Erschienen in Ausgabe: No 48 (2/2010) | Letzte Änderung: 22.01.10 |
Wallace Stegner, Zeit der Geborgenheit, Titel der Originalausgabe: Crossing To Safety Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte, DTV, München (Juli 2008), 144 Seiten, Taschenbuch, ISBN-10: 3423246618, ISBN-13: 978- 3423246613, Preis: 14,90 EURO
von Heike Geilen
"Du hast doch
eine Menge Bücher geschrieben, Larry. Aber eins schreit noch danach,
geschrieben zu werden. / - Man kann nicht über seine Freunde schreiben. (...)
Was du in den Büchern findest, sind keine Menschen, sondern Konstrukte. Ob
Roman oder Biografie, das ist kein Unterschied, Ich könnte den echten Sid und
die echte Charity nicht beschreiben geschweige denn erklären, und wenn ich sie
erfinden würde, wäre das eine Verfälschung von etwas, was ich nicht verfälschen
will."
Diesen Dialog führt im letzten Roman des
Pulitzerpreisträgers Wallace Stegner (1909-1993) sein Ich-Erzähler Larry Morgan
- Stegners Alter Ego - mit der Tochter seines besten Freundes Sid. Und trotzdem
beginnt er zu schreiben. Obwohl er sich nachdenklich fragt, wie man ein viel
gelesenes Buch aus Gestalten, deren Leben so still verläuft wie bei diesen,
machen soll. Entstanden ist ein Klassiker der amerikanischen Moderne, der
wundervolle Roman "Zeit der Geborgenheit", die facettenreiche
Beschreibung einer fast lebenslangen und grundehrlichen Freundschaft zwischen
zwei Paaren.
Larry und Sally Morgan, aus dem Westen der USA, verschlägt
es während der großen Depression in den Dreißiger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts nach Madison, Wisconsin, wo sich Larry als Dozent am College seine
Sporen verdienen will. Dort treffen sie auf die Langs. Die beiden
Harvard-Absolventen Sid und Charity stellen genau das Gegenteil der
ehrgeizigen, aber mittellosen Morgans dar. Sie sind wohlhabend und genießen
gesellschaftliche Anerkennung. Doch von Anfang an empfinden beide Paare tiefe
gegenseitige Sympathie und Neugier aufeinander, so dass ihre großen
Unterschiede, was Herkunft, Status und Charakter angeht, nahezu spurlos
verschwinden. Fortan sind ihre Lebensläufe mehrfach miteinander verschränkt. "Wir, ein Asteroidenpärchen, wanderten
in ihr geordnetes newtonsches Universum ein, wurden von ihrer Gravitation
aufgesaugt und kreisten fortan als Monde um ihr Gestirn."
1972, nach knapp dreißig Jahren, treffen die beiden Paare
erneut zusammen, auch wenn der Anlass ein äußerst trauriger ist, denn die
ehemals rastlose und tatkräftige Charity Lang liegt im Sterben. Die resolute
Freundin hat noch einmal auf ihren Landsitz Battell
Pond, in Vermont,geladen ("Hier war und ist der Ort, wo in der
schönsten Zeit unseres Lebens die Freundschaft zu Hause war und das Glück
regierte"), um ihren Geburtstag zu feiern. Larry lässt dort die
gemeinsame Freundschaft bruchstückhaft Revue passieren. Es sind Gedanken und
Erinnerungen an glückliche, aber auch schwierige Jahre von vier Menschen, die
miteinander Freude, Schicksal, Hoffnungen und Niederlagen geteilt haben, an
denen jedoch alle vier - jeder auf seine Weise - gewachsen sind. Larry, der nur
kurz im akademischen Getriebe gefangen ist, wird zum namhaften Schriftsteller,
während der naturverbundene und ebenfalls lyrisch veranlagte Sid an der
Universität und der Leine seiner Frau verharrt, anstatt es seinem Freund gleich
zu tun. Sally wiederum, die Verständnisvolle und Einfühlsame, meistert nach
einem schweren persönlichen Schicksalsschlag - sie erkrankt an Kinderlähmung -
resolut ihr Leben als Körperbehinderte.
Charitys letzter Wunsch lässt die
bereits melancholische Stimmung nahezu emotional eskalieren.
In einfacher Sprache, mit kurzen, direkten Sätzen, schildert
Wallace Stegner eine komplexe Freundschaft und zwei Ehen, die von Anstand,
Loyalität und stiller Aufopferung geprägt sind. Der Roman offenbart großartige
Charakterstudien der vier Protagonisten. Die fein
austarierten Dialoge zeugen von großer Tiefe. Sie lassen nachdenken oder regen
zum Hinterfragen an. Zudem offenbart der Autor leise und malerische
Beobachtungen der Natur und gewährt nebenbei einen nuancenreichen und
vielschichtigen Einblick in die jüngste Vergangenheit Amerikas und die
Annäherung ihrer westlichen und östlichen Bewohner.
Die Schriftstellerei muss vor allem frei sein, sinniert
Stegners Alter Ego Larry, "sie muss
ihren eigenen Vorgaben gehorchen, nicht den äußeren Einflüsterungen. Die
Begabung hat ihre Rechtfertigung in sich selbst, und es kann nicht mit
Sicherheit bestimmt werden, ob das Produkt, abgesehen von der Berufung auf die
Nachwelt, wirklich einen Wert hat oder ob es nur der kurzlebige Ausdruck einer
Mode ist, die Befolgung eines vorgegebenen Musters." "Zeit der
Geborgenheit" zeugt auf jeden Fall von Wallace Stegners Begabung. Chris
Hirte hat den unnachahmlichen Duktus großartig ins Deutsche übertragen.
Fazit:
Pathetisch, aber niemals kitschig, ist der stille und
unaufgeregte Roman des leider viel zu wenig bekannten Autors des amerikanischen
Westens, großes und meisterhaftes "Gefühlskino". Ein Buch, nach
dessen Lektüre man über das Wort Freundschaft neu nachdenkt. "Zeit der
Geborgenheit" sollte und wird seine Lesefreunde bei Liebhabern amerikanischer
Literatur finden. Zeit wird es, an diesen wunderbaren Schriftsteller zu
erinnern.
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