Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 20.03.10 |
von Heike Geilen
"Auf der Suche
nach einer möglichen Sensation sind den Medien heute oft alle Mittel Recht. Ein
selbstkritischer Zugang ist immer seltener vorhanden", stellt Peter
Vitouch, Medienpsychologe und Professor am Institut für Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft der Universität Wien fest. Die Sensationsgier der
Konsumenten tut ein Übriges. Jüngstes tragisches Beispiel - der Amoklauf eines
Schülers in Winnenden und die alles beherrschende minutiöse Berichterstattung.
Thomas Glavinic schildert und prangert diesen Medienhype in
seiner 2001 erschienen Novelle "Der Kameramörder" an.
Obwohl das schmale Büchlein recht harmlos beginnt - der
Ich-Erzähler und seine Lebensgefährtin besuchen über Ostern ein befreundetes
Paar auf einem Bauernhof in der westlichen Steiermark; man genießt das
gesellige Beisammensein - ereignet sich schon bald eine unerhörte Begebenheit:
ein Verbrechen, ein grausamer Mord an zwei Kindern, ganz in der Nähe. Die zwei
Pärchen erfahren es über Teletext aus dem Fernseher. Schon bald hält die
entsetzliche Tat ganz Österreich und Deutschland in Atem. Von überall her
reisen Reporter, Fotografen und Kamerateams an. Das Fernsehen berichtet live
aus dem Heimatort der Opferfamilie. Hier hat sich eine riesige Menschenmenge
eingefunden, die schäumend vor Wut Vergeltung fordert. Zudem wurde die
Ungeheuerlichkeit mit einer Videokamera gefilmt. Das Band befindet sich in den
Händen eines deutschen Privatsenders, der es ausschnittsweise auszustrahlen
gedenkt. Trotz diverser Protestaktionen vor dem Fernsehstudio fiebert die
Masse, und mit ihr die vier Freunde, der angekündigten Ausstrahlung entgegen, changierend
zwischen einer Mischung aus Abwehr und Sensationsgier. Der Ich-Erzähler
berichtet minutiös, beinahe ohne Punkt und Komma, über das Geschehen und die
schrecklichen Bilder des Mordvideos.
Thomas Glavinic treibt nicht nur mit seinen Figuren, sondern
auch mit seinen Lesern ein psychologisch fintenreiches Spiel. Er berichtet im
Stil einer reinen Nacherzählung. Die wörtliche Rede umgeht er komplett. Die
Sprache ist knapp, Sätze im einfachen, völlig emotionslosen Stakkatostil; ein
spröder, beinahe teilnahms- und emotionsloser, extrem sachlicher, von großer
Pedanterie geprägter Protokollton, der in absolutem Gegensatz zur Dramatik und
auch zur Grausamkeit der geschilderten Ereignisse steht, aber gerade dadurch
eine kumulierende Wirkung hat. Der Autor erzeugt einen Sog, dem der Leser sich
unschwer zu entziehen vermag. Man fliegt durch die Seiten, um "die
Bestie" enttarnt zu sehen. Und stellt sich dabei mehr als einmal die
Frage, wie man selbst reagieren würde, wenn... Trägt man als
"Zuschauer" oder Leser nicht auch Schuld an den verwerflichen
Auswüchsen der sensationslüsternen Medien? Ein dunkles Wechselspiel von Angebot
und Nachfrage. Der Amoklauf in Winnenden war erneut beredtes Zeitzeugnis.
Der Autor erklärt dazu in einem Interview: "Mich hat die Konstellation fasziniert. Ich gehe generell davon
aus, dass jeder Mensch ein Monster ist. Und dieses Monster ist in diesem Fall,
in diesem Buch ja nicht der Kameramörder - der ist zwar auch ein Monster, aber
der ist ein besonderes Monster und als solches nicht so gefährlich - sondern
das wahre Monster, das sind die anderen. Das sind die vier Leute, die vor dem
Fernseher sitzen, und die Leute, die in den Dörfern toben, damit sie den
Kameramörder in die Finger bekommen. Und das ist eben die Frage, inwieweit man
sich da jetzt als Leser innerlich distanzieren kann. Also ich zweifle daran.
Ich habe schon einige Reaktionen gehört von Leuten, die sich nach der Lektüre
überlegt haben, ob sie nicht möglicherweise nicht auch sehr monströs gehandelt
haben, als sie dieses Buch gelesen haben."
Fazit:
"Der Kameramörder" ist ein sprachlich und
stilistisch eindrucksvolles Psychogramm, das auf knapp 160 Seiten zu einem
kulminierenden Höhepunkt geführt wir und buchstäblich mit dem letzten Satz in
einem "Big Crunch" zusammenfällt. Obwohl das
Buch auf der Criminale 2002 in München mit dem Glauser-Preis ausgezeichnet
wurde, ist es kein Krimi im engeren Sinn. Eher kann man den
Roman als Satire auf unsere, von den Medien bestimmten Welt und die
Sensationslüsternheit der Menschen lesen.
Thomas Glavinic
Der Kameramörder
DTV, München (Oktober 2006)
160 Seiten, Taschenbuch
ISBN-10: 3423135468
ISBN-13: 978-
3423135467
Preis: 7,90 EURO
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.