Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 20.03.10 |
von Karim Akerma
Ihr Unglücklichen seid, Land, du bist zu beklagen!
Du entsetzliche Ansammlung, ach, aller Plagen!
Schmerz, der sinnlos doch ist, aber ewig nicht ruht!
Philosophen, getäuscht, sagen: „Alles ist gut.“
Kommt, das Unglück bedenkt! Aschenhaufen und Scherben,
Trümmer, Bruchstücke, Not, grauenvolles Verderben!
[Aus Voltaires Gedicht über die Katastrophe von Lissabon
oder Prüfung jenes Grundsatzes „Alles ist gut“]
Eine Frage schreit nach einer Antwort: Wer hat diese Welt
eingerichtet? Im Vorwort zu seinem „Gedicht über die Katastrophe von
Lissabon“ schreibt Voltaire (1694-1778): „Das Axiom ‚Alles ist gut’ erscheint
denen, die Zeugen dieser Katastrophen sind, ein wenig befremdlich. Alles ist
eingerichtet, alles ist geordnet, ohne Zweifel, durch die Vorsehung, aber es
ist nur allzu spürbar, dass längst nicht alles für unser gegenwärtiges
Wohlbefinden eingerichtet ist.“ (zit. nach: Die Erschütterung der
vollkommenen Welt, S. 58[1]).
Anlass, dies zu schreiben, findet Voltaire nicht allein vor dem Hintergrund des
Erdbebens von Lissabon 1755, sondern etwa auch auf dem geschichtlichen Boden
eines überlieferten Bebens in China im Jahr 1699 mit 400000 Toten. Die vom
China-Kenner Leibniz[2] (1646-1716) mit dem
Prädikat „beste aller möglichen“ versehene Welt ist ins Wanken geraten und
verlangt nach Stabilisierung.In seinem gegen Voltaire gerichteten „Brief über die
Vorsehung“ (a.a.O., S. 79-93) bringt Rousseau (1712-1778) vor, dem
zertrümmerten Erdboden Lissabons entwüchse nicht so sehr Bedarf an einer
Rechtfertigung Gottes (Theodizee): Wie konnte Gott dies zulassen, warum
richtete Gott die Welt nicht besser ein? Vielmehr sind laut Rousseau in der
Folge des Erdbebens Tun und Unterlassen des Menschen zu rechtfertigen: Warum
haben Menschen ihre Welt nicht besser eingerichtet? Warum erbauten sie
ihre Häuser nicht dort und dergestalt, dass eine Erschütterung der Erde nicht
Tod und Verderben für Tausende bedeutet? Indem er den Menschen als
Selbsterzeuger von Elend begreift, entschärft Rousseau in Ansehung des
Erdbebens von Lissabon die Dringlichkeit, eine Theodizee zu leisten. Der Suche
nach einer Theodizee stellt er die Frage an die Seite, wie in Anbetracht der Übel
der Welt menschliches Tun und
Unterlassen zu rechtfertigen sei. Auf diese Weise, mittels Entlastung des
Schöpfers, konstatiert er Bedarf an einer Anthropodizee, freilich ohne diesen
Begriff zu gebrauchen.
Statt zu Fragen, wie Gott von Schuldzuweisungen zu entlasten
sei, belastet Rousseau den Menschen: „Ich zeige den Menschen, wie sie ihr
Unglück selbst erzeugen, und folglich, wie sie es vermeiden können.“ (S. 81)
Unter den physischen Übeln seien die meisten unser eigenes Werk und somit
kurierbar. Seinem weniger optimistischen philosophischen Gegner Voltaire möchte
Rousseau mit Blick auf Lissabon das Eingeständnis abringen, „dass nicht die
Natur dort 20000 Häuser zu je sechs bis sieben Etagen erbaut hat, und dass der
Schaden, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger verteilt und in
leichteren Bauwerken gewohnt hätten, viel geringer oder vielleicht überhaupt
keiner eingetreten wäre.“ (S. 81)
Ganz ähnlich wie Rousseau, quasi rousseauistisch, urteilt
der mit den gesetzmäßigen Abläufen der Natur befasste Immanuel Kant (1724-1804)
in seiner „Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigen Vorfälle des
Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde
erschüttert hat“ (a.a.O., S. 108-136): „Es war nötig, dass Erdbeben bisweilen
auf dem Erdboden geschähen, aber es war nicht notwendig, dass wir prächtige
Wohnplätze darüber erbauten. ... Der Mensch muss sich in die Natur schicken
lernen, aber er will, dass sie sich in ihn schicken soll.“ (S. 131) Dies sind
Worte des jungen Kant, der später mit seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft den Glauben daran ins Wanken
zu bringen versuchen wird, die Dinge und Vorgänge der Natur seien um
unseretwillen da.[3] Was ihn nicht davon
abhält, die positive Kehrseite des Vorkommens von Erdbeben aus dem Erdinnern
ans Tageslicht zu fördern und in einer Überschrift „Von dem Nutzen der
Erdbeben“ zu reden. Wobei er einschränkend bemerkt: „Man wird erschrecken, eine
so fürchterliche Strafrute der Menschen von der Seite der Nutzbarkeit angepriesen
zu sehen.“ (S. 130)[4] Mit unserem überzogenen
Anspruch nur auf die Annehmlichkeiten des Lebens „wollen wir keine Vorteile mit
Unkosten erkaufen. Wir verlangen, der Erdboden soll so beschaffen sein, dass
man wünschen könnte darauf ewig zu wohnen.“ Lässt man sich auf das Kantische
Nutzenkalkül ein, so wurde per Vorkasse bezahlt, mit Menschenleben als Währung.
Den Nutzen projektiert Kant auf eine Weise in die Zukunft, die ihn als kühnen
Philosophen der Erdwärme dastehen lässt. Kant weiß um die mit zunehmender Tiefe
steigende Temperatur im Innern der Erde. Sie müsse zwar einerseits als Grund
für die Erdbewegungen und Erdbeben in Betracht gezogen werden, sei aber
zugleich auch Quelle gesundheitsfördernder Bäder. Und eben nicht nur dies –
Kant mutmaßt, ob nicht das unterirdische Feuer uns dereinst mit Wärme würde
versorgen können, wenn uns die Sonne die ihrige entzieht (vgl. S. 133). Mit
diesen optimistischen Reflexionen unternimmt es Kant, „den Menschen zu der
Dankbegierde gegen das höchste Wesen zu bewegen, das selbst alsdann, wenn es
züchtigt, verehrungs- und liebenswürdig ist.“ (S. 133) Als Bebenphilosoph
äußert sich der jüngere Kant hier noch unter Hintanstellung der eigenen
Urteilskraft, und man ist versucht, von einer besonders makabren Form von
Kadavergehorsam gegen die göttliche Vorsehung zu reden.
Erdbeben als Euthanasie
Kant führt aus: „Als Menschen, die geboren waren, um zu
sterben, können wir es nicht vertragen, dass einige im Erdbeben gestorben
sind...“ (S. 131) Während Kant eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellt, um die
weltbildgefährdenden Auswirkungen der humanen Katastrophe zu parieren,
unternimmt es Rousseau, sie uns als anonymen Gnadenakt schmackhaft zu machen.
Statt die göttliche Vorsehung anzuklagen, täten wir nach Rousseau gut daran,
menschliche Umsicht und weniger Hybris walten zu lassen und mit der Natur, statt über sie erhaben zu
bauen und zu leben. Trotz alledem absorbiert die Naturkatastrophe von Lissabon
seinen optimistischen Überschuss offenbar soweit, dass er sich genötigt sieht,
das Beben als Euthanasie zu denken:
„... die Natur bestätigt
es mir Tag für Tag, dass ein rascher Tod nicht immer ein Übel ist, und dass er
manchmal als ein relatives Gut angesehen werden kann. Mehreren von den vielen
Menschen, die unter den Trümmern von Lissabon zermalmt wurden, sind zweifellos
größere Unglücksfälle erspart geblieben, und obwohl eine entsprechende
Beschreibung etwas Rührendes hat und zur Poesie beiträgt, ist nicht gewiss,
dass auch nur ein einziger von diesen Unglücklichen mehr gelitten hat, als wenn
er den Tod, der rasch gekommen ist, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge in
dauernden Ängsten erwartet hätte.“ (S. 82)[5]
Mit dieser Wendung freilich spielt Rousseau nicht nur seinem
Zeitgenossen Voltaire und dem späteren Schopenhauer (1788-1860) in die Hände,
der sich bereits menschheitsvernichtende Naturkatastrophen ausmalen konnte.[6]
Vielmehr ist Rousseaus Ausführung geeignet, der Weitergabe menschlichen Lebens
an sich die bis dato selten hinterfragte Legitimität zu entziehen. Ist denn das
Leben und insbesondere das Lebensende, so müssen wir fragen, derart erbärmlich,
dass wir nur hoffen können, von einem Beben oder einer anderen Naturkatastrophe
dahingerafft zu werden, um nicht am Ende die Gabe von Schmerzmitteln
verweigernden Ärzten oder skrupellosen Verwandten ausgeliefert zu sein? Und,
nachdem Rousseau das Erdbeben von Lissabon als Euthanasie gepriesen hat, als
Heilsfaktor, der uns vor Schlimmerem bewahrt: Welches philosophische Antidot
hätte er gegen folgenden Gedanken aufzubieten, der sich in der Fluchtlinie
(oder sollen wir sagen: am rettenden Horizont?) seiner Erörterungen aufdrängt:
Wäre es nicht das beste, ein Asteroid stürzte auf die Erde, ausreichend massig
und schnell, um im Bruchteil einer Sekunde das Ende aller Lebewesen zu
bewirken? Gleich ob Mensch, ob Tier, allen empfindenden Wesen blieben
dergestalt die Fährnisse weiteren Lebens und Siechtum im Alter erspart. So
gesehen aber stellt sich die für diese Betrachtung entscheidende Frage: Warum
überhaupt Menschen hervorbringen, wenn zum Einzugsgebiet der Hoffnung der
Gedanke gehört, uns Menschen möge die Gnade einer Naturkatastrophe zuteil
werden, bevor Krankheiten uns ereilen? Anders als Voltaire, möchte Rousseau den
Menschen mit dem Vorkommen von Erdbeben versöhnen. Doch öffnet sein Versuch,
von göttlicher Rechenschaftspflicht abzulenken, einen Fragehorizont, an dem
sich Theodizee und Anthropodizee begegnen und hinter dem die Welt jäh aufhört,
eine von Menschen mit Menschen zu bevölkernde zu sein.
Rousseaus Anthropodizee
Als
Zeitgenosse eines Erdbebens, als Denker der Erschütterung, ist Rousseau
theodizeepflichtig. Er sucht sich dieser Aufgabe zu entledigen, indem er unter
der Hand den in anderem Kontext von Herder formulierten Topos vom Menschen als erstem Freigelassenen der
Schöpfung in Anwendung bringt. Wir nutzen die uns gegebene Freiheit zum
Bösen in einem Maße, dass die anthropogenen Übel bedeutender sind als die auf
die Natur zurückführbaren: „Was mich betrifft, so sehe ich, dass überall die
Übel, die uns die Natur auferlegt, weniger grausam sind als jene, die wir
selbst hinzufügen.“ (S. 82) Ein spätes Echo dieser gattungsnihilistischen
Sentenz ist die nachstehende Bilanzierung, in der Adorno (1903-1966) das
physiogene Übel gegen anthropogenes Leid aufrechnet: „Das Erdbeben von Lissabon
reichte hin, Voltaire von der Leibniz'schen Theodizee zu kurieren, und die
überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit
der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich
entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete.“
(Negative Dialektik, Suhrkamp, Ff/M 1982, S. 354) Wiewohl Rousseau in der
Welterschütterung die anklagenden Blicke von Gott abwendet und auf uns Menschen
lenkt und Adorno lange nach ihm ernüchtert bilanziert, rührt keiner von beiden
an das Urübel: Die Hervorbringung von
Menschen durch Menschen ist immer auch eine Auslieferung von Menschen an
Menschen. Was man von Rousseau kaum erwarten kann, hätte man bei Adorno
voraussetzen dürfen: Dass er nach Auschwitz die moralische Vertretbarkeit der
Fortzeugung in Frage stellt.
Indes stellt sich Rousseau diesbezüglich dem angrenzenden
Problemfeld des Suizids. Er nimmt die Natur als Quelle unterschiedlichster
Leiden wahr, und der Mensch ist ihm ein Erfindergenie, wenn es darum geht, das
naturgegebene Gepäck an Leiden zu multiplizieren. Und doch seien denkbare
Gipfel der Verzweiflung auf Erden bislang unerreicht. Rousseau entdeckt ein
quasi-anthropisches Prinzip:
Wären die Leiden
unerträglich, so würden die Menschen ihr Nichtsein dem Sein vorziehen.
Der Tatsache, dass es uns gibt, könne entnommen werden,
dass das Weiterleben für Wesen unseres Schlages keine Unzumutbarkeit darstellt.
Trotz aller Leiden muss demnach die Welt immerhin so gut
eingerichtet sein, dass suizidfähige Wesen es vorziehen, von ihrer Fähigkeit
zum Suizid keinen Gebrauch zu machen.
Rousseau: „Wie erfinderisch wir aber auch sein mögen, unser
Elend durch schöne Einrichtungen zu schüren, so konnten wir es bis jetzt doch
noch nicht darin so weit bringen, das Leben allgemein als Last hinzustellen und
das Nichts unsrer Existenz vorzuziehen, sonst wären die meisten bald von
Mutlosigkeit und Verzweiflung ergriffen worden, und das menschliche Geschlecht
hätte nicht lange bestehen können.“ (S. 82) Kurz: Die Existenz selbstmordfähiger
Wesen beweise, dass die Welt nicht allzu schlecht ist.
Aus dem quasi-anthropischen „Argument“ unseres puren
Gegebenseins auf Erden (in Ansehung der angeblichen Möglichkeit, jederzeit
Selbstmord begehen zu können) gewinnt Rousseau einen weiteren Gedanken, den er
gegen Voltaire vorbringt: „Wenn es also für uns besser ist zu sein, als nicht
zu sein, wird es zur Rechtfertigung unserer Existenz schon genügen, selbst wenn
wir keine Entschädigung für die Übel zu erwarten hätten, die wir zu erleiden haben,
und wenn diese Übel auch so groß wären, wie Sie schildern.“ (S. 82)
Bis hierhin sieht das Argument folgendermaßen aus: Unsere
Existenz beweist, dass es für uns besser ist zu sein als nicht zu sein (wäre es
besser für uns, nicht zu sein, würde es uns nicht geben, da schon unsere
Vorfahren es vorgezogen hätten, mittels Selbstmord aus dem Leben zu scheiden).
Dass es besser ist, zu sein als nicht zu sein, rechtfertigt unsere Existenz.
Was Rousseau hier zu leisten versucht, ist nichts Geringeres
als eine Anthropodizee: eine Rechtfertigung der Fortexistenz von Menschen – das
heißt immer auch: der Hervorbringung weiterer Menschen – in Anbetracht der
Möglichkeit des Nichtseinmüssens von Menschen (da ja jeder Daseinsunwillige
freiwillig aus dem Leben scheiden könne). Wobei unterbelichtet bleibt, dass der
Suizid keine bloß rationale Wahlentscheidung ist. Auch wenn ICH freiwillig aus
dem Leben scheiden möchte, will ES in mir fortexistieren. Diesen subpersonalen
„Willen“ zur Fortexistenz muss in über-menschlicher Anstrengung überwinden, wer
aus dem Leben scheiden will.
Freilich krankt Rousseaus quasi-anthropisches Argument (der
Umstand unserer Existenz beweise, dass die Übel der Welt nicht gar so schlimm
sein können) schon an seiner Darstellung, FÜR UNS sei es besser zu existieren,
denn nicht zu existieren. Wie die große italienische Journalistin Oriana
Fallaci (1929-2006) in ihrem Brief an ein nie geborenes Kind schrieb: „Io non avevo chiesto di nascere... Nessuno
lo chiede. Laggiù nel nulla non v’è volontà. Non v’è scelta. V’è nulla.
[Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden… Niemand bittet darum. Dort,
im Nichts, gibt es keinen Willen. Keine Wahl. Dort ist nichts.]” (O. Fallaci,
Lettera a un bambino mai nato, Mailand 1997, S. 89) Für MICH kann es nicht besser
sein zu existieren, als nicht zu existieren: Als ich nicht existierte, war da
niemand, auf den ein Besser oder Schlechter hätte in Anwendung gebracht werden
können. So geht Rousseau denn auch fehl, wenn er, gegen Voltaire gerichtet,
sagt: „Doch von welchen Übeln das menschliche Leben nach dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge auch übersät sein mag, es ist, alles in allem genommen, kein
schlechtes Geschenk.“ (S. 83) Dem lässt sich seine Aussage zuordnen, wir
vergäßen bei allem Kalkül nur allzu oft „das angenehme, von jeder anderen
Empfindung unabhängige Gefühl der Existenz“ (S. 82). Ein faszinierender
Gedanke, der jedoch unterschlägt, dass wir kaum je in den „Genuss“ einer
stimmungs- oder empfindungslosen Existenz gelangen.
Und hinsichtlich des geschenkten Lebens übersieht Rousseau:
Soll MIR etwas geschenkt werden, so setzt dies meine Existenz voraus. Folglich
kann man mir die Existenz nicht schenken. Vielmehr stellt sich für die bereits
Existierenden die Frage, ob sie in Anbetracht der von Rousseau diagnostizierten
menschenverursachten Leiden die Hervorbringung neuer Menschen rechtfertigen
können. Genau hier liegt der blinde Fleck Rousseaus: Er weiß um die wesentlich
anthropogene Herkunft menschlichen Elends. Er sieht nicht, dass
menschenverursachtes menschliches Elend allein unter der Voraussetzung
vorkommt, dass überhaupt Menschen hervorgebracht werden und dass in letzter
Instanz für menschliches Elend verantwortlich ist, wer weitere Menschen
hervorbringt.
Die Gnade eines lebensverkürzenden Erdbebens wurde dem von
Leiden nicht verschont gebliebenen Rousseau nicht zuteil. Im „Brief über die
Vorsehung“ zeigt er sich gegen Voltaire entschlossen, sich den Glauben an ein
besseres Leben nach dem elenden jetzigen nicht nehmen zu lassen: „Nein, ich
habe in diesem Leben zuviel gelitten, um nicht ein anderes zu erwarten.“ (S.
93) Am Ende vermag Rousseau die Last seines Daseins nur im Glauben an
jenseitige Kompensation zu ertragen. Die an den Anfang dieser Betrachtung
gestellte Frage: „Wer hat diese Welt eingerichtet?“, mündet mit dem
Ausgeführten in folgende Antwort: WIR richten die Welt fortwährend ein, indem
wir uns fortzeugen; wir statten sie mit Menschen aus, bevölkern sie trotz
Wissen um ihre geschichtlich überlieferte Unzumutbarkeit, ohne uns um die von
uns zugemuteten Leiden der künftigen terrestrischen massa damnata zu scheren.[7] Aber
als Freigelassene der Schöpfung, als kultivierte Wesen von Natur aus, haben wir
allen moralischen Grund dazu.
[1] Alle folgenden
Seitenzahlen ohne nähere Angabe beziehen sich auf den von Wolfgang Breidert
herausgegebenen Band „Die Erschütterung der vollkommenen Welt“,
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1994. Voltaires Gedicht ist dort
auf den Seiten 61-73 zu finden.
[2] Leibniz äußert sich zu
„Überschwemmungen, Erdbeben, Blitzschlägen und anderen Unordnungen, welche die
vernunftlosen Tiere nicht fürchten und welche die Menschen für gewöhnlich nicht
zu fürchten brauchen, da sie wenig darunter zu leiden haben. Durch tausend
gewöhnliche und beständige Bequemlichkeiten hat der Urheber der Natur diese und
andere nur selten eintreffende Übel kompensiert.“ (Leibniz, Theodizee, Verlag
von Felix Meiner, Hamburg 1968, S. 452)
[3] Gegen eine
Teleologisierung der Natur wandte sich schon Spinoza (1632-1677). Die da zu
zeigen suchten, „dass die Natur nichts vergebens (d.h., was für Menschen keinen
Nutzen hat) tue, haben... wir mir scheint, nichts anderes gezeigt, als dass die
Natur samt den Göttern ebenso wahnwitzig sei wie die Menschen. Man sehe doch
nur, wohin die Sache endlich führte. Unter so vielem Nützlichen in der Natur
mussten sie nicht wenig Schädliches bemerken, Stürme, Erdbeben, Krankheiten
usw.; und diese, behaupteten sie, seien deswegen da, weil die Götter erzürnt
wären über die ihnen von den Menschen angetanen Kränkungen oder über die in
ihrem Dienste begangenen Sünden.“ (Spinoza, Ethik, 36. Lehrsatz, Anhang,
Röderberg-Verlag, Ff/M 1982, S. 66)
[4] In seiner Abhandlung „Der
einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“
korrigiert sich Kant zu der Aussage: „Die Missetaten einer Stadt haben keinen
Einfluss auf das verborgene Feuer der Erde...“ Kant, Werke in 12 Bänden,
herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Suhrkamp, Fr/M 1977, Bd. 2, S. 668.
[5] Mit seiner Deutung des
Erdbebens als Euthanasie steht Rousseau nicht allein: Auch Johann Gottlob
Krüger (1715-1759) schreibt in seinen „Gedanken von den Ursachen des Erdbebens“
(in Breidert, Hg., S. 25-50) von 1756, dass „ein schneller Tod einem langsamen
und schmerzhaften weit vorzuziehen sei“ (a.a.O., S. 45f).
[6] Schopenhauer: „Unter der
festen Rinde des Planeten nun wieder hausen die gewaltigen Naturkräfte, welche,
sobald ein Zufall ihnen Spielraum gestattet, jene mit allem Lebenden darauf,
zerstören müssen; wie dies auf dem unserigen wenigstens schon dreimal eingetreten
ist und wahrscheinlich noch öfters eintreten wird. Ein Erdbeben von Lissabon,
von Haiti, eine Verschüttung von Pompeji sind nur kleine schalkhafte
Anspielungen auf die Möglichkeit. – Eine geringe, chemisch gar nicht ein Mal
nachweisbare Alteration der Atmosphäre verursacht Cholera, gelbes Fieber,
Schwarzen Tod usw., welche Millionen Menschen wegraffen; eine etwas größere
würde alles Leben auslöschen.“ Die Welt als Wille und Vorstellung II, Sämtliche
Werke, Suhrkamp, Ff/M 1896, Bd. 2, S. 747f.
[7] Dies bezeugen denn auch
die in leidkompensierender Absicht vorgebrachten Worte der haitianischen
Schriftstellerin Yanick Lahens zum Erdbeben am 12. Januar 2010: „Als wären wir
nur auf der Welt, um die äußersten Grenzen des Menschlichen auszumessen,
Grenzen der Armut und des Leidens; um diesen Prüfungen mit außergewöhnlicher
Kraft standzuhalten und sie in Lebenskraft, in rettende Kreativität
umzuwandeln. [...] Unsere Widerstandskraft gegen alle Übel, die uns trafen,
haben wir aus der dauernden Transformation von Schmerz in Kreativität
geschmiedet.“ (Aus: „Sind wir die Verdammten dieser Erde?“, Neue Zürcher
Zeitung, 20. Januar 2010).
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