Erschienen in Ausgabe: No 41 (7/2009) | Letzte Änderung: 23.09.10 |
Dr. Reinhard Marx ist Erzbischof von München und Freising.
von Reinhard Marx
Sehr geehrter Karl Marx, lieber Namensvetter,
Sie waren zu Ihren Lebzeiten ein entschiedener Atheist und
ein kämpferischer Gegner der Kirche. Und deshalb werden es manche Marxisten,
die sich als Ihre legitimen Erben wähnen, sicher als eine Art „Majestätsbeleidigung“
empfinden, dass ich, ein katholischer Bischof, Ihnen diesen Brief schreibe. Ich
tue es trotzdem. Zum einen, weil ich glaube, dass Sie nach Ihrem Tod einsehen
mussten, dass Sie sich mit Ihrer Behauptung der Nicht-Existenz Gottes geirrt
haben, und dass Sie deshalb gegenüber einem Mann der Kirche inzwischen milder
gestimmt sind. Zum anderen, weil ja überliefert ist, dass Sie selbst kurz vor
Ihrem Tod einmal gesagt haben: „Ich weiß nur dies: dass ich kein ›Marxist‹ bin“
(MEW 22, 69). Dann sollte aber auch, so denke ich, die Meinung einiger
kleinlicher Genossen einem fruchtbaren Gespräch zwischen uns beiden nicht im
Wege stehen.
Aber dennoch werden Sie sich vielleicht fragen, wieso ich
dieses Gespräch mit Ihnen überhaupt aufnehmen möchte. Nun, das hat zunächst
einmal mit meiner eigenen Biographie zu tun. Ich habe nämlich nicht nur den
gleichen Nachnamen wie Sie, sondern – und das beweist, dass Gott durchaus einen
Sinn für hintergründigen Humor hat – ich bin Ende 2001 auch zum Bischof von
Trier ernannt worden, jener Stadt also, in der Sie 1818 geboren wurden, in der
Sie Ihre Kindheit und Jugend verbracht haben und in der Sie Ihre spätere Frau
Jenny kennen und lieben gelernt haben.
Zwar bin ich inzwischen gar nicht mehr in Trier, sondern
Erzbischof von München und Freising, aber uns verbindet durchaus noch mehr.
Bevor ich Diözesanbischof wurde, habe ich nämlich Christliche
Gesellschaftslehre unterrichtet – ein Fach, das von Leuten, die weder mit Ihrem
noch mit meinem Denken viel anfangen können, bisweilen als
„Herz-Jesu-Marxismus“ charakterisiert wird. Diese Leute erkennen ganz richtig,
dass die kirchliche Soziallehre ein ganz ähnliches Interesse verfolgt, wie Sie
das seinerzeit getan haben: sie möchte soziale Ungerechtigkeiten aufdecken und
anprangern, sie möchte den Armen und Ausgebeuteten, denen, die in der
Gesellschaft keine Lobby haben, eine Stimme geben und ihnen zu ihrem Recht
verhelfen.
Aber wem schreibe ich das … Sie wissen ja nur zu gut, dass
die Kirche bereits im 19. Jahrhundert die Soziale Frage nicht allein Ihnen und
der von Ihnen ins Leben gerufenen kommunistischen Bewegung überlassen wollte.
Sie waren noch nicht einmal geboren, da haben bereits sozial engagierte
Christen wie Franz von Baader (1765–1824) und Adam Heinrich Müller (1779 –1829)
den im 18. Jahrhundert aufkommenden Kapitalismus scharf kritisiert und auf die
Not der in den neuartigen Fabriken schuftenden Arbeiter aufmerksam gemacht.
1848 haben Sie mit Friedrich Engels das Manifest der
Kommunistischen Partei veröffentlicht. Sie schreiben dort, man könne das
kommunistische Programm „in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums,
zusammenfassen“ (MEW 4, 475). Im selben Jahr hat der katholische Priester und
Abgeordnete des Paulskirchenparlaments Wilhelm Emmanuel von Ketteler in seinen
berühmten Adventspredigten im Mainzer Dom ebenfalls die damals herrschende
Eigentumsauffassung angegriffen, den Egoismus vieler Besitzender und deren
Kaltherzigkeit gegenüber der Not der Armen, insbesondere der Arbeiterschaft
gegeißelt. Aber anders als Sie wollte Ketteler das Eigentum nicht abschaffen,
sondern er betonte schon damals das, was hundert Jahre später in das deutsche
Grundgesetz geschrieben wurde: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll
zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Sowohl Ketteler als auch Sie haben sich in den dann
folgenden Jahren einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert. Ketteler wurde
1850 auf den Bischofssitz von Mainz berufen. Er ist als „Arbeiterbischof“
berühmt geworden, den die Soziale Frage und die Sorge um die Nöte der
Industriearbeiterschaft zeitlebens beschäftigt haben. Sie werden sich sicher
gut an ihn erinnern, denn seine Findigkeit und Umtriebigkeit sind Ihnen
seinerzeit ja gehörig auf die Nerven gegangen. Als Sie 1869 das Rheinland
bereisten, haben Sie Friedrich Engels einen Brief geschrieben, in dem Sie sich
bitter über das Wirken meines Mitbruders im Bischofsamt beklagt haben: „Bei
dieser Tour durch Belgien, Aufenthalt in Aachen und Fahrt den Rhein herauf,
habe ich mich überzeugt, dass energisch, speziell in den katholischen Gegenden,
gegen die Pfaffen losgegangen werden muss. Ich werde in diesem Sinne durch die
Internationale wirken. Die Hunde kokettieren (z. B. Bischof Ketteler in Mainz,
die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress usw.), wo es passend scheint, mit der
Arbeiterfrage“ (MEW 32, 371).
Natürlich konnte es Ihnen nicht gefallen, dass sich ein
Kirchenmann, sogar ein Bischof, auf die Seite der Arbeiterschaft stellte. Das
passte doch gar nicht zu Ihrer schönen Theorie, nach der die Religion
„allgemeiner Trost und Rechtfertigungsgrund“ der bürgerlichkapitalistischen
Welt, „das Opium des Volks“ ist und nach der die Kirche die „Heiligengestalt
der menschlichen Selbstentfremdung“ ist (MEW 1, 378 f.). In Ihrer Vorstellung
von der damaligen Gesellschaft hätte Ketteler eigentlich die Rolle eines
gutmütigen, tumben Büttels der herrschenden Klasse einnehmen müssen, der die
Hoffnungslosen auf das Jenseits vertröstet und damit das
bürgerlichkapitalistische System stabilisiert. Das hat Ketteler aber nicht
getan. Er hat die Gründung einer christlichen Arbeiterbewegung gefördert. Er
hat den Staat aufgefordert, die Arbeiter mit Gesetzen vor Ausbeutung und
entwürdigenden Arbeitsbedingungen zu schützen. Und er hat die Arbeiter zur
Selbsthilfe ermuntert, hat ihnen geraten, sich zu Gewerkschaften
zusammenzuschließen, um gegenüber ihren Fabrikherren mit vereinten Kräften
auftreten und so gerechte Lohn und Arbeitsbedingungen durchsetzen zu können.
Vor allem Letzteres war Ihnen zuwider, lief es doch auf ein System hinaus, in
dem die Arbeiter sich nicht zusammentun, um Revolution zu machen, sondern um
ihre Anliegen gemeinsam mit den Arbeitgebern auszuhandeln.
Damit steht es aus der Sicht des Nachgeborenen nun schon 2 :
0 für meinen Mitbruder. Denn wie schon bei dem Privateigentum, so hat sich auch
in dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital im 20. Jahrhundert – zumindest in
Deutschland und anderen Industrieländern – nicht Ihr Vorschlag eines radikalen
Umsturzes, sondern Kettelers Idee eines staatlichen Arbeits- und Sozialrechts
und gewerkschaftlicher Selbsthilfe der Arbeiterschaft durchgesetzt. Einer der
wohl bedeutendsten lebenden deutschen Philosophen, Jürgen Habermas, der
übrigens viele seiner eigenen Gedanken in Auseinandersetzung mit Ihrem Werk
entwickelt hat, hat das einmal so ausgedrückt: „Die rechtliche
Institutionalisierung der Tarifautonomie ist zur Grundlage einer
reformistischen Politik geworden, die eine sozialstaatliche Pazifizierung des
Klassenkonflikts herbeigeführt hat“ (Habermas 1981, Bd. 2, 510). Speziell in
Deutschland hat sich im Zuge dieses Prozesses die Soziale Marktwirtschaft
herausgebildet. Orthodoxe Marxisten, die unverdrossen Ihren Ideen anhängen, tun
sich mit einer plausiblen Erklärung dieser Entwicklung in den kapitalistischen
Ländern noch heute schwer.
Ich weiß nicht, ob Sie mit der Sünde der Eitelkeit zu
kämpfen haben. Wenn ja, sind Sie vielleicht geneigt nun einzuwenden, dass mein
historischer Rückblick nur auf Westeuropa und Nordamerika zutrifft, während vor
allem in Osteuropa zumindest zwischenzeitlich Ihre kommunistischen „Jünger“ den
Lauf der Geschichte bestimmt haben. Aber offen gestanden hege ich große Zweifel
daran, dass Sie ernsthaft erwägen, zu so umstrittenen und fragwürdigen Personen
wie Lenin oder Stalin argumentativ Zuflucht zu nehmen. Außerdem wissen Sie sehr
gut, dass nach Ihrer Geschichtsphilosophie in Russland gar keine Revolution
hätte stattfinden dürfen. Der Kapitalismus ist ja nach Ihrer Auffassung ein
notwendiges Stadium der Geschichte, durch das die Industriegesellschaft gehen
muss, bevor die Akkumulation des Kapitals und die Entfremdung der
Arbeiterschaft in dem Punkt kulminieren, an dem die Entwicklung in die
kommunistische Revolution umschlägt. Das Zarenreich aber war weder
industrialisiert noch bürgerlichkapitalistisch, sondern ein feudalistisch
strukturierter Agrarstaat, als die Bolschewisten unter Berufung auf Sie und
Ihre Ideen einen kommunistischen Staat errichteten. Insofern war die russische
Revolution eher ein Argument gegen als für Ihre Theorien.
Und dort, wo nach Ihrer Prognose die Revolution hätte zuerst
stattfinden sollen – in England –, wartet man noch heute vergeblich auf die
Erstürmung Westminsters durch das Proletariat. Zwar ist der derzeitige
britische Regierungschef Vorsitzender einer nominell sozialistischen
Arbeiterpartei, aber das ist doch eher ein Etikettenschwindel.
Wie dem auch sei, ich schreibe Ihnen heute keineswegs, weil
es mir eine zweifelhafte Freude bereiten würde, Ihnen zu sagen, dass Sie von
der Geschichte Unrecht bekommen haben und Ketteler als einer meiner geistigen
und geistlichen Vorfahren Recht bekommen hat. Ein solches „Nachtreten“
entspräche nicht meinem Charakter.
Ich schreibe Ihnen ganz im Gegenteil, weil mir in letzter
Zeit die Frage keine Ruhe lässt, ob es am Ende des 20. Jahrhunderts, als der
„kapitalistische Westen“ im Kampf der Systeme den Sieg über den
„kommunistischen Osten“ errungen hatte, nicht doch zu früh war, endgültig den
Stab über Sie und Ihre ökonomischen Theorien zu brechen. Es sah zwar in der Tat
in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ganz so aus, als ob Sie sich
geirrt hätten. Die durch das Tarifsystem, die Arbeitnehmermitbestimmung und das
ganze Sozial und Arbeitsrecht zu einer Erwerbsbürgergesellschaft gewandelte
kapitalistische Industriegesellschaft hatte die Arbeiter von ausgebeuteten
Opfern des marktwirtschaftlichen Systems zu Teilhabern an dessen Erfolgen
gemacht. Wohlstand für alle schien möglich. Unter diesen Verhältnissen hatte
sich, um noch einmal Habermas zu zitieren, „der designierte Träger einer
künftigen sozialistischen Revolution, das Proletariat, als Proletariat
aufgelöst“ (Habermas 1971, 229).
Inzwischen werden wir aber darüber belehrt, dass diese
integrierte Erwerbsbürgergesellschaft des 20. Jahrhunderts der historische
Ausnahmefall gewesen sei, von dem wir Abschied nehmen müssten. Und das sagen
uns nicht etwa die Ihnen und Ihren Theorien verbliebenen Anhänger, sondern das
sagen uns manche Wirtschaftsexperten und Politiker. Deren Botschaft lautet: Die
heimeligen Zeiten des nationalen Wohlfahrtsstaates sind angesichts der
wirtschaftlichen Globalisierung zu Ende und kommen auch niemals wieder. Auf dem
neuen, weltweiten Markt gehe das Kapital in die Länder, in denen es sich am
freiesten entfalten könne und in denen es der Staat zur Finanzierung seiner
Aufgaben am wenigsten belaste und in Anspruch nehme. Insofern stünden auch die
Länder in einer internationalen Wettbewerbssituation und müssten ihre Standorte
attraktiv für Investoren machen. Im Zuge dieses Standortwettbewerbs ist
weltweit zu beobachten, dass die Steuern auf Unternehmenserträge und
Privateinkünfte gesenkt werden, während die von allen Bürgern zu zahlenden
Verbrauchssteuern und die kommunalen Abgaben steigen. Dass diese Entwicklung
vor allem zu Lasten der Ärmeren geht, ist wohl unbestreitbar.
Unattraktiv für die internationale Investorengemeinschaft
soll vor allem vieles von dem sein, was den Arbeitnehmern in den
hochentwickelten Ländern in den letzten Jahrzehnten lieb und teuer geworden
ist: Tariflöhne, ein hoher arbeitsrechtlicher Schutzstandard, Mitbestimmung und
ein starker Sozialstaat. Die Devise ist deshalb: Sozialabbau und Deregulierung.
Die Gewerkschaften laufen Sturm gegen diese Entwicklung, scheinen aber
zunehmend machtlos. Sie können sich in der globalisierten Wirtschaft nämlich
nicht mehr darauf beschränken, in nationalen Arbeitskämpfen die
Arbeitnehmerinteressen gegenüber den Kapitalinteressen zur Geltung zu bringen,
sondern sie müssen auch versuchen, das Kapital zu hindern, das zu tun, was
Arbeitnehmer in der Regel nicht so leicht können: das Land zu verlassen.
Zähneknirschend stimmen sie deshalb immer häufiger sogenannten „Bündnissen für
Arbeit“ zu, bei denen Arbeitnehmer für den gleichen, manchmal auch einen
geringeren Lohn länger und flexibler arbeiten, um drohende
Standortverlagerungen ihrer Betriebe zu verhindern.
Die beschleunigten Möglichkeiten des weltweiten Austauschs
von Informationen, Gütern und auch vielen Dienstleistungen haben in dem alten
Konflikt zwischen Arbeit und Kapital die Gewichte eindeutig zu Gunsten des
Kapitals verschoben. Ein zeitgenössischer Soziologe, Manuel Castells, spricht
von der modernen „Netzwerkgesellschaft“, in der die Formel gilt: „Kapital ist
im Kern global. Arbeit ist in der Regel lokal.“ Damit vergrößern sich die
Möglichkeiten der Investoren, Spekulanten und Finanzjongleure, während
diejenigen, die zum Erwerb auf ihrer Hände Arbeit angewiesen sind, ins
Hintertreffen geraten. „Unter den Bedingungen der Netzwerkgesellschaft ist das
Kapital global koordiniert, die Arbeit ist individualisiert. Der Kampf zwischen
unterschiedlichen Kapitalisten und diversen Arbeiterklassen ist unter den
fundamentalen Gegensatz zwischen der nackten Logik der Kapitalströme und den
kulturellen Werten der menschlichen Erfahrung subsumiert worden“ (Castells 2001,
533 f.).
Die „Modernisierer“, die die alten Wohlstandsgesellschaften,
die hochentwickelten Länder der westlichen Hemisphäre, auf
„Globalisierungskurs“ bringen wollen, klingen eigentlich überall gleich: Wenn
wir uns nicht grundlegend änderten, würden wir die Herausforderungen der neuen
Zeit nicht bestehen. Es sei zum Überleben unserer Gemeinwesen zwingend
notwendig, endlich einige schmerzliche Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen.
Zunächst einmal sollen wir Abschied nehmen von dem alten Ideal einer nivellierten
Mittelstandsgesellschaft, in der es keine sozialen Klassen mehr gibt. Die
Unterschiede zwischen Arm und Reich würden infolge der Globalisierung und der
notwendigen politischen Anpassungsmaßnahmen auch in Europa und Nordamerika in
Zukunft wieder zunehmen. Insbesondere die Arbeitnehmer müssten sich auf
Einschnitte gefasst machen, denn die Löhne in den hochentwickelten Ländern
seien viel zu hoch, um mit den in Entwicklungsländern gezahlten konkurrieren zu
können. Wenn die Arbeitnehmer nicht bereit seien, sich von ihrem
„Anspruchsdenken“ zu verabschieden, seien die Unternehmen gezwungen, in
Billiglohnländer abzuwandern und dort zu produzieren.
Aber damit nicht genug: Aufgrund der globalen Konkurrenz der
Standorte und des damit einhergehenden Verdrängungswettbewerbs sollen sich die
Arbeitnehmer außerdem darauf einstellen, dass immer weniger von ihnen
lebenslang ihren Arbeitsplatz werden behalten können. Deswegen sollen sie ihr
ganzes Leben lang lernen, um die immer wieder neuen Anforderungen des Marktes erfüllen
zu können. Denn wer heute nur über „unterentwickelte“ Fähigkeiten verfüge, so
belehrt man uns, der werde auch nur noch einen Lohn bekommen können, wie er in
den unterentwickelten Regionen dieser Welt gezahlt werde – oder er werde gar
keine Arbeit bekommen.
Trotz geringerer Löhne sollen sich die Arbeitnehmer aber
darauf einstellen, dass der Staat und die Sozialversicherungen ihnen künftig
keinen umfassenden Schutz mehr vor den Wechselfällen des Lebens garantieren
können. Deshalb sollen sie mehr Eigenvorsorge betreiben – für das Alter oder
für den Fall von Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Weltweit bemühen sich
Regierungen, in ihrem Wahlvolk Mehrheiten für einen entsprechenden Umbau der
nationalen Sozialsysteme zu gewinnen.
Es ist daher inzwischen so weit gekommen, dass das an sich
ja positiv besetzte Wort der „Reform“ keine zuversichtlichen Energien in den
Köpfen und Herzen der Menschen mehr hervorruft, sondern eher Ängste und
Befürchtungen. Der Gedanke des Fortschritts, der sich mit Reformprogrammen
verbindet, ist der Vorstellung einer notwendigen Anpassung an globale
Herausforderungen gewichen – Anpassungen, die in der Regel Einschränkungen und
finanzielle Einbußen bedeuten.
Mich als Bischof in der weltumspannenden katholischen Kirche
würde es freilich ein wenig beruhigen, wenn ich feststellen würde, dass mit den
Herausforderungen für die Menschen in den wohlhabenden Ländern dieser Welt
zugleich die Chancen derjenigen in den armen, bisher benachteiligten Regionen
steigen würden. Das ist aber leider nicht so. Das Wohlstandsgefälle zwischen
armen und reichen Ländern nimmt vielmehr zu; weltweit steigt die relative Armut
an. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass sich im Zuge der
weltwirtschaftlichen Entwicklung zwei voneinander grundlegend verschiedene
Gruppen von Ländern herausgebildet haben: einerseits Länder, die von der
Entwicklung profitieren, andererseits Länder, die den Anschluss verpasst haben
und weiter zurückfallen. Aber auch in den Ländern selbst – gerade auch in den
sogenannten Schwellenländern – verstärken sich die Unterschiede zwischen Arm
und Reich.
Die wirtschaftliche Globalisierung wird dabei im merkantilen
Verständnis vorangetrieben. Die Stoßrichtung geht von den reichen Ländern aus
in die ärmeren Länder, denen dann nahe gelegt wird, sich nicht abdrängen oder
ausgrenzen zu lassen. Das geschieht freilich nicht nur durch gutes Zureden. Der
Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die
Welthandelsorganisation üben auf Entwicklungsländer einen erheblichen Druck
aus, damit diese ihre Kapital und Gütermärkte öffnen. In einigen auf Kredite
dieser Institutionen angewiesenen Ländern haben IWF und Weltbank die
grundsätzliche Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik nahezu vollständig
an sich gezogen – nicht selten zur Freude ausländischer Spekulanten und zum
Schrecken der einheimischen Bevölkerung.
Ich habe überrascht festgestellt, dass Sie, Herr Marx,
bereits vor 150 Jahren vorhergesagt haben, uns stehe „die Verschlingung aller
Völker in das Netz des Weltmarkts und da mit der internationale Charakter des
kapitalistischen Regimes“ bevor (MEW 23, 790). Schon im Manifest der
Kommunistischen Partei haben Sie geschrieben: „Die Bourgeoisie hat durch die
Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch
gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der
Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind
vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt
durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten
Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern
den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate
nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht
werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten
Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und
Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und
nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger
Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“
Und man könnte meinen, man lese eine Kritik an der Politik
unserer heutigen internationalen Handels und Finanzorganisationen, wenn es
weiter heißt: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller
Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle,
auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. […] Sie zwingt alle
Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht
zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich
selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich
eine Welt nach ihrem eigenen Bilde“ (MEW 4, 466).
Betrachtet man die heutige weltwirtschaftliche Entwicklung,
scheinen Sie mit Ihrer Auffassung Recht gehabt zu haben, dass das Kapital
stetig nach seiner Vermehrung strebt, dass es in diesem Streben im wahrsten
Sinne des Wortes grenzenlos ist und dass die Tendenz zur ökonomischen
Globalisierung insofern dem Kapitalismus tatsächlich immanent ist.
Und Sie scheinen ferner mit der Prognose Recht gehabt zu
haben, dass von dieser Entwicklung vor allem der Kapitalist profitiert, in
dessen Händen sich immer mehr Kapital anhäuft. Denn es kann kaum bestritten
werden, dass bisher relativ wenige Menschen mit günstigen Ausgangspositionen
von dem Globalisierungsprozess profitieren, geschweige denn ihn aktiv
mitgestalten können. Im Mai 2003 äußerte sich Papst Johannes Paul II. in einer
Ansprache vor Sozialwissenschaftlern dazu in drastischen Worten: „Es ist
bestürzend, eine Globalisierung zu sehen, die die Lebensbedingungen der Armen
immer schwieriger macht, die nichts beiträgt, um Hunger, Armut und soziale
Ungleichheit zu heilen, und die die Umwelt mit den Füßen tritt. Diese Aspekte
der Globalisierung können zu extremen Gegenreaktionen führen: zu Nationalismus,
zu religiösem Fanatismus, sogar zum Terrorismus.“ Es ist unübersehbar, dass es
derzeit vor allem in den Industrieländern des Nordens und in einigen
Schwellenländern Gewinner der Globalisierung gibt, während sich die
Armutssituationen in weniger entwickelten Ländern vielfach vertiefen. Das
Gefälle zwischen Reich und Arm steigt in armen wie in reichen Ländern.
Weltweit leben heute eine Milliarde Menschen in extremer
Armut; sie müssen mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen, was heißt,
dass ihr Überleben unmittelbar bedroht ist. Setzt man die absolute Armutsgrenze
bei einem Einkommen von weniger als zwei Dollar pro Kopf und Tag an, so schätzt
man die Zahl derer, die ihr Leben unter dieser Grenze bestreiten müssen, auf
über 2,5 Milliarden. Dieser dramatischen Armut so vieler Menschen steht ein
ebenso dramatischer Reichtum einiger weniger gegenüber. Mehr als die Hälfte des
weltweiten Vermögens ist in der Hand von nur zwei Prozent der Menschheit; das
reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt alleine über 40 Prozent des
Weltvermögens. Auf die ganze ärmere Hälfte der Menschheit verteilt sich dagegen
lediglich ein einziges kümmerliches Prozent des Weltvermögens (Davies u. a.
2006).
Aber Sie scheinen nicht nur mit Ihrer Theorie von der
fortschreitenden Akkumulation und Konzentration des Kapitals Recht gehabt zu
haben, sondern auch mit Ihrer These von der Zentralisation des Kapitals, also
der „Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist, Verwandlung vieler
kleineren in weniger größere Kapitale. […] Das Kapital schwillt hier in einer
Hand zu großen Massen, weil es dort in vielen Händen verlorengeht“ (MEW 23,
654). Im globalen Wettbewerb können sich kleinere und mittlere Betriebe
tatsächlich immer schwerer gegen die Konkurrenz der Großen, insbesondere der
„Global Player“ behaupten. Um das festzustellen, reicht schon ein Blick in die
Innenbezirke europäischer oder nordamerikanischer Städte, in denen es immer
weniger kleine Händler und Fachgeschäfte gibt. Sie werden verdrängt von der
Konkurrenz der großen Handelsketten und Discounter. Von dieser Krise des
Einzelhandels sind inzwischen auch die großen Kaufhausketten ergriffen worden.
Nicht wenige Bürgermeister fürchten angesichts dieser Entwicklung eine
zunehmende Verödung der Innenstädte.
Ebenso wie viele Fachgeschäfte gehen immer mehr
mittelständische Unternehmen unter dem Globalisierungsdruck in die Knie. Von
ehedem 68 deutschen Rundfunk und Fernsehgeräte-Herstellern gibt es heute noch
ganze zwei als selbständige Unternehmen. Die übrigen 66 sind in größeren
Unternehmen aufgegangen, vom Markt verschwunden oder existieren nur noch als
Markenzeichen, das nunmehr auf Geräten ausländischer, oft asiatischer
Hersteller bei einigen Kunden die Illusion von „Made in Germany“
aufrechterhält. Selbst ein großes Traditionsunternehmen wie Grundig mit einst
fast 40 000 Beschäftigten musste 2003 Insolvenz anmelden. Mit der
Billigkonkurrenz aus Asien konnte das Unternehmen nicht mehr mithalten. Und so
wurde es von einem Symbol des deutschen Wirtschaftswunders zu einem Menetekel
für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Was für die Tendenz bei den Betrieben und Unternehmen gilt,
ist auch bei dem Einkommen der Einzelnen zu beobachten: Die Schere geht
auseinander – vor allem in den USA, dem kapitalistischen „Musterland“, das in
Europa als Vorbild angepriesen wird. Dort ist es tatsächlich zu beobachten: Die
Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer, und die ehemals
breite, sozial abgesicherte Mittelschicht gerät unter Druck. Von 1973 bis 1994,
so rechnet der amerikanische Ökonom Lester C. Thurow vor, ist das reale
Bruttoinlandsprodukt der USA um 33 Prozent pro Einwohner gestiegen. Der
durchschnittliche Wochenlohn für Arbeiter und Angestellte in nicht leitender
Funktion fi el im gleichen Zeitraum jedoch um 19 Prozent. 1994 waren die
amerikanischen Löhne für diese Arbeitnehmergruppe wieder auf demselben Stand wie
Ende der fünfziger Jahre. Das erklärt die erschreckende Zunahme der Zahl der
„working poor“ in den Vereinigten Staaten, also derjenigen Menschen, die trotz
Vollzeitbeschäftigung unterhalb der Armutsgrenze leben.
Im gleichen Zeitraum hat sich das Einkommen der
Spitzenverdiener jedoch vervielfacht. Verdiente ein amerikanischer Manager
Anfang der siebziger Jahre im Durchschnitt ungefähr das Fünfundzwanzigfache von
einem Industriearbeiter, so war es knapp 30 Jahre später bereits das
Fünfhundertfache. In den achtziger Jahren setzte eine ähnliche Entwicklung in
Großbritannien ein.
In den kontinentaleuropäischen Ländern, in denen sich starke
Gewerkschaften gegen die Durchsetzung von Lohnkürzungen stemmen und hohe
arbeits- bzw. sozialrechtliche Schutzstandards Entlassungen schwierig und teuer
machen, stellten die Unternehmen hingegen immer weniger Mitarbeiter ein. So
entwickelte sich parallel zu der angelsächsischen Tendenz der Reallohnverluste
in Westeuropa das Phänomen einer strukturell verfestigten Massenarbeitslosigkeit.
Eine wahrhafte Zentralisation des Kapitals aber findet in
den Händen der Reichsten der Reichen statt. Laut dem US-Wirtschaftsmagazin
Forbes gibt es im Jahr 2008 weltweit 1125 Milliardäre. Sie besitzen zusammen
rund 4400 Milliarden Dollar (2760 Milliarden Euro). Zum Vergleich: Das
Bruttoinlandsprodukt Deutschlands beträgt rund 2400 Milliarden Euro. Die Zahl
dieser „Superreichen“ steigt von Jahr zu Jahr. 2007 gab es weltweit 946
Milliardäre, 2006 793, und Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts
waren es erst 140. Ich will mit diesen Zahlen keinen Neid schüren. Und ich will
erst Recht nicht behaupten, dass ein Reicher ein schlechter Mensch wäre, bloß
weil er reich ist.
Es geht mir an dieser Stelle überhaupt nicht darum, das
Leben und Handeln Einzelner moralisch zu beurteilen. Ich möchte vielmehr eine
weltwirtschaftliche Entwicklung skizzieren, in der ich beunruhigend viel von
dem erkenne, worüber Sie, Herr Marx, geschrieben haben.
Ist es also an der Zeit, bei Ihnen Abbitte zu leisten? Ist
der Traum vom Wohlstand für alle in einer marktwirtschaftlichen Ordnung
ausgeträumt? Ist der Kapitalismus eine Episode der Geschichte, die zwar länger
dauert, als Sie im 19. Jahr hundert vermutet haben, die aber doch irgendwann zu
Ende gehen wird, weil das kapitalistische System an seinen inneren
Widersprüchen zugrunde gehen wird?
Dass es solche inneren Widersprüche gibt, kann kaum
bestritten werden. Der heutige Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Zeit
als Chef des Internationalen Währungsfonds einmal festgestellt: „Die extremen
Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr
zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität.“ Dieser Satz dürfte
auch für die eifrigen Kapitalisten unverdächtig sein.
In der Tat stellt sich die Frage, wie unsere freiheitlichen
Gesellschaften der westlichen Hemisphäre überleben wollen, wenn sie einerseits
die Demokratie, also politische Gleichheit für alle propagieren, sich aber
andererseits eine Wirtschaftsstruktur leisten, in der die Ungleichheiten in der
Verteilung der materiellen Güter und damit auch der Lebenschancen immer weiter
zunehmen. Sie, Herr Marx, haben davon gesprochen, dass die
bürgerlichkapitalistische Gesellschaft eine bloß formelle Freiheit garantiert,
die reelle Freiheit der Menschen aber sträflich missachtet. Und Sie haben
vorhergesagt, dass die Menschen sich das, was ihnen verweigert wird, irgendwann
nehmen werden.
Noch ist es freilich nicht so weit; die von Ihnen
prophezeite Revolution des Proletariats lässt weiter auf sich warten. Aber der
Kapitalismus steht in unseren Tagen erkennbar unter Rechtfertigungsdruck,
vielleicht so sehr unter Rechtfertigungsdruck wie in den letzten hundert Jahren
nicht mehr. Das ist noch nicht einmal 20 Jahre nach dem Sieg über den großen
ideologischen Gegenspieler, den Sowjetkommunismus, mehr als erstaunlich.
Die Anti-Globalisierungsbewegung ist zu einer
weltumspannenden politischen Größe geworden, die Menschen ganz
unterschiedlicher geographischer und sozialer Herkunft in dem Widerstand gegen
das internationale kapitalistische Regime vereint. Gewerkschafter und
Intellektuelle, Sozialisten und Christen, Jugendliche und Rentner, Studenten
und Landarbeiter protestieren Seite an Seite.
Und nicht nur an der Basis tut sich etwas, sondern auch an
der Spitze mancher Staaten. Südamerika etwa erlebt einen in der Geschichte noch
nicht da gewesenen Linksruck. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez führt
sich gelegentlich auf wie ein „linker Messias“ Lateinamerikas und probt mit seinem
„bolivarischen Sozialismus“ den Aufstand gegen das internationale
Wirtschaftssystem und die auf dem Kontinent einst allmächtigen Vereinigten
Staaten. Er hat die Ölindustrie Venezuelas weitgehend verstaatlicht,
amerikanische und europäische Konzerne teilweise enteignet und aus dem Land
vertrieben, er duldet Landbesetzungen auf dem Grund und Boden ausländischer
Unternehmen, droht mit der Verstaatlichung des Bankensektors und dem Austritt aus
IWF und Weltbank.
Auch die meisten anderen lateinamerikanischen Länder haben
inzwischen mehr oder weniger linke Regierungen. In ihrer Mehrzahl halten diese
zwar gebührenden Abstand zu Chávez und seinem Programm; sie proben keine
sozialistische „Revolution von oben“. Aber sie haben auch zu den USA ein
distanziertes Verhältnis. Nach Jahrzehnten enger wirtschaftlicher
Zusammenarbeit bringen heute viele Südamerikaner dem großen Nachbarn aus dem
Norden Misstrauen, nicht selten offene Feindseligkeit entgegen. Sie sehen in
den USA den Hauptakteur eines kapitalistischen „Neoimperialismus“. Die
Vereinigten Staaten ihrerseits blicken verständlicherweise mit Sorge auf diese
Entwicklungen in ihrer für sie so wichtigen Nachbarschaft.
Aber nicht nur in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern
nimmt die Zahl derer zu, die sich partout dem verweigern, was die
Globalisierung ihnen angeblich abverlangt. Auch in den alten Industrienationen
wehren die Menschen sich zunehmend. Zahlreiche Regierungen, die einen allzu
großen Eifer dabei an den Tag gelegt haben, durch Reformen in der Wirtschafts-
und Sozialpolitik ihre Länder auf Globalisierungskurs zu bringen, sind
abgewählt worden.
Manche Entwicklung in den letzten Jahren und Monaten hat ein
Übriges getan, um die Ängste der Menschen vor der Globalisierung zu schüren und
ihr Vertrauen in die Marktwirtschaft zu erschüttern. Unternehmen streichen
Milliardengewinne ein und bauen gleichzeitig Arbeitsplätze ab. Manager
verdienen Millionen und kritisieren gleichzeitig das „Besitzstandsdenken“ der
Arbeitnehmer. Und die internationale Finanzmarktkrise zeigt, wie stark schon
heute anonymes Kapital unser Schicksal bestimmt. Banken und Fonds
verspekulieren Milliarden, die Zeche zahlen andere: Nachdem man sich jahrelang
jede Einmischung des Staates in den Markt verbeten hat, muss der Steuerzahler
nun für die Spekulationsverluste der Banken einstehen. Mehr als neun Milliarden
Euro haben die staatseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die
Bundesregierung zur Rettung der Düsseldorfer Privatbank IKB ausgegeben. Die
Frankfurter Allgemeine Zeitung hat vorgerechnet, dass damit jeder deutsche
Steuerzahler rund 125 Euro unfreiwillig für eine Bank bezahlt hat, die
anschließend ein amerikanischer Finanzinvestor von nahezu allen Risiken befreit
praktisch geschenkt bekommen hat.
Und das ist ja kein deutscher Sonderfall. In Großbritannien
hat die Regierung die Hypothekenbank Northern Rock mit hohem finanziellem
Aufwand vor dem Kollaps gerettet. Und die US-Regierung bewahrte zunächst die
Investmentbank Bear Stearns vor dem Untergang, indem sie Risiken der Privatbank
bis zu einer Höhe von 30 Milliarden Dollar auf die amerikanische Notenbank
übertrug; und dann wurden die beiden größten Baufinanzierer der USA, Fannie Mae
und Freddie Mac, in staatliche Obhut genommen, was die amerikanischen
Steuerzahler ebenfalls noch viele Milliarden kosten wird. Und dem
Versicherungsriesen American International Group AIG kam die US-Regierung gar
mit einem Kredit von bis zu 85 Milliarden Dollar (60 Milliarden Euro) zu Hilfe.
Das sind alles private Unternehmen, deren sehr gut bezahlte
Manager über Jahre hinweg immer undurchschaubarere, waghalsigere Geschäfte
gemacht haben und die mit ihren Finanzprodukten die Gier ihrer Kunden
angestachelt haben. Diese Leute wussten durchaus, dass sie dabei hohe Risiken
eingehen. Aber das waren ja nicht ihre Risiken, sondern die Risiken ihrer
Kunden und ihrer Unternehmen. Und weil die moderne Wirtschaft ja durch und
durch vernetzt ist und weil der Finanzmarkt in gewisser Weise so etwas wie das
Herz des ganzen Systems ist, muss nun die ganze Gesellschaft, müssen
Bürgerinnen und Bürger, die mit diesen durchaus fragwürdigen Geschäften
überhaupt nichts zu tun haben, für die Verluste mit ihren Steuergeldern
einstehen. Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste werden sozialisiert.
Wenn das die Devise ist, dann darf man sich nicht wundern, dass laut einer
Studie der Bertelsmann Stiftung 60 Jahre nach Einführung der Sozialen
Marktwirtschaft 73 Prozent der Deutschen die wirtschaftlichen Verhältnisse
hierzulande für ungerecht halten.
Wird der Lauf der Geschichte Ihnen am Ende also doch Recht
geben, Herr Dr. Marx? Wird der Kapitalismus letztlich doch an sich selbst
zugrunde gehen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Ich hoffe das nicht. Das hat
mehrere Gründe. Zum einen sehe ich nicht, wie außerhalb eines marktwirtschaftlichen
Systems die große Zahl der heute weltweit lebenden Menschen mit den notwendigen
Gütern und Dienstleistungen versorgt werden könnte. Das alternative Modell der
Zentralverwaltungswirtschaft im Sowjetkommunismus jedenfalls ist vollständig
gescheitert, wie es Papst Leo XIII. fast dreißig Jahre vor der
Oktoberrevolution 1917 vorausgesehen hatte (vgl. Rerum novarum 3).
Mir ist bewusst, dass nicht Sie, sondern Ihre
bolschewistischen „Jünger“ dieses Wirtschaftssystem erdacht und ins Werk
gesetzt haben. Aber wo auch immer im Lauf der Geschichte Menschen versucht
haben, Ihr Programm der Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu
verwirklichen, lief es letztlich auf eine Verstaatlichung hinaus. Das sollte
Ihnen zu denken geben. Und diese ungeheure Konzentration wirtschaftlicher Macht
in den Händen einer kleinen herrschenden Clique führte regelmäßig auch in die
politische Diktatur, bisweilen in die totalitäre Diktatur. Sie haben ganz
sicher nicht gewollt, dass in Ihrem Namen der Sowjetkommunismus errichtet
werden würde. Aber dass er in Ihrem Namen errichtet werden konnte, daran sind
Sie mit Ihren Schriften keineswegs unschuldig.
Die Folgen Ihres Denkens waren letztendlich verheerend. Der
„real existierende“ Sozialismus hat in den Staaten Osteuropas, wie Kardinal
Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI., im Jahr 2000 geschrieben
hat, „ein trauriges Erbe zerstörter Erde und zerstörter Seelen“ hinterlassen
(Ratzinger 2000, 9). Ich glaube, man kann hier erkennen, wie ein vollständig
falsches Menschenbild, umgesetzt in ein politisches Programm, sich ganz gegen
den Menschen richtet, mit furchtbaren Auswirkungen. In seiner Enzyklika Spe
salvi beschreibt Papst Benedikt XVI. sehr treffend Ihren grundlegenden Irrtum:
„Er hat vergessen, dass der Mensch immer ein Mensch bleibt. Er hat den Menschen
vergessen, und er hat seine Freiheit vergessen“ (Spe salvi 21).
Insofern bleibe ich – trotz allen Respekts für Ihre
scharfsinnigen Beobachtungen und Gedanken – ein entschiedener Gegner Ihrer
Theorien. Ich bleibe der Tradition meines Mitbruders Bischof Ketteler treu, der
sich wie Sie gegen einen primitiven und grenzenlosen Kapitalismus gewendet hat,
der das marktwirtschaftliche System aber nicht abschaffen, sondern sozial
weiterentwickeln wollte. Ketteler hat schon 1869 gefordert, für die
unbestreitbaren „einzelnen schlimmen Folgen desselben die entsprechenden
Heilmittel zu suchen und auch die Arbeiter, soweit möglich, an dem, was an dem
System gut ist, an dessen Segnungen, Anteil nehmen zu lassen“ (Ketteler Werke
I. 2, 438).
Dass es im 20. Jahrhundert in den früh-industrialisierten
Staaten tatsächlich gelungen ist, diese Forderung umzusetzen, war keineswegs
die Abkehr von dem „Königsweg“ eines absolut freien Marktes. Dieser „Königsweg“
war schon damals eine Sackgasse, und er ist es auch heute noch. Der
sozialreformerische Ansatz, den Kapitalismus zu „zähmen“ und ihn durch
ordnungspolitische Rahmensetzung zur Sozialen Marktwirtschaft hin
weiterzuentwickeln, war der einzig richtige Weg, und dieser Weg ist auch heute
ohne vernünftige Alternative. Das ist keine christliche Sozialromantik. Für
diesen Weg stehen auch die Namen von großen liberalen Ökonomen wie Ludwig
Erhard, Walter Eucken, Franz Böhm, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Alfred
MüllerArmack, um nur einige zu nennen. Ihnen war nach der menschlichen
Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs klar, dass die
Marktwirtschaft nicht als bloß ökonomische, sondern nur als auch dezidiert
moralische Alternative zum Marxismus eine Zukunft haben würde.
Ich halte an der damit begründeten Differenz zwischen einer
Sozialen Marktwirtschaft und einem ungebremsten Kapitalismus fest. Ich tue das
vor allem aus einer tiefen Überzeugung heraus, dass wir die sozialen
Beziehungen in unserer Welt nicht nur effizient, sondern auch gerecht gestalten
sollten. Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern hat, wie Alexander Rüstow
einmal treffend gesagt hat, „Dienerin der Menschlichkeit“ zu sein. Ich hoffe
und glaube auch, dass das sehr viele andere Menschen genauso empfinden und
denken. Aber auch denen, die diese moralische Überzeugung nicht teilen, rate
ich, sich zu überlegen, ob sie nicht wenigstens aus Klugheitserwägungen eine
Soziale Marktwirtschaft einem grenzenlosen Kapitalismus vorziehen wollen, denn
ein „primitiver Kapitalismus“ richtet sich gegen den Menschen und wird deshalb
niemals auf Dauer akzeptiert werden. Johannes Paul II. sagt es klar: „Die
marxistische Lösung ist zwar gescheitert, aber nach wie vor bestehen Formen der
Ausgrenzung und Ausbeutung, insbesondere in der Dritten Welt, sowie
Erscheinungen menschlicher Entfremdung, besonders in den Industrieländern,
gegen die die Kirche mit Nachdruck ihre Stimme erhebt. Noch immer leben Massen
von Menschen in Situationen großen materiellen und moralischen Elends. Sicher
beseitigt in vielen Ländern der Zusammenbruch des kommunistischen Systems ein
Hindernis in der sachgemäßen und realistischen Auseinandersetzung mit diesen
Problemen, er reicht aber nicht aus, sie zu lösen. Es besteht die Gefahr, dass
sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die es ablehnt, diese
Probleme auch nur zu erwägen. Sie geht vom Vorurteil aus, dass jeder Versuch,
sich damit auseinanderzusetzen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sei, da
sie die Lösung dieser Probleme in einem blinden Glauben dem freien Spiel der
Marktkräfte überlässt.“ (Centesimus annus 42)
Es ist schon eine merkwürdige Ironie der Geschichte, lieber
Namensvetter, diejenigen, die Ihre Theorien heute noch wahr werden lassen
könnten, sind nicht nur die Marxisten, sondern auch die Kapitalisten, weil sie
zu vergessen drohen, dass Politik anders als Wirtschaft funktioniert und dass
man Bürger und Wähler nicht wie Arbeitnehmer entlassen kann. Ich möchte meinen
Brief an Sie beschließen mit einem Satz von Oswald von Nell-Breuning, wie Sie
ein Sohn der Stadt Trier und der wohl bedeutendste Vertreter der katholischen
Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert: „Die katholische Soziallehre sieht in
Marx ihren großen Gegner; sie bezeugt ihm ihren Respekt“ (Nell-Breuning 1967,
374).
In diesem Sinne grüßt Sie Ihr
Reinhard Marx Erzbischof von München und Freising
Der Abruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Erzbischöflichen Ordinariats München und Freising und des Verlages Droemer und Knaur.
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