden' [Zitat vonJean-Luc
Godard] entdecken.“
Die Lebensgeschichte Balthasars kreuzt sich im Film immer
wieder mit der von Marie. Die blutjunge Anne Wiazemsky, Enkelin des
Literaturnobelpreisträgers François Mauriac, spielt darin die Hauptrolle. In
ihrem Roman „Jeune fille“ berichtet und verarbeitet die französische
Schaupielerin, Regisseurin und Schriftstellerin ihr Debüt und die
Zusammenarbeit mit dem damals 64-jährigen Künstler. Blutjung und unschuldig
wird sie dessen Muse, streift ihre Kindheit ab und reift im Laufe der
Dreharbeiten zur jungen Frau heran. „In
wenigen Wochen hatte ich begriffen, dass Robert Bresson viel besser als ich
selbst wusste, was gut für mich war. Es war so beruhigend, mit jemandem zu tun
zu haben, der zu wissen schien, wer ich war. (...) Es schien mir, dass ich in
seiner Nähe lernte, zu sehen und zu hören.“
Behutsam verwobene,
sehr persönliche Erinnerungen
Dieser autobiografische Roman ist zugleich eine große Hommage
an den eleganten, liebevollen, ebenso jedoch auch besitzergreifenden und
unerbittlichen Regisseur. Die Idee über Bressons „zutiefst rätselhafte Wesen“
zu schreiben, als das er ihr trotz aller Vertrautheit blieb, kam Wiazemsky bei
dessen Beerdigung im Dezember 1999. „Damals
kamen die Erinnerungen wieder hoch, all das, was ich ihm verdanke, und es
entstand der Wunsch, über ihn zu schreiben, nur wusste ich lange nicht wie.“,
berichtet sie in einem Interview. „Die
Erinnerung ist ja trügerisch, mit Memoiren hätte ich mich, allein aus Respekt,
einer Wahrheit verpflichtet, und so entschied ich mich für einen Roman, mit dem
ich auch eine exemplarische Geschichte erzählen konnte: die eines Mädchens, das
sich innerhalb eines Sommers von seiner Kindheit verabschiedet.“
Und so verwebt Wiazemsky ihre Erinnerungen behutsam zu einem
Roman. Sie reflektiert wie der eifersüchtige Filmemacher versucht, seine „Lolita“
zu hüten und zu bezähmen, sie nach seinen Vorstellungen zu formen, aber vor
allem ihre unschuldige Jugend zu bewahren. „Ich brauchte ihm nur zuhören
und tun, was er von mir verlangte, auch wenn ich es nicht verstand. Ich musste
mich willenlos ihm überlassen. Aus unerfindlichen Gründen hat mir das genau
gepasst. Ich empfand sogar ein ausgesprochenes Vergnügen, ihm zu gehorchen.
Später habe ich oft gehört, das sei eine mühselige und abstoßende Erfahrung
gewesen, unter der viele gelitten hätten. Bei mir war das nie der Fall. (...) Die
Tage, die ich mit den Dreharbeiten zu 'Balthazar' verbrachte, zählen auch heute
noch zu den glücklichsten meines Lebens. Ich fühlte mich dort sofort heimisch,
mit dem erhebenden Eindruck, meine wahre Familie gefunden zu haben, mich
endlich entfalten zu können und das einzigartige Wesen zu werden, das Robert
Bresson in mir zu sehen glaubte.“
Aber
auch das junge Mädchen hat dem alternden Regisseur viel gegeben. „In
Ihrer Nähe zu leben, hat mir unendlich viel bedeutet...Ihre Jugend hat mich
jung gemacht...Oft hatte ich Ihr Alter...“, lässt sie Bresson am Ende des Buches
erzählen und angesichts ihrer erstaunten Miene noch hinzufügen: „Später
werden Sie verstehen...Später.“
Anne
Wiazemsky hat verstanden. „Jeune fille“ ist ihre Antwort darauf.
Fazit:
„Jeune fille“ offenbart eine „unentwirrbare
Mischung aus Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit“, die Anne Wiazemsky ihrem
Entdecker entgegenbringt. Ein liebevoller, sehr persönlicher, autobiografischer
Roman und eine Hommage an den großen französischen Regisseur Robert Bresson in
unprätentiöser, klarer Sprache, von Judith Klein ausdrucksstark ins Deutsche
übersetzt.
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