Erschienen in Ausgabe: No 49 (3/2010) | Letzte Änderung: 26.02.10 |
Leonardo Boff, Tugenden für eine bessere Welt, Aus dem portugiesischen übersetzt von Bruno Kern, 352 Seiten, Butzon & Bercker, Publik-Forum Edition, Kevelaer 2009, ISBN: 978-3-7666-1285-4, Preis: 29,90 Euro.
von Stefan Groß
„Zivilisatorische Krise“ und „Planetarische Phase“, zwischen
diesen beiden Stichworten spannt sich die neue Tugendlehre von Leonardo Boff,
1985 wegen Fehlverhaltens vom Vatikan gerügt und mit einem längeren Rede- und
Lehrverbot belegt, aus. Boff, gemäßigter Vertreter der Befreiungstheologie, plädiert
in seinem neuen Buch „Tugenden für eine bessere Welt“ für eine globale Ethik,
die Züge von Hans Küngs „Projekt Weltethos“ trägt. Für eine planetarische
Ordnung muß es ethische Minimal-Standards geben, die allgemein verbindlich und
von jedermann respektiert werden sollen. Dabei geht es dem katholischen
Theologen keineswegs um einen rigorosen Pflichtenkatalog kantischer Provenienz,
sondern insbesondere, um mit Max Scheler zu sprechen, um eine materiale
Werteethik, die gebietet, zugleich aber auch die Materie der Pflicht mit bedenkt.
Boffs utopisches Ideal bleibt dabei die globale
Weltgesellschaft mit einem christlich fundierten, aber auch
humanistisch-marxistisch geprägten Wertekanon, wobei vier Kardinaltugenden in
den Mittelpunkt der Diskussion gerückt werden, die das Fundament für die von
ihm ersehnte „Kultur der aktiven Gewaltlosigkeit und des Friedens“ bilden
können. Daß diese letztendlich aus der Spiritualität abgeleitet werden, wobei
das Individual- dem Gesamtwohl, die Politik der Ethik untergeordnet wird, ist eine
der Prämissen des ehemaligen Doktoranten von Karl Rahner und Joseph Ratzinger,
der auch als Papst Benedikt XVI. eine Unterordnung der Politik unter die Ethik
fordert.
Boff will mit seinem pazifistischen Utopismus zugleich
jeglichem Freund-Feind Denken à la Carl Schmitt und Samuel Huntington
entgegensteuern, indem er für die zivilen Tugenden der Gastfreundschaft, des
Zusammenlebens, für Respekt und Toleranz sowie für die Tischgemeinschaft
plädiert. Eine Ethik der Zukunft, in deren Zentrum die Globalisierung der
„Gattung Mensch“ steht, ist per se nicht kompatibel mit der zerstörerischen
Dialektik von Freund und Feind, die Boff dann auch als historische markiert. Der
Absage an die historische Feind-Konstellation korrespondiert auf der anderen
Seite eine Philosophie des DU, die Boff in der Nachfolge von Martin Buber
entwirft. Das DU wird zum maßgebenden Bestimmungsgrund nicht nur der sozialen
Selbstfindung des Ich, sondern als der Andere, als das fremde Gegenüber gedacht,
zur Einbruchsstelle, die das jeweilige Ich nicht nur permanent nach sich selbst
fragen läßt, sondern diesem zugleich auch immer wieder seine Endlichkeit und
Fragilität vor Augen hält. Diesen Anderen, den ganz Anderen, interpretiert Boff
in der Nachfolge von Emanuel Lévinas als die Spur Gottes. Im Gesicht des
Anderen, das für seine Transzendenz steht, zeigt sich das Göttliche.
Anhand des griechischen Mythos von Philemon und Baucis entwickelt Boff dann eingehender seinen
Tugendbegriff der Gastfreundschaft, wobei nicht nur, à la Kant, postuliert
wird, daß der Mensch niemals bloß Mittel, sondern immer Zweck an sich selbst
ist, sondern auch, daß der Andere immer als Bild des Absoluten wahrgenommen
werden soll. „Der Andere ruft in uns das ethische Bewusstsein wach“ (S. 114).
Sowohl aus dem Humanum als auch vor dem Hintergrund christlicher Spiritualität
leitet sich für Boff die goldene Regel ab, die, wie er selbst schreibt, am
treffendsten der Philosoph Enrique Dussel für die notleidende Welt formulierte:
„Befreie die Armen“.
Mit diesem kategorischen Imperativ ist zugleich Boffs
utopisches Programm einer globalen Humanisierung verbunden, die nicht nur gegen
den neoliberalen Kapitalismus und den Mißbrauch der Biosphäre anstreitet,
sondern, à la Hans Jonas, für eine Verantwortung der Zukunft gegenüber
plädiert, die sich nicht auf ein verantwortlich-gegenseitiges Handeln von
Subjekten beschränken will, sondern die ganze Welt in ihre Handlungen mit einzubeziehen
sucht. Während sich für Jonas die Verantwortung für Künftiges aus der
„Heuristik der Furcht“ ableitet, spricht Boff von „dignitas terrae“ und vom „homo
sapiens et demens“.
In Anbetracht des zerstörerischen Potentials, über das die
Menschheit der Moderne verfügt, kann diesem nur begegnet werden, wenn anstelle
des abendländischen Individualismus eine neue Ethik als Herausforderung tritt, durch
die es möglicherweise gelingen kann, den Supergau aufzuhalten.
Immer wieder analysiert Boff in seinem neuen Buch die Welt
im Zeitalter der ökologischen Krise, kritisiert vehement die allenthalben
anzutreffende soziale Ungleichheit und fordert schließlich ein Ethos des
gemeinschaftlichen Handelns, eben eines, das auf den vier Tugenden basieren
soll. Bei aller Utopie, eines bleibt für Boff sicher: „Der Prozess der
Globalisierung führt zwangläufig zum Dialog aller mit allen“ (S. 143).
Daß für diesen Prozeß die ethische Grundlage einer
rechtverstandenen Demokratie sichergestellt werden muß, zieht sich wie ein
roter Faden durch das Buch des Theologieprofessors, der 2001 den Alternativen
Friedensnobelpreis für sein caritatives Engagement zugunsten der Ärmsten dieser Welt in
Empfang nehmen durfte. Dieses, sein Engagement für die Notleidenden – dies ist
und bleibt die Lebensleistung des „ehemaligen“ Franziskanermönches. Und sie tröstet
auch darüber hinweg, daß sein Tugendbuch letztendlich, wie einst das „Prinzip
Hoffnung“ von Ernst Bloch, nur mit Sollensforderungen aufwartet, die dann aber
doch ans Herz gehen. Nur: Ob sie von jenen gehört werden, an die sich das Buch
richtet, an die 20 Prozent der Reichen dieser Welt, dies mag man, leider,
bezweifeln. Doch nichtsdestotrotz ist dieser bittende und zugleich auch
warnende Auf-Ruf aus Brasilien einer, der dringend notwendig ist, soll sich das
Antlitz der Welt ändern. Boff weiß, und dies gibt er, zwischen den Zeilen, als
weise Drohung den Lesern mit an die Hand, daß sich die Ärmsten irgendwann ihre
Rechte zurückholen werden – und dies, wie derzeit schon in vielen politischen
Szenarien zu spüren, möglicherweise mit den schrecklichsten Mitteln der
Vergeltung. Um diesem Inferno zu entgehen, das keineswegs utopisch ist,
gebietet sich, schon aus Gründen der bedächtigen Weisheit, ein Umdenken, wie es
Boff fordert. Sein Tugendbuch bleibt gewichtig, wenngleich viel Bekanntes darin
zu finden ist.
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