Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 20.03.10 |
von Geraldine Ermisch
Im
Kapitel zehn „Die Moral der Gesellschaft: Paradigm Lost“ aus Reese-Schäfers
„Niklas Luhmann: Zur Einführung“ erläutert der Autor den Standpunkt des
Soziologen Luhmann in Hinblick auf die Rolle von Moral und Ethik in heutigen,
modernen Gesellschaften.
Zunächst
beschreibt Reese-Schäfer, dass die Moral, welche in Luhmanns Augen eine von
vielen auf Kommunikation beruhenden „Funktionssystem[en]“[1] der
Gesellschaft darstelle, sich des „Code[s] gut/ schlecht“[2]
bediene, um „im moralischen Bereich“[3] zu
werten.
Zudem
sei „Moralische Kommunikation“ stets „inklusiv“[4]. Man
könne niemanden „ausschließen“[5], nur
differenziert bewerten.
Die
Ethik sehe Luhmann dagegen als „Reflexionstheorie der Moral“ an. Ihre Aufgabe
sei es einerseits, die Moral zu beschreiben und „sie zu reflektieren“[6],
allerdings nicht zu begründen, andererseits solle sie als Vermittler zwischen
letzterer und der Gesellschaft fungieren.[7]
Auch
betont der Autor, dass nach Luhmann Moral die „Tendenz“ habe, „Streit zu
erzeugen, (...), und den Streit dann zu verschärfen“[8] und
dass es die Aufgabe der Ethik sei, „sich zu fragen, ob Moral selbst umstandslos
für gut gehalten werden kann.“[9]
An
dieser Stelle kommt Reese-Schäfer auf die Frage zu sprechen, ob Moral in der
modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft noch gebraucht würde beziehungsweise
moralisches Handeln noch möglich sei. In Konfliktsituationen wende man sich
heutzutage vermehrt an das Rechts- und das Wissenschaftssystem. Auf deren
Urteile könnten die „Restpotentiale“ der Moral Luhmanns Meinung nach
„zerstörerisch wirken“[10].
Würde das Rechtssystem einen Straftäter verurteilen, weil dieser in den Augen
des Richters „böse“ und nicht „unrechtmäßig“[11]
gehandelt hat, würde dieses System nach den Prinzipien der Demokratie nicht
mehr funktionieren. Auch in Bezug auf den von Max Weber eingeführten Begriff
der „Verantwortungsethik“[12],
welcher den Menschen nahe legen soll, dass sie bei ihren Handlungen auch stets
die Folgen ihres Handelns berücksichtigen müssen, sehe Luhmann den Begriff der
Moral entmachtet. Er wirft die Frage auf, ob im Falle von schlechten Folgen,
durch moralisches Handeln ausgelöst, überhaupt noch zu moralischem Handeln
geraten werden sollte und könne. Reese-Schäfer fasst Luhmanns Gedanken mit
folgenden Worten zusammen: „Die moderne Gesellschaft ist keine moralfähige
Agentur“.[13]
Luhmann
beschreibt die Funktionssysteme einer Gesellschaft als in der Theorie streng
voneinander getrennte, allein stehende, und erst in der Praxisdurch „strukturelle Kopplung“[14]
miteinander verbundene Systeme. Dies erscheint zunächst plausibel. Ob die
Wissenschaft etwas als „wahr“ oder „unwahr“[15]
beschreibt, ist für die Gesellschaft erst dann von Bedeutung, wenn dieses
Wissen durch strukturelle Kopplung, beispielsweise mit der Politik, in Form von
Gesetzen, umgesetzt wird.
Wie
Reese-Schäfer, der am Ende des Kapitels Luhmanns strikte Trennung zwischen
Moralsystem und den anderen Funktionssystemen kritisiert [16], bin
aber auch ich der Meinung, dass die Moral nicht eine Funktionseinheit nach Art
der Wissenschaft oder Wirtschaft darstellt. Der Autor spricht von einem
wechselseitigen Durchdringen („Interpenetration“[17]),
ich denke ebenfalls, dass eine auf einem „unbestimmte[n] (...) Normensystem“[18]
basierende Moral alle Funktionssysteme einer Gesellschaft beeinflusst. Auf
Vermeintlich „gutes“ oder „böses“ Handeln beziehungsweise gute oder böse
Entscheidungen trifft man im Wissenschaftssystem genauso wie im
Wirtschaftssystem, in der Politik ebenso wie in der Religion, teilweise unabhängig
davon, wie der jeweilige Teilbereich darüber geurteilt hat.Inwiefern sich diese System nach dem
bestehenden Normensystem richten und richten können, mag von System zu System
und auch von Zeit zu Zeit variieren. Eine gewisse „Abgrenzung gegenüber dem
Moralischen“[19], wie Luhmann sie
befürwortet, erscheint mir allerdings sinnvoll, da Moral nicht immer weiter
hilft und für die Lösung konkreter Konflikte möglicherweise hinderlich sein
kann. Doch sollte sie meiner Meinung nach in allen Bereichen beziehungsweise
Funktionssystemen als eine ArtKompass
fungieren und eine ungefähre Richtung angeben. Auch in Hinblick auf die
erwähnte Verantwortungsethik, würde ich in Fällen, in denen die Folgen einer
Handlung wirklich nicht absehbar sind, für den Versuch moralischen Handelns
plädieren.
[1] Walter Reese-Schäfer, „Niklas
Luhmann: Zur Einführung: Die Gesellschaf der Gesellschaft“ (S.12-36) und
„ Die Moral der Gesellschaft: Paradigm Lost“
(S.119-132), 5. Auflage, Hamburg: Junius Verlag, 2005, S.20.
[2] Ebenda, S. 119.
[3] Ebd.
[4] Ebd., S 121.
[5] Ebd., S. 122.
[6] Ebd., S. 120.
[7] Vgl., ebd., S. 123.
[8] Ebd., S. 122.
[9] Ebd., S. 123.
[10] Ebd., S. 124.
[11] Ebd., S. 119.
[12] Ebd., S.124.
[13] Ebd., S. 127
[14] Ebd., S. 126.
[15] Ebd., S. 119.
[16] Ebd., S. 129.
[17] Ebd.
[18] Ebd.
[19] Ebd., S. 124.
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