Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 20.03.10 |
Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München (Deutscher Taschenbuch Verlag): 2008. 286 Seiten. EURO (D) 15,00. ISBN: 3423246537.
von Daniel Krause
Norbert Frei, Professor für Neue Geschichte in Jena, ist durch zahlreiche
Arbeiten zur Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland und seines
Nachwirkens in der Bundesrepublik hervorgetreten. So nimmt es nicht Wunder,
dass Frei sich u. a. dem Komplex ‚1968’ zuwendet: Eine ernsthafte
Selbstbefragung der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist erst durch die
Studentenbewegung und – etwa zur gleichen Zeit – durch die Frankfurter
Auschwitzprozesse erzwungen worden.
Norbert Frei stellt eingangs fest, dass es an polemischen Einlassungen über
‚1968’ nicht mangelt. (Die jüngsten Erregungen in den Feuilletons geben ihm
Recht.) Die Anzahl sachlicher Darstellungen ist weitaus geringer. Hier möchte
Frei Abhilfe schaffen. Um es vorwegzunehmen: Das ist ihm gelungen. Mag sich Jugendrevolte
und globaler Protest vergleichsweise harmlos (wiewohl nicht: belanglos)
ausnehmen, gewiss weniger fesselnd, weniger skandalisierend als Wortmeldungen
Alys oder Hans-Ulrich Wehlers: An Ausgewogenheit des Urteils und Sorgfalt ist
Frei den vorgenannten Autoren weit überlegen. Ihm ist ein Standardwerk gelungen,
das wissenschaftlichen Erfordernissen genügt, ohne an Lesbarkeit einzubüßen.
Wo Götz Aly, enfant terrible der deutschen Geschichtswissenschaft, die
Studenten des Jahres 1968 in
die Nähe Adolf Hitlers rückt (Unser Kampf) und Hans-Ulrich Wehler (Deutsche
Gesellschaftsgeschichte), praeceptor Germaniae in allen
vergangenheitspolitischen Belangen und Aly-Verächter, recht ähnliche Invektiven
vorbringt, wo Daniel Cohn-Bendit (1968 – Die Revolte) im Rückblick auf
eigene Taten ein durchaus aufschlussreiches Resümee zum Pariser Mai präsentiert
und – wegen Befangenheit – als verlässlicher Beobachter dieser Vorgänge
ausscheidet, wo ‚1968’ nach vierzig Jahren noch immer zum Skandalon taugt, da
wartet Frei mit staunenswerter, fast provozierender Gelassenheit auf: Seine
Sätze sind leichthin – wie nebenbei – gesagt, wenngleich mit Sorgfalt
konstruiert. (Frei hat – ungewöhnlich die Deutsche Journalistenschule München
absolviert.) Mehr noch: Zuweilen blitzt (durchweg subtiler) Humor auf, wenn
etwa von „verbaler Solidarität“ europäischer Studenten mit anti-kolonialen
Befreiungsbewegungen die Rede geht und der „Einsatz von Sammelbüchsen“ in
Fußgängerzonen – als Ausweis solidarischen Gebarens – zum Thema wird (213).
Zudem versteht es Frei wie wenige, selbst hochnotpeinliches Versagen diskret
und ohne den Gestus der Rechthaberei zu bezeichnen:
„[...] tatsächlich lagen dem Entwurf der Zukunft, an die man
glaubte, und des Reichs der Freiheit, für das man kämpfte, ausgesprochen
unterkomplexe Vorstellungen von der Funktionsweise moderner Gesellschaften
und Volkswirtschaften zugrunde: Rätedemokratie auf allen Ebenen und in
allen Bereichen, nichtentfremdete Arbeit, selbstbestimmtes Leben und Lernen,
antiautoritäre Erziehung, eine Welt ohne Gewalt und gleichwohl [!] ohne
Treibverzicht.“ (218)
Wichtigster Vorzug der Jugendrevolte: Sie ist global dimensioniert
und bezieht sogar Japan mit ein. (Besonders ist Frei dafür zu rühmen, dass die im
‚Westen’ schmählich vernachlässigten mittel- und osteuropäischen Länder
berücksichtigt werden: Polen und der Tschechoslowakei sind je eigene Kapitel
gewidmet.) Das deutsche 1968 wird aus internationalen Zusammenhängen
verständlich gemacht: Im Grunde hat alles in Berkeley begonnen. Die
Gegnerschaft zum Vietnam-Krieg, Bürgerrechte und popkultureller Hedonismus
sollten überall in der westlichen Welt als wesentliche Anliegen der
Studentenbewegung firmieren. In (West-)Deutschland tritt die verspätete Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus hinzu, ansonsten aber passen die deutschen
Studenten bestens ins Bild. Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit konnten bis in
die Technik des Protests hinein zu Anregern des Pariser ‚Mai’ geraten:
„Am 19. April ziehen mehrere Tausend Studenten mit
Spruchbändern durch das Quartier Latin: Gegen die Springer-Presse! Gegen die
Notstandspläne der Großen Koalition! Gegen Kiesinger! Man ist auffallend gut
informiert über die Situation im Nachbarland. Die Erklärung dafür liegt in dem
Umstand, dass sich in der französischen Hauptstadt einige Mitglieder des dort
inzwischen geradezu bewunderten SDS [Sozialistischer Deutscher Studentenbund]
aufhalten und den zerstrittenen [...] Gruppen die Notwendigkeit eines
gemeinsamen Vorgehens predigen.“ (12)
Norbert Frei, man sieht es, geht in die Details. Trotzdem entsteht an keiner
Stelle der Eindruck von Weitschweifigkeit. Kein Wort scheint überflüssig, und
jedes ist an seinem Platz. Auch fehlt es nicht an gedanklicher Vertiefung:
Unter der Überschrift „Was war, was blieb?“ wird die philosophische und
ethische Substanz der „Ideen von 1968“ diskutiert – ohne polemische Schärfe,
gleichwohl in ungeschönter Deutlichkeit. Womöglich ist dies der stärkste,
eindrucksvollste Abschnitt des Buches – zumal die besondere „Tücke des Objekts“
mit seltener Luzidität auf den Begriff gebracht wird: „“68“ ist eine Erfindung.
Gewiss war das 69. Jahr des 20. Jahrhunderts nicht arm an historisch
bedeutsamen Ereignissen, aber ebenso gewiss steht die im Nachhinein montierte
„Chiffre 68“ (Detlev Claussen) für weniger und mehr zugleich: Sie steht nicht
für ein einzelnes „kritisches Ereignis“ im Laufe dieses Jahres, sie steht auch
nicht für eine definierte internationale Summe solcher Momente, und sie steht
schon gar nicht nur für eine Vielzahl einschlägiger Geschehnisse in
unterschiedlich langen, von Fall zu Fall erst näher zu bestimmenden
Zeitabschnitten. „68“ ist mehr als der Inbegriff eines realen Geschehens. „68“
ist ein Assoziationsraum gesellschaftlicher Zuschreibungen und auktorialer
Selbstdeutungen, eine beispiellos florierende Begegnungsstätte, in der die
Aussagen der Akteure und die Entgegnungen ihrer Kritiker, die Wahrnehmungen der
Zeitgenossen und die Beobachtungen der Nachgeborenen aufeinandertreffen. „68“
ist das Ergebnis von Interpretation und Imagination im weltweiten „Schein der
Gleichzeitigkeit“. Genau darin liegt die historiographische Tücke des
Objekts.“ (211)
Wenn kritische Anfragen möglich wären – nicht vielmehr lachhaft hypokritisch
schienen – , so beträfen sie den deutschen und italienischen Linksterrorismus
(RAF bzw. Rote Brigaden), dessen Zusammenhang mit der Studentenbewegung
deutlicher hätte dargestellt werden können. (Freis Zurückhaltung ist recht
besehen durchaus am Platze: Das Thema ‚RAF’ würde eine weiteres
unüberschaubares Diskussionsfeld eröffnen.) Auch wäre das prekäre Verhältnis
westeuropäischer, darunter deutscher, Studenten zum Prager Frühling, zu
untersuchen: So mancher Seminarmarxist sah sich berechtigt, die tschechischen
Reformer als Renegaten des sozialistischen Traum denunzieren dürfen.
Zu guter Letzt: Die Sache ‚1968 selbst’ – rechtfertigt Norbert Freis gelassenen Ton, denn „so ernst, wie viele Parolen klangen, nahmen es (und sich) doch wohl nur wenige. Das Hermetische und das Fanatische, das Irrationale und das Unbedingte – und in diesem Sinne auch das Totalitäre –, das aus den Chefideologen der Revolte zweifellos sprach: Es war nicht das, was die Bewegung im Ganzen motivierte und vorantrieb.“ (217) Welches es war, das „die Bewegung vorantrieb“, ist gewiss nicht bündig zu beantworten. Es sind deren viele Beweggründe. Auch deshalb verbietet sich der inquisitorische Ton der Götz Alys und Hans-Ulrich Wehlers, die meinen, jene Studenten als Krypto-Nazis und verwahrloste „Oberklassenjugend“ verunglimpfen zu müssen. Wer ‚1968’ in seiner Widersprüchlichkeit und Fülle verstehen lernen will, sollte Freis Jugendrevolte konsultieren.
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