Erschienen in Ausgabe: No 46 (12/2009) | Letzte Änderung: 16.11.09 |
von Horst Köhler
Ich
möchte Ihnen zuerst von einem jungen Mann erzählen. Als 16-Jähriger
wollte er, was viele in seinem Alter wollen: Partys feiern, Musik
hören, lange Haare haben, reisen. Er war nicht wirklich politisch. Aber
er stieß mit seinen Bedürfnissen in seiner Heimatstadt Jena immer
wieder an Grenzen. Er ging auf Partys, die die Volkspolizei gewaltsam
auflöste. Er hielt sich in der Nähe des Grenzgebiets auf und wurde
festgenommen. Einer seiner Freunde wurde auf dem Weg zu einer
Geburtstagsparty in Ost-Berlin von der Stasi aus dem Zug geholt und war
zwei Tage später tot. Selbstmord, hieß es damals.
Der junge
Mann wollte das alles nicht einfach hinnehmen. Er begann mit kleinen
Protestaktionen. Einmal ging er am 1. Mai auf die Straße mit einem
weißen Plakat. Einfach nur mit einem weißen Plakat, auf dem nichts
stand. Ein Jahr später - wieder am 1. Mai - stellte er sich während der
offiziellen Kundgebung neben die Tribüne mit einer Gesichtsmaske, die
auf der einen Seite aussah wie Hitler, auf der anderen wie Stalin.
Gewalt übte er nicht aus. Ein paar Monate später wurde er festgenommen
und zu anderthalb Jahren Haft verurteilt.
Anderthalb Jahre
Haft als politischer Gefangener. Tausende haben das in der DDR erlebt,
unter unmenschlichen Bedingungen. Isolationshaft, stundenlange Verhöre,
vollständige Kontaktsperre nach außen; viele haben das erlitten. Wenn
man ehemalige Haftanstalten wie Bautzen oder das Stasi-Gefängnis in
Hohenschönhausen besucht, wird einem vor Augen geführt, wie die
Staatsmacht der DDR systematisch Menschen ihrer Rechte und ihrer Würde
beraubte.
Und wofür? Welche Verbrechen hatten diese Menschen
begangen? Sie wollten in Freiheit leben. Sie wollten das Unrecht, das
sie jeden Tag sahen, nicht länger hinnehmen. Sie wollten, dass ihre
Kinder es einmal besser haben würden. Die einen haben versucht, die
Verhältnisse in der DDR zu verändern. Andere wollten fliehen. Manche
allein. Manche mit der Familie. Bei solchen Fluchtversuchen wurden
Hunderte festgenommen, Familien wurden auseinandergerissen. Monate
wussten die inhaftierten Eltern oft nichts vom Schicksal ihrer Kinder.
Auch
der junge Mann aus Jena hatte eine Tochter. "Ich war ganz klein und
habe geflennt, als ich das Foto meiner dreijährigen Tochter in den
Knast bekam", erzählt er. Die Repression traf seine Familie. Sein
Vater, der nicht politisch aktiv war, musste den Fußball-Club
verlassen. Er bekam einen Herzinfarkt. Der Sohn machte sich Vorwürfe,
dass das Leben seiner eigenen Angehörigen durch seine politische
Aktivität zerstört werde.
Sehr geehrte Damen und Herren,
einige von Ihnen haben Ähnliches erlebt. Sie kennen die Sorge um
Kinder, um Eltern, um Verwandte. Sie wissen, was es bedeutet, Jahre
hinter Gittern zu verbringen. Sie wussten, welches Risiko sie
eingingen, als Sie politisch aktiv wurden, oder als Sie sich zur Flucht
entschlossen, und trotzdem haben Sie für Ihre Rechte und für Ihre
Freiheit gekämpft. Das verdient unsere Hochachtung.
Dieses
Risiko kannten auch die vielen tausend Menschen, die in Leipzig und
anderen Städten der DDR Woche für Woche demonstriert haben. Ohne ihren
Mut wäre die Mauer nicht gefallen.
Unsere Anerkennung verdient
aber auch, dass Sie alle, die heute ausgezeichnet werden, sich dafür
einsetzen, die Erinnerung an die Geschichte der DDR wach zu halten.
"Die Zukunft wird nämlich entschieden im Streit um die Vergangenheit",
sagte hier in Schloss Bellevue einmal Wolf Biermann, der genau heute
vor 33 Jahren aus der DDR ausgebürgert wurde. Sie, meine Damen und
Herren, streiten um die Vergangenheit. Sie legen - oft auf sehr
persönliche Weise - Zeugnis ab von dem Unrecht und von der Heimtücke
der SED-Diktatur.
Das ist vor allem für junge Menschen
wichtig. Es macht mir Sorge, wenn ich in Studien lese, wie wenig
Schülerinnen und Schüler heute über die DDR wissen. Deswegen brauchen
wir die historische Aufklärung.
Mit der Aufarbeitung der
DDR-Geschichte haben wir direkt nach der Wiedervereinigung begonnen:
Die Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
gaben und geben Einblick in das Unrecht, das durch die Stasi begangen
wurde. Der Deutsche Bundestag hat die Stiftung Aufarbeitung ins Leben
gerufen. In ungezählten Veranstaltungen, Publikationen und Gesprächen
setzt sie sich mit der SED-Diktatur und ihren Folgen auseinander. Wie
lehrreich es ist, wenn die Zeitzeugen von damals mit jungen Leuten von
heute über ihre Erfahrungen reden, hat mir eine Diskussionsrunde
gezeigt, die ich in Zusammenarbeit mit der Stiftung ausgerichtet habe.
Es war gut zu sehen, welche Neugier, welches Interesse die persönliche
Schilderung der Älteren bei den Jungen weckte, und welchen Anteil sie
am Leid der Opfer nahmen.
Viele dieser Opfer von damals sind
inzwischen vollständig rehabilitiert. Damit ist offiziell anerkannt,
dass nicht sie Unrechtes getan haben, sondern dass ihnen Unrecht
zugefügt wurde. Es gibt Ansprüche auf Haftentschädigung, und zumindest
die Bedürftigen erhalten inzwischen eine Opferpension. Das sind
wichtige Schritte.
Aber das alles kann nicht das Leid, das die
Opfer erlitten haben, wieder gut machen. Es kann nicht wieder gut
machen, dass Menschen ihre Jugend im Gefängnis verbracht haben. Es kann
nicht wieder gut machen, dass Kinder von ihren Eltern getrennt wurden.
Es kann nicht verlorene Jahre zurückgeben. Ich kann den Schmerz
derjenigen nachempfinden, die noch immer - physisch oder psychisch -
unter den Folgen der Haft leiden, und die zusehen müssen, wie ihre
früheren Peiniger ihren Lebensabend genießen. Und die heute auch noch
erleben müssen, dass Verantwortliche und Täter keine Reue zeigen,
sondern im Gegenteil mit Unverfrorenheit über ihre Taten in der DDR
reden.
Sehr geehrte Damen und Herren, Ihr Einsatz hilft, solche
Einstellungen und Reden zu entlarven. Er hilft zu verhindern, dass die
DDR-Vergangenheit verklärt wird. Dabei geht es keineswegs darum, die
Leistungen der Menschen in der DDR herabzuwürdigen. Natürlich gab es
Anstrengung und Fleiß, Mitmenschlichkeit und Solidarität. Das macht die
Lebensleistungen der Menschen wertvoll, vielleicht umso wertvoller,
wenn wir daran denken, dass die DDR eben keine Demokratie und erst
recht kein Rechtsstaat war.
Wir können aus der Geschichte der
DDR viel lernen. Wir können lernen, was Mut bedeutet und Zivilcourage,
die in einer Diktatur noch viel mehr erfordert als in einem
Rechtsstaat. Wir können lernen, dass es auch in der Unfreiheit immer
Menschen gibt, die ihrem Gewissen folgen und sich treu bleiben - gegen
die Staatsgewalt und eine schweigende Mehrheit; meist um einen sehr
hohen Preis.
Diese Lehren zu beherzigen, bedeutet auch, sich
bewusst zu sein, dass Demokratie, Freiheit und Menschenrechte
Errungenschaften und Werte sind, für die wir uns täglich aufs Neue
einsetzen müssen, die wir verteidigen und vor allem auch leben müssen.
Sie
tun das, meine Damen und Herren, und dafür möchte ich Ihnen von Herzen
danken. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit der höchsten
Auszeichnung, die unser Land zu vergeben hat: mit dem Verdienstorden
der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben sich um unser Land verdient
gemacht, Sie haben seine Einheit gefördert. Sie haben die Werte
gestärkt, auf denen es gründet.
Noch einmal zu dem Mann aus
Jena. Sein Name ist Roland Jahn. Er hat auch an einer der
Gesprächsrunden teilgenommen, die ich gemeinsam mit der Stiftung
Aufarbeitung ins Leben gerufen habe. Ein Schüler fragte die Teilnehmer
der Runde, ob sie mal an ihrer oppositionellen Haltung gezweifelt
hätten. Roland Jahn bewegte diese Frage, weil - so sagte er - sie oft
als Helden dargestellt würden, die niemals zweifelten. Er hatte
Zweifel, und auch das zeichnet ihn aus. Aber er ist sich treu
geblieben. Wie Sie alle. Ich danke Ihnen.
www.bundespraesident.de
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