Erschienen in Ausgabe: No 51 (5/2010) | Letzte Änderung: 28.04.10 |
von Robert Lembke
Die
letzte Schrift Nietzsches, bevor er von seinen inneren Widersprüchen langsam in
die geistige Umnachtung gerissen wird, Ecce
Homo, enthält den berühmten Passus: „Ich kenne mein Los. Es wird sich
einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine
Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine
Entscheidung gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden
war.“ Dies wahnhafte Erleben löst heute Befremden, höchstens Bedauern aus, man
kennt die Gefahren des sich vereinsamenden Denkers, Soziologen sprechen gern
vom „Wahnsinn des Selbstseinwollens“. Denn nüchtern betrachtet ist 1888/89, als
das Buch geschrieben wurde, nichts Derartiges geschehen. Doch sind inneres und äußeres
Geschehen selten in Gleichzeitigkeit zueinander, und einiges spricht dafür,
anzunehmen, dass in diesem Fall der Gedanke wirklich der Wirklichkeit
vorauseilte.
Das
„Ungeheure“ hat wenig später wirklich stattgefunden, und zwar gleich zweimal.
Nach dem unvorstellbaren Unheil des ersten Weltkriegs, den „letzten Tagen der
Menschheit“ (Karl Kraus), entstiegen die Dämonen ein zweites Mal den Gräbern,
um sich zum finalen Armageddon zu rüsten. Der einsetzende Weltbürgerkrieg brachte
Alteuropa endgültig zum Einsturz, und die Welt, die nachher wieder aufgebaut
wurde, die Welt „nach Auschwitz“, war eine gänzlich andere.
Nimmt
man Nietzsches Prophetie in dieser Weise ernst, so ist klar, dass man sich
fragen muss, wie man ihn künftig lesen soll. Ist nicht seine Welt mit
untergegangen, das Kaiserreich, Schopenhauer und Wagner, der sogenannte
„deutsche Geist“? Was also anfangen mit Nietzsche nach 1945?
Es
gibt, grob gesagt, drei mögliche Lesarten Nietzsches. Da ist zunächst die
faschistoide: Man bemerkt kritisch Nietzsches Ablehnung einer Moral der
Humanität, verweist auf sein Lob des Krieges als eine Art ‚reinigendes Gewitter‘
und auf seine naturalistische Verneinung des Lebensrechtes Schwacher und
Benachteiligter, die auf eine positive Eugenik hinausläuft. Diese ‚linke‘
Lesart hat zweifellos ihre Berechtigung; es gibt diese Stellen, und sie sind
eindeutig; ein Alfred Rosenberg brauchte hier lediglich abzuschreiben. Nachteil
dieser Interpretation: Sie verengt das Werk auf diese Tendenzen, sie sieht nur
die falschen Lösungen, nicht aber die Widersprüchlichkeit und die Probleme, an
denen Nietzsche sich abgearbeitet hat.
Anders
die existenzielle Lesart. Sie sieht eher die Fragen als die Lösungsvorschläge
und betrachtet Nietzsche als unermüdlichen Wahrheitssucher, als heroischen
Philosophen, der das Abenteuer der Vereinzelung auf sich nahm und am Ende vom
Sog der eigenen Negativität verzehrt wurde (George: „Dort ist kein weg mehr
über eisige felsen / Und horste grauser vögel – nun ist not“). Jedoch ist diese
Lesart angesichts ihres intellektuellen Risikos – was nicht zuletzt das
ungeklärte Verhältnis zur Politik beinhaltet –nun, sagen wir, aus der Mode gekommen.
Stattdessen
dominiert eine dritte Interpretation, deren Spuren und Verwicklungen etwas
ausführlicher verfolgt werden sollen. Sie besteht kurz gesagt darin, dass man
versucht, Nietzsche zum Liberalen zu
machen. Zunächst steht diesem Unterfangen vor allem Nietzsches
Antibürgerlichkeit entgegen. Die Stellen im Werk, wo er seinen Spott und Hohn
ausgießt über den tumben Bourgeois, der in einem Nebel von Bedeutungslosigkeit
dahinlebt, sind Legion. Kein Zweifel: Der liberal denkenden Bürger ist Teil der
liberal denkenden Masse, und diese gilt es nach Kräften zu verachten. Hier
besteht also ein veritables Problem beim Versuch, Nietzsche mit dem
Liberalismus zu vermitteln.
Ignoriert
man jedoch neben den faschistoiden auch die existentiellen Züge, so bleiben
noch immer überraschend viele Berührungspunkte, besonders wenn man sich am
späten Nietzsche, etwa des Zarathustra,
orientiert. Wie der Liberalismus will auch der Philosoph mit dem Hammer den
Einzelnen befreien von Zugriffen traditioneller Mächte, zuvörderst von der
Religion. Dieser Hang zur „Freiheit-von“, zur Negation der das Individuum
einschnürenden Denk- und Lebensvorgaben ist beiden gemeinsam. Wo jedoch
Nietzsche noch mit allem Furor gegen das „Hinterwäldlertum“ angeht und es als
seine zentrale Aufgabe ansieht, das Christentum als Lebensverhinderungsanstalt
zu denunzieren und zu brandmarken, ist der Liberalismus schon einen Schritt
weiter: Er meint, die Religion durchschaut, sie zivilisatorisch und staatlich
eingehegt zu haben, so dass sie nun guten Gewissens auch wieder anempfohlen
werden kann. Die Stärke des laissez-faire zeigt sich in der Gleich-Gültigkeit
als stärkster Form der Nichtachtung.
Desweiteren
treffen sich Nietzsche und der Liberalismus in ihrer Ablehnung hergebrachter
und verbindlicher Moral. Während jedoch Nietzsche im Wesentlichen die
überkommen-verkommene scheinchristliche Zweideutigkeit kritisiert, um für Neues
Platz zu schaffen, ist der Liberale auch hier offenbar radikaler: Für ihn
zählen im Grunde nur zwei Dinge: die Subsistenz und das Gesetz. Sein Credo
könnte lauten: Tu was du willst, lebe wie du willst, solange du dich
finanzieren kannst und nicht gegen geltendes Recht verstößt. Für Moral ist da
kein fester Platz vorgesehen, Moral ist dem Liberalisten etwas für diejenigen,
die sie sich leisten können und wollen. (An einigen Dingen hängt man dann aber
bisweilen doch, zum Beispiel an seiner Sprache, schließlich „ist Deutschland
hier“.) Sei Homo, Medium oder Fetischist, aber mach etwas draus!
Dies
nämlich ist der dritte Berührungspunkt der beiden Denkungsarten: Nicht nur: Sei
frei von allem, was dich einschränkt und behindert, sondern im Gegenzug auch:
Mache dich selbst zu etwas, sei der Schöpfer deines Lebens und seiner Gestalt!
An diesem Punkt findet wohl die stärkste Berührung zwischen Nietzsche und dem
Liberalismus statt, wenn es darum geht, den Menschen als Autor des eigenen
Seins ernst zu nehmen. Freilich muß man auch hier sofort konstatieren, dass es
einen Unterschied gibt zwischen dem egalitären Modell bürgerlicher
Selbstverwirklichung und dem elitären Künstlertum Nietzsches, das überdies mit
der Chiffre „Übermensch“ in Verbindung steht.
Doch
sind die Grenzen, zumal heute, fließend. Wir haben auch unsere Übermenschen. Es
sind jene Erfolgstypen, die uns von den Gazetten entgegenlächeln, perfekt geputzt
und vom Stab der persönlichen Betreuer fit gemacht. Zwar stürzen sie in schöner
Regelmäßigkeit vom Medienolymp zurück ins irdische Jammertal, weil sie eben
doch „allzumenschlich“ sind (und wofür sich ebenjene Blätter mindestens genauso
brennend interessieren), doch ändert das kaum etwas an ihrer Erhabenheit
gegenüber der Masse der Verehrer. Dass „Schaffen und Streben“ „allein wahres
Leben“ bedeute – dies ist der neuralgische Punkt, wo Nietzsches Geraune vom
Übermenschen sich trifft mit dem bürgerlichen Erfolgshunger. Und es scheint in
der Tat schwer, ihn aus dieser Vermittlung wieder zu lösen. Nietzsche als
„Go-to-guy“ beim Vernichten von Altlasten, die unsere Freiheit und Kreativität
lähmten – so zurechtgelegt droht man freilich zu vergessen, das vieles von dem,
was „hinab mußte“, mehr als alles Heutige geeignet war, als Material für die Kunst
zu dienen; aber das ist ein ganz anderes Thema.
Schauen
wir uns deshalb die Verflechtung von geistiger Freiheit im einen wie anderen
Sinne an einem konkreten Beispiel an: Peter Sloterdijk. Noch im Jahre 2000 hatte
dieser in einem Essay mit dem Titel „Die Verachtung der Massen“ seine
kulturkritische Diagnose formuliert: Die demokratische Massengesellschaft
schlage alles mit einer egalitären Indifferenz, auf der Scheinunterschiede ein
buntes aber bedeutungsloses Leben führten. Kein Zweifel, Sloterdijk kennt
seinen Nietzsche und ist hierzulande einer der prominentesten Mediatoren von
dessen Gedanken.
Seitdem
jedoch hat sich einiges geändert. Sloterdijk betreibt zusammen mit Rüdiger
Safranski eine Sendung im modernen Massenmedium schlechthin, dem Fernsehen. Und
vor nicht allzu langer Zeit gab er in seiner Rolle als Philosoph, der sich gern
auch zu gesellschaftlichen Fragen äußert, der evangelischen Zeitschrift
„chrismon“ (hrsg. von Margot Käßmann) ein Interview über die Geburt von
Kindern, zusammen mit einer Hebamme. Wenn nicht alles täuscht, so hat sich also
einiges gewandelt im geistigen Haushalt Sloterdijks: Stand er damals noch als
kritischer Einzelner der Gesellschaft gleichsam spätexistentialistisch
gegenüber, so ist er mittlerweile stärker in ihr angekommen, zahlreiche
Vermittlungen sind hinzugetreten, Sloterdijk insgesamt gesellschaftsfähiger
geworden – möchte man meinen.
Was
dabei jedoch von Nietzsche blieb, sah man, als er sich im letzten Jahr,
scheinbar unmotiviert, in die Debatte zur Krise des Sozialstaats einmischte und
dabei nicht wenig Aufsehen erregte. Zur Erinnerung: In einem Artikel in der
FAZ, der lange Zeit weitgehend unbeachtet geblieben war, bis Axel Honneth in
Frankfurt darin geistige Brandstiftung roch, hatte Sloterdijk eine „Revolution
der gebenden Hand“ gefordert. Dies beinhaltete eine Fundamentalkritik der
bundesdeutschen Staatswirklichkeit als einer gigantischen
Steuerumverteilungsmaschine. Der Klasse der Leistungsträger werde zwanghaft,
durch staatliche Gewalt, ein Großteil ihrer Verdienste entwendet, um sie für
die Lebenserhaltung der trägen und unkreativen Masse zu verschwenden. Dies sei
in höchstem Maße fragwürdig – Sloterdijk unterstand sich nicht, vom Steuerstaat
als „kleptokratischem“ Moloch zu sprechen – und ungerecht. Das marode System
aus den durch hohe Zwangssteuern finanzierten Sozialleistungen sollte ersetzt
werden durch freiwillige Abgaben der
Bessergestellten an die dumpfe Masse der Leistungsunwilligen. Bevor man sich
nun über die Sozialromantik des weltfremdem Intellektuellen mokiert, beachte
man die Folgerichtigkeit des Gedankens, der ganz nietzscheanisch ist: Die Größe
des über die Masse Erhabenenen, des Übermenschen, soll sich nicht zuletzt in
seinem Willen zur Schenkung, zum Geben ohne Gegenleistung, zur Großzügigkeit zeigen.
Was
ist geschehen? In einem Interview, das Sloterdijk vor kurzem gab, nachdem sich
der Rauch in den Feuilletons verzogen hatte, legte er die Motivation für seinen
Vorstoß zumindest teilweise offen. Er habe sich, nach langen Jahren der
Anstrengung nun verdientermaßen etabliert, beim Blick auf seine Einnahmen eines
Tages gewundert, wieviel des Geldes abgezogen werde, ohne dass er irgendeine
Kontrolle und Verfügbarkeit darüber hätte. Er würde sich ja gern großzügig
zeigen, aber die Staatsbürokratie lasse ihm gar nicht die Möglichkeit dazu. Was
also ist geschehen? Sloterdijk hat sich tatsächlich gewandelt, er ist vom von
Nietzsche inspirierten Kulturkritiker, der sich als Einzelner jenseits des
gesellschaftlichen Konsens zu halten versucht, zum von Nietzsche inspirierten
Liberalen mutiert. Auch er hat schließlich seinen gesellschaftlichen Ort und
seine Zugehörigkeit gefunden: es ist die Klasse der selbsternannten Leistungsträger,
die nicht etwa die Masse innerlich verachtet – denn sie ist ja selbst unleugbar
Masse –, sondern öffentlich bekämpft.
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