Erschienen in Ausgabe: No 47 (1/2010) | Letzte Änderung: 19.01.10 |
Andreas Brenner, Leben, Erschienen in der Reihe Grundwissen Philosophie, Philipp Reclam jun. Stuttgart 2009, 113 S., ISBN 978-3-15-020328-6
von Karim Akerma
Dieses Buch zu lesen
belebt. Auf vergleichsweise wenigen ihm zur Verfügung stehenden Seiten gelingt
es Andreas Brenner, mehr als eine Einführung zu bieten. Der Band „Leben“ aus
der Reclam-Reihe „Grundwissen Philosophie“ enthält keine schlichte
Aneinanderreihung bekannter Positionen, die bereits aus anderen Darstellungen
bekannt sein mögen. Vielmehr versteht es der Autor, die Ansichten berühmter wie
auch weniger bekannter und zu entdeckender Denker so zu organisieren, dass
seine eigene Idee zunächst keimhaft, dann immer deutlicher hervortritt. Man
könnte sagen: Er erhält sich mit seiner Lebens-Deutung über dem Wechsel der
untersuchten philosophiegeschichtlichen Stoffe und der betrachteten Positionen.
Brenners Aussage lautet: Kein Leben ohne Selbst oder Innerlichkeit. Damit
schwört der Autor der fast allgegenwärtigen Gleichsetzung von DNS oder
Proteinbiosynthese mit dem Phänomen des Lebens Seite um Seite ab und schafft
geistigen Nährboden für vielversprechendere Sichtweisen. Der Leser sinkt
erleichtert zurück und wird lesehungrig in Ansehung des philosophiegeschichtlichen
Stoffwechsels, über dem Brenner sich organisiert. Kapitelüberschriften:
Die Frage aller Fragen
Leben erkennen als Erkenntnisproblem
Lebensfelder (mit Abschnitten wie „Leben und Seele bei Aristoteles“,
„Der Triumph des Materialismus“, „Neodarwinismus“, „Neovitalismus“, „Leben als
Selbst“).
Lebenstheorien („Lebendige Information: die Kybernetik“, „Autopoiesis“,
„Leben in der Zielorientierung: Teleologie“ u.a.m.).
Künstliches Leben? („Synthetische Artefakte der Computerscience“)
Leben als offene Frage
Für seinen Gewinn des Selbst als Lebenselixier weist Brenner romantische
Wurzeln nach. Wegweisend ist hier sein Satz: „Die von der Romantik vermittelte
Rückwendung zum Subjekt der Frage stellt dieses an den Anfang und in die Mitte
der Frage.“ (27 – alle Zahlen ohne nähere Angabe entsprechen Seitenzahlen im
besprochenen Buch) Und an dieser Stelle könnte die Buchbesprechung schon bald
mit den Worten schließen, diese Einführung sei ohne Tadel zu empfehlen, hätte
der Rezensent sich bei der Lektüre nicht folgende Notizen gemacht:
Selbstloses Selbst?
Problematisch scheint bereits, dass es dem Autor eher um „das Leben“ oder
„belebte Materie“ geht, als um einzelne „lebende Wesen“. In der uns umgebenden
Welt treffen wir jedoch keinen homogenen „Lebensstoff“ an, sondern stets nur
individuelle lebende Wesen. Was aber viel wichtiger ist: Leitbegriffe für die
Erschließung von Leben und Lebendigem sind dem Autor das Selbst und eine
Innenperspektive, ohne dass bis ins Letzte deutlich würde, ob Brenner – wo er
sich der Ausdrücke Selbst oder Innerlichkeit bedient – auch eine
zumindest basale Form von Subjektivität (Empfindung des Selbst und durch das
Selbst) stets mitdenkt oder nicht. Das Konzept „Leben als Selbst“ scheint bei
Brenner auf zwei unterschiedliche Weisen inhaltlich gefüllt: Zum einen bedeutet
ihm dieses Konzept, dass es ein Organismus selbst ist, der etwas tut, der aktiv
ist. Zum anderen aber soll mit dem Selbst-Begriff angezeigt sein, dass ein
lebendes Wesen ein Selbst im Sinne von Innerlichkeit oder Bewusstsein hat.
Weder wird klar, welchem Selbst-Begriff Brenner den Vorzug gibt, noch, ob er
sich des Oszillierens seiner Begrifflichkeit überhaupt klar ist. In der
Mehrzahl verweisen seine Ausführungen auf einen selbstlosen Selbstbegriff, auf
die Selbsttätigkeit eines Organismus, ohne dass der betreffende Organismus als
lebendes Wesen essentiell zugleich ein erlebendes Selbst sein müsste.
Einmal sagt Brenner: „Das Lebendige erweist sich demnach von seiner Art her als
etwas, dessen Verständnis nur von der Innenperspektive her möglich ist.“ (39)
Um im nächsten Satz einen vermeintlichen Gewährsmann herbeizuziehen: „So
spricht der französische Physiologe Claude Bernard (1813–1878) mit Bezug auf
eine Zelle vom milieu intérieur.“ (Ebd.) Bernard selbst erläutert dieses milieu
intérieur nun aber keineswegs im Sinne einer bewusstseinsmäßigen
Innenperspektive, die einer jeden Zelle zugeschrieben werden müsse. Bernard
erläutert seinen Begriff folgendermaßen: »Je crois avoir le premier insisté sur cette idée qu’il y a pour l’animal
deux milieux: un milieu extérieur dans lequel est placé l’organisme, et un
milieu intérieur dans lequel vivent les éléments des tissus.» (Leçons sur les
phénomènes de la vie communs aux animaux et aux végétaux, Paris 1878, p. 113)
Für Bernard hat das innere Mileu nichts mit mentaler Innerlichkeit zu tun,
sondern bezeichnet schlicht den Umstand, dass die inneren Strukturen eines
mehrzelligen Organismus von Flüssigkeit umspült oder durchdrungen sind.
„Von Leben zu reden“, führt Brenner aus, gehe „so lange fehl, wie nicht die
Innenperspektive des Lebendigen in den Blick kommt.“ (94) Und wieder stellt
sich die Frage, ob mit dieser Innenperspektive nun ein Bewusstsein bezeichnet
ist oder nicht. Sehen wir, wie sich Brenner die Autopoiesistheorie Humberto Maturanas
einverleibt. Laut Brenner ist gemäß dieser Theorie das „Selbst“ die
organismische Einheitsstiftung (vgl. 88). Zugleich aber begreift Maturana in
der Deutung Brenners „Leben als geistiges Ereignis. Zentrum dieses Geistigen
kann aber muss nicht das Nervensystem sein. Alle Lebensformen, also auch jene
ohne ein Nervensystem, sind zu kognitiven Leistungen in der Lage.“ (56)
Maturana spricht nun aber vor allem deshalb von Organismen als autopoietischen
Systemen, weil es sich um „selbst“-herstellende Entitäten handelt, ohne dass
diese Selbstherstellung von einem eigentlichen Selbst im Sinne von
Bewusstsein/Mentalem begleitet sein müsste.
Verpflanzung des Selbst ins Reich der Gewächse und Körperzellen
Soll allem Lebendigen eine Innenperspektive, ein Selbst, zukommen, so darf sie
auch bei Pflanzen nicht fehlen, wenn Pflanzen Formen des Lebendigen sein
sollen. An Pflanzen macht Brenner ein intra- sowie ein interorganistisches
Kommunikationssystem aus. Demnach erkennen Pflanzen Gefahren und verteidigen
sich gegen Angriffe von außen. „Diese außergewöhnliche Fähigkeit wird
unterstützt durch ein Erinnerungsvermögen der Pflanzen. So konnte beobachtet
werden, dass sich beispielsweise Bäume daran erinnern, dass sie in
unregelmäßigen Abständen gegossen werden, und manche Pflanzen können sich auch
nach ihrer Verpflanzung an ihre früheren Nachbarn erinnern.“ (78f) Ob Bäume
auch nachtragend sind? Wir wollen nicht spotten und geben der Hoffnung
Ausdruck, dass Selbiges auf den Autor nicht zutrifft. Dem Rezensenten ist bei der
Lektüre nicht unzweideutig klar geworden, ob Brenner über eine „chemische
Kommunikation“ – im Sinne eines Stoffaustausches – hinausgehend tatsächlich an
Empfindungen bei Pflanzen glaubt. Sollte er dies nicht tun, hätte er vielleicht
gut daran getan, dies expliziter zu machen, da Leser seiner Einführung leicht
einen anderen Eindruck vermittelt bekommen.
Problembehaftet sind denn auch Brenners Ausführungen zu einzelnen Körperzellen.
Nachdem er bereits zwischen intra- und interorganistischer Kommunikation unterschieden
hat, will er die interorganistische Kommunikation auch noch für den
Binnenbereich von Organismen in Anwendung bringen (obwohl dieser Bereich doch
schon durch den Begriff „intraorganistische Kommunikation“ abgedeckt sein
sollte): „Die beobachtete interorganistische Kommunikation findet sich auch im
Organismus. Zellen verfügen demnach über die Fähigkeit, zwischen dem eigenen
Selbst und dem Nichtselbst zu differenzieren und mit anderen Zellen in eine
kommunikative Beziehung zu treten.“ (79) Problematisch an dieser Ausführung ist
zumindest, dass der uns als ein Selbst vorgestellte Organismus in einen Plural
weiterer Selbste aufgespalten wird. Demnach wären also nicht die Organismen die
lebenden Wesen, sondern die sie konstituierenden Zellen. Woher kommt dann aber
mein Selbstgefühl und in welchem Verhältnis steht es zu den Selbstgefühlen
jeder einzelnen meiner Körperzellen? An diesen Fragen kommen wir vorbei, wenn
wir annehmen, dass Brenners Wortwahl doch nur metaphorisch ist, dass Begriffe
wie „Innenperspektive“ oder „Selbst“ nur im Sinne einer „selbstorganisierenden
und selbstaktiven Potenz“ (93) ohne empfindendes Selbst gelesen werden sollen.
– Wie es denn unter gegebenen Bedingungen im Nanobereich auch die
Kohlenstoffatome „selbst“ sind, die sich zu einer Vielzahl räumlicher
Strukturen, darunter Röhren und Kugeln, anordnen, ohne dass hier Mentales im
Spiele wäre.
Zunächst unplausibel wird diese Lesart, wenn wir Brenners Ausführungen zu
Hunger und Atmung nachgehen, wo er sich mit Samuel Alexander (1859-1938)
beschäftigt. Bei Hunger und Atmung handele es sich um basale Empfindungen auf
einer Stufe des Mentalen weit unterhalb geistigen Selbstbewusstseins. „Den
dermaßen heruntertransponierten Begriff des Geistigen kann man auch auf Wesen
ohne neuronal-kortikalen Apparat anwenden, womit er dann alles Lebendige
umfasst.“ (67) Da Brenner nun nicht nur jeder Organismus als ein lebendes Wesen
gilt, sondern überdies jede einzelne Zelle, aus denen ein Organismus besteht,
liegt vor dem Hintergrund seiner Annahmen
nahe, dass Milliarden unserer Körperzellen Hunger verspüren, wenn wir selbst
hungrig sind. Die Frage nach dem lebenden Individuum scheint hier aus dem Ruder
gelaufen. Aber auch diese Deutung hat nur eine kurze Halbwertzeit, da Brenner
„Hunger und Atmung als Ausdrucksformen von Bewusstsein“ im Windschatten Samuel
Alexanders wie folgt erläutert sehen will: „Es handelt sich dabei um Prozesse,
die man auch als vor- oder als unterbewusst bezeichnen kann, denn sie finden
zwar auch im Zustand wachen Bewusstseins statt, sind aber von anderer Qualität
als ein mentales Geschehen, wie es sich am anspruchsvollsten im (reflexiven)
Selbst-Bewusstsein zeigt.“ (66f) Demnach gäbe es nicht-erlebten Hunger.
Zumindest der Rezensent sieht sich außerstande, dies zu verdauen und er möchte
den nach Wasser dürstenden Tafelschwamm tränken, um tabula rasa zu machen.
Einen Abschnitt zu Beginn seines Buches überschreibt Brenner mit dem
vielsagenden Titel „Die Bedeutung der Lebensmetaphern“. In enger Anlehnung an
Lily E. Kays Arbeit „Das Buch des Lebens“ bekennt er sich hier zu der Einsicht,
es handele sich bloß um eine anthropomorphisierende Redeweise, „wenn
beispielsweise die Rede davon ist, dass sich Moleküle ‚gegenseitig erkennen’“,
die die Tatsache verdecke, „dass die vermeintliche ‚Erkenntnis’ eigentlich eine
‚Passung’ nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip ist.“ (13) Demnach wäre das
vermeintliche Erinnerungsvermögen der Bäume nur metaphorisch aufzufassen.
Brenners Ausführungen zu den Pflanzen legen diese Deutung allerdings nicht
unzweideutig nahe. Denn anders als die erinnernden Bäume hat er das an früherer
Stelle Erläuterte in einer Fußnote zum Abschnitt über die Bedeutung der
Lebensmetaphern wieder „vergessen“, wenn er die Autoren Marc Kirschner und John
Gerhart zustimmend paraphrasiert, denen zufolge „Proteine in einer schwachen
Verbindung zur DNA stehen, was bedeutet, dass sie die DNA-Information deuten
können und quasi ‚frei’ in der Befolgung dieser Information sind.“ (103, Anm.
90).
Beim Umgraben der Ideengeschichte des Lebens trifft Brenner nicht zuletzt auf
Hans Jonas. An seiner Philosophie des Organismus stellt er heraus, „dass Leben
allgemein einen Innenhorizont habe“ (30). Leider versäumt es Brenner, die
Ungereimtheit herauszustellen, dass Jonas zwar einerseits Pflanzen als
Lebewesen ansieht, ihnen aber im gleichen die Innerlichkeit im Sinne basalen
Bewusstseins – die mit Lebendigkeit koextensiv sein soll – nicht zuspricht.
Jonas’ Naturphilosophie hätte Brenner als Wegscheide dienen können, sein
Zentralkonzept des Selbst entschieden entweder auf die eine Weise (Selbst als
selbst-tätiger Organismus) oder eine andere Weise (Selbst als erlebendes Wesen)
auszudeuten, statt es beim bereits bemängelten Sowohl-als-Auch zu belassen.
Wie ticken andere Kulturen?
Schon zu Beginn seiner Arbeit präsentiert sich Brenner als Parteigänger der
Antimechanisten, deren mechanistische Gegner sich mitunter dahin verstiegen,
die Existenz eines lebenden Wesen mit dem Ablaufen einer aufgezogenen Uhr zu
vergleichen. Sicher ist es vor diesem Hintergrund lohnend, den Geist der
„außereuropäischen Tradition“ (46ff) kontrastiv zu beleuchten. Doch hätte
Brenner gut daran getan, die europäische Tradition bis an ihre Anfänge
zurückzuverfolgen. So geht ihm zufolge der Gedanke einer Spontanerzeugung lebender
Wesen auf Hegel zurück (35). Indes kannte wohl schon der gottlos
philosophierende Vorsokratiker Anaximander eine Zoogonie und sogar eine
Anthropogenie: „Anaximander behauptet, die ersten Lebewesen seien im Feuchten
entstanden...“ (Die Vorsokratiker I, Philipp Reclam Jun., Stuttgart 1983, S.
79) Und: „Der Mensch sei aus einem anderen Lebewesen, d.h. einem Fisch
entstanden und diesem anfänglich ähnlich gewesen.“ (Ebd., S. 81). Wenn Brenner
mit Bezug auf seine Ausführungen über China, Indien und Afrika ankündigt, er
gebe Hinweise, „die für eine angemessene Beschäftigung mit der Frage nach dem
Leben unverzichtbar sind“, so fragt man sich in Ansehung einiger
Allgemeinplätze, mit denen man konfrontiert wird, worin die Unverzichtbarkeit
bestehen soll. Vielleicht wäre ein Hinweis angebracht gewesen, wonach zumal die
chinesische Zivilisation in Ermangelung des Glaubens an eine göttliche
Schöpfung aus dem Nichts weniger Schwierigkeiten mit der Idee einer
Wandelbarkeit der Arten hatte als das christliche Europa (für Näheres siehe
Joseph Needham, Wissenschaftlicher Universalismus, Suhrkamp, Ff/M 1979, S.
207ff). – Oder ein Verweis auf das Bedachtsein von Rückkopplungsmechanismen als
Kontrollsystem komplexer Organismen im Denken des Wang Fu-Chih (1619-1692),
laut Needham ein Proto-Theoretiker der Idee des dynamischen Gleichgewichts
(vgl. Joseph Needham, Wissenschaft und Zivilisation in China, Suhrkamp, Ff/M
1988, S. 323).
Von Descartes bis Mary Shelley
Wie in den meisten Darstellungen, wird Descartes leider auch in derjenigen
Brenners in ein vorgefertigtes Befragungsschema eingespannt, um seinem Werk
altbekannte Antworten abzutrotzen, die ihn neben Francis Bacon als einen Träger
der Urschuld an modernen Miseren dastehen lassen sollen. Dabei ist Descartes
nicht nur Autor mechanistischer Traktate, sondern auch Verfasser einer
Embryologie, in der der Umlauf von Flüssigkeiten die entscheidende Rolle für
das Hervorgehen der Organe während der Embryogenese spielt. Was über die von
Brenner betonte Metapher vom Körper-Automaten hinausweist.
Zum Ende des Abschnitts „Der Triumph des Materialismus“ findet Mary Shelley (1797-1851)
Erwähnung. Brenner rechnet sie offenbar unter die Gefolgsleute des
materialistischen Triumphzugs: „Sie erfindet in Frankenstein eine geniale
Forschergestalt, der es gelingt, einen Menschen zu schaffen. Diese noch
fiktionale artifizielle Lebensschöpfung hat auch die Naturwissenschaft nicht
zur Ruhe kommen lassen, die in unseren Tagen unter dem Titel der synthetischen
Biologie aus der Fiktion Realität werden lassen möchte.“ (24) Dem
materialistischen Siegeszug stellt Brenner in seinem Buch den nächsten – „Das
Gespür für den Zusammenhang: die Romantik“ betitelten – Abschnitt gegenüber,
offenbar nicht bedenkend, dass gerade Mary Shelley als eine der Hauptfiguren der
Romantik gilt.
Öfters haftet den von Brenner hergestellten Bezügen ein mehr als kühner, fast
schon lebenslustig zu nennender Zug an. So erläutert er in einem interessanten
Abstecher in die Gedankenwelt des Romantikers Novalis (1772-1801): „Mit Gedanken
lässt sich demnach das Leben nicht wirklich erkennen. In diesem Zusammenhang
redet Novalis mit Skepsis über die Möglichkeit, den ‚Buchstaben der Natur’
neuen Sinn zu verleihen. Mit verblüffendem Weitblick nimmt Novalis hier die
Entschlüsselung des Gencodes und die Entwicklung der Gentechnologie bis hin zur
synthetischen Biologie vorweg.“ (27) Mit ähnlichem Recht ließe sich sagen, der
Dichter John Milton habe mit Satans Reise durch den Weltenraum die moderne
Raumfahrt vorweggenommen.
Über Goethe führt Brenner aus, dieser habe zwar den Begriff des Systems mit den
Worten „Natur hat kein System“ abgelehnt, halte aber den Begriff der
Organisation, der erst im 20. Jahrhundert Bedeutung erlangt habe, für
angemessen (32). Für einen kurzen Augenblick (da ihm selbstverständlich
vertraut) übersieht Brenner, dass dem Begriff der Organisation bereits
in Kants Philosophie des Organismus eine entscheidende Rolle zukommt, insofern
Kant Organismen als „organisierte Wesen“ beschreibt. Laut Kant hat „die
Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir
kennen.“ (Kant, Kritik der Urteilskraft § 65) In Brenners Darstellung ist
weniger von den organisierten Wesen Kants die Rede, als vielmehr von „belebter
Materie“ (25). Fragwürdig an Brenners Erörterung der Kantischen
Naturphilosophie ist zudem, dass er den Teleologie-Kritiker Kant ohne nähere
Erläuterung folgendermaßen paraphrasiert: „Die Natur entfaltet sich nach einem
teleologischen Plan, der sich der kausal-deterministischen Erklärung eines Mechanismus
versperrt.“ (25)
Mit dem „Begriff des Systems“ habe Goethe (1749-1832) einen Begriff abgelehnt,
„der zweihundert Jahre später Karriere machen soll“, erläutert Brenner (32),
und bedenkt nicht, dass das, worauf Goethe abgezielt haben könnte, weniger der
systemtheoretische Lebensbegriff unserer Gegenwart gewesen sein wird, als etwa
das System des „Vaters der Taxonomie“: Carl Linnaeus (1707-1778).
Wiederum über Kant führt Brenner aus, er habe „bereits in der Kritik der
Urteilskraft, also 1790, den Prozess des Wachstums bei lebenden Organismen als
einen teleologischen beschrieben.“ (60) Außer Betracht lässt Brenner, die mit
Kant unvertrauten Leser dieses Bandes aus der Reihe Grundwissen Philosophie
darauf hinzuweisen, dass Kant – wie oben angedeutet – ein früher Kritiker
teleologischen Denkens ist und sein Gebrauch der teleologischen Denkform dem
Vorbehalt eines regulativen Prinzips, einem Als-Ob, untersteht, welches nicht
mit Naturerkenntnis gleichzusetzen sei.
Die Reclam-Reihe Grundwissen Philosophie hat einen wissenschaftlichen Beirat
aus angesehenen Philosophen. Wünschenswert wäre gewesen, Mitglieder des
Beirates hätten Wissen und Fertigkeiten, aus denen sich ihr Ansehen speist,
noch stärker in die Begutachtung dieser lebendigen Einführung eingebracht, die
freilich auch in der vorliegenden Form durch das gegebene Leitmotiv eine
ungemein anregende Lektüre und allerlei Bedenkliches bietet. Doch urteile ein
jeder selbst!
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