Erschienen in Ausgabe: No 47 (1/2010) | Letzte Änderung: 05.09.11 |
Zwischen Stillhalten und herausgehobener Stellung
von Henning Pietzsch
Die Ereignisse der Friedlichen Revolution werden derzeit vielerorts
gefeiert, das Thema in zahlreichen Neuerscheinungen gewürdigt. Eine davon ist
die von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen herausgebrachte
Broschüre des Erfurter Historikers Steffen Raßloff. Der Titel der Broschüre
„Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90“ verspricht auf
knapp siebzig Seiten eine umfassende Darstellung der Ereignisse. Neben einer
gelungenen allgemeinen Einleitung zur Friedlichen Revolution und zur
Wiedervereinigung erwarten den Leser vier Kapitel zu Verlauf und Geschichte: 1.
Die Ausgangssituation: Thüringen in der DDR, 2. Die Akteure: Bürgerbewegungen,
Blockparteien und Kirche, 3. Die friedliche Revolution von der Mai-Wahl bis zum
Wende-Herbst sowie 4. Der Weg in die Einheit: Vom Mauerfall zur
Wiedervereinigung.
Nach der Abschaffung der ursprünglichen Länder im Jahr 1952 und
Neustrukturierung in Bezirke bildeten in Thüringen die drei Bezirkshauptstädte
Erfurt, Gera und Suhl die Grundlage der neuen zentralistischen Verwaltungsstruktur.
Der Autor führt zu Beginn seiner Darstellung u. a. aus, dass das
gesellschaftliche und politische Klima in den drei Bezirken in den achtziger
Jahren besonders durch sogenannte „Hardliner“ in der SED-Führung und beim Ministerium
für Staatssicherheit (dem MfS mit drei Bezirksverwaltungen, 32
Kreisdienststellen, 1989 bis zu 7.000 hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern und rund
19.000 Inoffiziellen Mitarbeitern, S. 20) geprägt gewesen sei. Dies habe dazu
geführt, dass sich die Bevölkerung bis Anfang November 1989 weitgehend ruhig
verhielt. Nach Ansicht des Autors gehörte Thüringen „zumindest vor dem 09.
November 1989 nicht zu den spektakulären Zentren der Wendebewegung“ und die
thüringische Opposition nahm zunächst keine Vorreiterrolle ein (S. 20). Der
Blick auf die Akteure zeichnet dagegen ein etwas anderes Bild. Danach haben
zahlreiche Akteure bereits seit den Kommunalwahlen im Mai 1989 intensiv daran
gearbeitet, bestehende Netzwerke zu intensivieren und neue überbezirkliche zu
organisieren. Damit haben sie schon vor dem November 1989 wesentlich zur
Entstehung einer organisierten Bürgerbewegung beigetragen (S. 23). Erhard
Neubert kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: „Die drei Thüringer Bezirke
nahmen eine herausgehobene Stellung in der sich nun rasch entfaltenden
Revolution ein. […] Die politische Impotenz der SED-Führung gab den
oppositionellen Gruppen und Netzwerken enormen Auftrieb. […] Als neue
oppositionelle Formationen bildeten sich ab Juni 1989 in Thüringen wie in der gesamten
DDR Gruppen, die konzeptionell die bislang dominierende sozialethische
Ausrichtung um ein pragmatisches Politikverständnis ergänzten“ (Neubert: Es
kann anders werden…, S. 206).
Den entscheidenden Ausgangspunkt für die Friedliche
Revolution setzt der Autor mit den Kommunalwahlen im Mai 1989 an. Einem Zitat
Hermann Webers folgend schätzt er ein, dass das Aufdecken der Wahlfälschungen
und die folgenden Bürgerproteste ein Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins
gegen die Allmacht von Partei und Staat gewesen seien (S. 28). Vorerst blieben
die Widerstands- und Reformkräfte aber unter dem Dach der Kirche oder in ihren
politischen Zirkeln versammelt. Die Haltung des ehemaligen Landesbischofs
Werner Leich spielt dabei insofern eine bedeutende Rolle, weil er es vor allem
war, der den oppositionellen Gruppen bereits im September 1989 Raum und
Öffentlichkeit einräumte, als ein Teil seiner kirchlichen Amtskollegen noch zögerte
und kirchliche IM versuchten, dies zu verhindern oder doch zumindest zu verschleppen
„Dank der klaren Haltung der Kirchenleitungen und des vielfältigen Engagements
wurden die evangelischen Kirchen in Thüringen in den folgenden Wochen zu
Zentren der Revolution.“ (S. 29). Vor dem Hintergrund der nicht abzuschätzenden
Implosion der SED-Herrschaft sei „…die Rolle der Kirche in jeder Phase der
Wende kaum zu überschätzen.“ (S. 31 f.)
Als weiteren zentralen Faktor, der die Revolution erheblich
beschleunigte, führt der Autor die Fluchtbewegung an. Allein im September 1989
seien rund 25.000 DDR-Bürger geflohen. Zuvor hatten sich die Ungarn bereits im
Mai dazu entschlossen, die Grenzabsperrungen zu Österreich abzubauen und so ein
erstes Schlupfloch im „Eisernen Vorhang“ zu schaffen. Daneben eskalierten die
Botschaftsbesetzungen in Warschau, Prag und Budapest. Thüringen verließen
zwischen Ende 1988 und Ende 1990 laut Statistik 111.949 Bürger.
Die eigentlichen öffentlichen Proteste der Bürger,
Demonstrationen, gab es in Thüringen aber erst ab Mitte Oktober. Damit hingen
die Ereignisse denen in den Zentren wie Berlin und Leipzig hinterher. Zugleich
verweist der Autor auf Arnstadt. Hier fand am 30. September 1989 die erste
öffentliche Protestdemonstration in Thüringen mit ca. 150 Teilnehmern statt (S.
32). Diese Entwicklung setzte sich danach rasant fort. Auf dem Höhepunkt
versammelten sich in Erfurt am 26. Oktober 1989 insgesamt 100.000 Menschen. Die
Welle der Demonstrationen erreichte im Oktober ganz Thüringen (S. 34).
Nach der „Auflösungen der Grundfesten der SED-Herrschaft“ im
Oktober und November 1989 dynamisierten die Forderungen nach einem
einheitlichen Deutschland die Entwicklung hin zur Wiedervereinigung. Der Fall
der Mauer am 09. November 1989 war zugleich zentraler Ausgangspunkt eines quasi
parallelen Prozesses. Einerseits stieg die Fluchtbewegung noch einmal an,
andererseits bildeten sich rasch politische Gruppen und Parteien heraus, die
den Demokratisierungsprozess in der DDR voranbringen wollten (S. 46). Neben dem
zeitlich nachgelagerten weitgehenden Austausch der SED-Elite sollte die
Umbenennung des MfS am 17. November 1989
in „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) die innenpolitische
Lage beruhigen und stabilisieren. Dieser Plan verfing sich in der öffentlich
bekannt gewordenen Aktenvernichtung durch das AfNS (S. 47 ff.). Diese Vorgänge
führten am 04. Dezember 1989 in
Erfurt zur ersten „Erstürmung“, Besetzung und Sicherung der Bezirksverwaltung
durch Akteure der Bürgerbewegung. Zahlreiche Kreisdienststellen folgten. Die
letzte gesicherte Dienststelle in Thüringen war die der Bezirksverwaltung Gera
am 05. Januar 1990. Am 15. Januar 1990 erstürmten Bürger die letzte bestehende Dienststelle
der DDR, die MfS-Hauptzentrale, in Berlin. Entscheidender Impuls für die
folgende Wiedervereinigung seien dann aber die ersten freien Wahlen zur
Volkskammer am 18. März 1990 sowie der Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs-
und Sozialunion gewesen (S. 56 ff.). Seinen Abschluss fand dieser Prozess schließlich
am 03. Oktober 1990.
Im letzten Kapitel stellt der Autor auf knapp acht Seiten
historische Hintergründe und Motive dar, die zur Entstehung des Landes
Thüringen nach 1990 führten. Traditionelle Heimatverbundenheit, verlässliche
Identität und über-individuelle „Nestwärme“ bilden danach den Gegenraum zur
beschleunigten Modernisierung und Globalisierung (S. 69).
Der Autor spricht in der Broschüre viele Themen, Aktionen
und Akteure der Friedlichen Revolution an. Dabei hatte er eine Gratwanderung
zwischen den Vorbedingungen, den Ereignissen und der Entwicklung der Revolution
außerhalb der drei Bezirke genauso zu berücksichtigen wie Stationen und Verlauf
der Ereignisse in den drei Bezirken. Dadurch bleibt die Arbeit vor allem mit
Blick auf Letzteres teilweise bruchstückhaft und an Vorgängen orientiert, die
der Autor offensichtlich ausführlich kennt, was allerdings auch die Defizite in
der Thüringer Aufarbeitungslandschaft sichtbar macht. Viele Ereignisse in den
kleinen Orten sind bisher kaum recherchiert oder verifiziert. Erkenntnisse
darüber fehlen als Quellenbasis für eine „Gesamtschau“, die klarer
herausstellen könnte, warum in Thüringen eine Ambivalenz zwischen „Stillhalten“
und „herausgehobener Stellung“ zu resümieren ist.
Die Arbeit ist dennoch lesenswert und für einen ersten
Überblick über die Ereignisse in Thüringen im Herbst 1989 sehr zu empfehlen.
Steffen Raßloff:
Friedliche Revolution und Landesgründung in Thüringen 1989/90. Hg.
Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2009, 75 S., 3 €, ISBN:
978-3-937967-47-9
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