Erschienen in Ausgabe: No 51 (5/2010) | Letzte Änderung: 28.04.10 |
von Lisz Hirn
Hand auf´s Herz: Sind Sie bei
Facebook? Haben Sie einen persönlichen Account, den Sie regelmäßig nutzen, um
neue Freunde zu „adden“ und sich zu „connecten“? Auch die Philosophie nimmt
teil am postmodernen Reigen des virtuellen Zeitalters und zwar in Form von
schizophilen Profilen. Hier trifft man virtuelle Tote in zehnfacher, manchmal
sogar hundertfacher Form, zum Teil mit falscher Orthographie, aber zumeist
leben sie in der virtuellen Welt mit denselben Personen (oder besser gesagt mit
„personas“ im Sinne von Masken) wie im realen Leben. Der initiierte Facebooker
findet einen Friedrich Nietzsche, einen Friedrich-Wilhelm Nietzsche, einen
Freddie Nietzsche, einen Nietzche, einen Federico Wilhelm Nietzsche und die
dazu passenden Richard Wagners, Elisabeth Förster-Nietzsches und Arthur
Schopenhauers. Dazu „adden“ sich hunderte von Fans, die den virtuellen Toten
ihre Verehrung und Bewunderung aussprechen. Nietzsche ist beliebt wie nie zuvor.
Der profilierte Tote ist realer als der User seines Accounts und „Freunde“
wissen von haus aus über den Toten und nichts über den Anwender. Sie wissen
auch, dass der Tote tot ist. Auf Facebook scheint alles darauf hinzuführen,
kollektive Verwirrung zu stiften, aber keiner scheint verwirrt zu sein – oder
schizophren. Zusätzlich erfahren die Userfriends zentrale Informationen über
den realen Anwender der virtuellen Identität. Und jetzt kommt es dicke: Diese
Informationen gibt der Anwender freiwillig (!). Mit dieser Offenheit erfüllt
Facebook den Traum vieler Staatssysteme, Exhibitionisten und Liebessuchenden.
Erstere können sich somit jegliche Art von Stasi[1],
zweitere den FKK-Strand und die dritten können sich das Stalken sparen.
Das Phänomen Facebook wird immer
größer, immer weitgreifender, immer unaussprechlicher und schließlich
selbstverständlich. Stellen Sie sich doch einmal eine Welt vor, in der es
Facebook gibt und keiner ist drauf. Ich muss zugeben, dass ich mir diesen
Gedanke, mit jedem Tag, der vergeht, schwerer vorstellen kann. Aber während
sich meine Fähigkeit zur Imagination von realen Zuständen verflüchtigt, wächst
die Kapazität zur Vorstellung virtueller Zustände. Auf Facebook lässt sich der
Traum von einer Million „Freunde“ virtuell realisieren,auf Facebook kommen „alle“ zusammen, Lebende
und Tote, Vergangenheit und Gegenwart, Virtualität und Realität, Schizophrenie
und Blasphemie, Exkremente und Größenwahn. Scheinbar unvereinbare Welten
treffen sich, es scheint, dass die mystische Vermählung von Sinn und Unsinn glückt.
Der einst religiöse Traum der Grenzüberschreitung, der Transzendenz, wird virtuell
wahr: Wir können alles, weil wir alle können. Was soll also an Facebook
bedenklich sein? Facebook macht uns alle gleich – ist dies nicht DER demokratische
Grundgedanke? Es ist doch alles nur ein Spiel und wir werden gespielt. So what?
Sogar Nietzsche, der Herr aller Freigeister, ist „on Facebook“ – und das immerhin einige
zehn Mal.
[1] Der österreichische
Kabarettist Michael Niavarani hat es in einem seiner Kabarettprogrammen adäquat
formuliert: „Facebook ist Stasi auf freiwilliger Basis.“
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