Erschienen in Ausgabe: No 47 (1/2010) | Letzte Änderung: 21.12.09 |
von Peter Sloterdijk
Schopenhauer ist der erste Denker
ersten Ranges gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten
ist. Neben Marx und den Junghegelianern war er derjenige, der den
revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts in der prinzipiellsten Form
vollzogen hat. Bei ihm beginnt die lange Agonie des guten Grundes; er gab den
griechischen und jüdisch-christlichen Theologien einen prägnanten Abschied. Das
Allerwirklichste hatte für ihn aufgehört, ein göttliches vernünftig-gerechtes
Geistwesen zu sein. Mit seiner Willenslehre springt die Theorie des Weltgrundes
um vom frommen Rationalismus, wie er von Platons Tagen an in Geltung war, zu
einer von Grauen und Staunen geprägten Anerkennung des Arationalen;
Schopenhauer statuiert zuerst die vernunftfreie Energie- und Triebnatur des
Seins. Darin ist er einer der Väter des psychoanalytischen Jahrhunderts; er
könnte sich künftig noch als entfernter Schutzherr und Verwandter eines
chaostheoretischen und systemischen Zeitalters erweisen. Daß er den asiatischen
Weisheitslehren, dem Buddhismus zumal, mit höchstem Respekt die europäischen
Türen geöffnet hat: darin könnte auf lange Sicht seine wichtigste
geistesgeschichtliche Wirkung liegen. Mag sein, daß seine Lehre von der
Resignation des Willens für den Lebenshunger der Menschheit in der heutigen Ersten
Welt noch befremdlicher klingen muß als für Schopenhauers Zeitgenossen, die
progressiven Positivisten und die menschheitsgläubigen Weltrevolutionäre; doch
erinnert sie auch heute daran, daß der entfesselte Lebenshunger die Probleme,
die sein freier Auslauf schafft, nicht durch seine weiteren Steigerungen wird
lösen können. Von Schopenhauer könnte der Satz stammen: Nur die Verzweiflung
kann uns noch retten; er hatte freilich nicht von Verzweiflung, sondern von
Verzicht gesprochen. Verzicht ist für die Modernen das schwierigste Wort der
Welt. Schopenhauer hat es gegen die Brandung gerufen. Nach ihm sind die Fragen
des Ethischen radikaler als je zuvor offen.
Aus:
Peter Sloterdijk: PHILOSOPHISCHE TEMPERAMENTE. Von Platon bis Foucault.
144Seiten, €14,95
ISBN:
978-3-424-35016-6,Diederichs Verlag
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