Erschienen in Ausgabe: No 51 (5/2010) | Letzte Änderung: 28.04.10 |
von Christian Tornau
1. Einleitung
Die Philosophie
des griechischen Neuplatonikers Plotin (205-270 n. Chr.) ist in den vergangenen
Jahrzehnten vermehrt als originärer Beitrag zu Grundfragen der Metaphysik, der
philosophischen Anthropologie und auch der Ethik anerkannt worden. Dabei hat gerade
auch das Phänomen der menschlichen Individualität einige Aufmerksamkeit
gefunden, dessen Realität Plotin fraglos anerkennt, das aber im Rahmen einer
neuplatonischen, das Eine über das Viele stellenden Metaphysik nicht leicht zu
erklären ist. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, wie Plotin den ihm von der
philosophischen Tradition und der natürlichen Intuition vorgegebenen Begriff
des Individuums grundlegend reinterpretiert und ihm damit auch unter
platonischem Vorzeichen einen Sinn abzugewinnen vermag.
Plotin hat eine
äußerst differenzierte Auffassung von der Natur des Menschen. Auf die Frage: „Und wir – was sind wir?“, antwortet
Plotin:
Sind wir das Dortige [= Ewige,
Intelligible] oder das, was sich ihm annähert, das Werdende in der Zeit? Nun,
bevor wir zu unserem hiesigen Werden kamen, waren wir schon dort, und dort
waren wir andere Menschen und einige sogar Götter: reine Seelen und Geist in
Berührung mit dem gesamten Sein. Wir waren Teile des geistig Erkennbaren, nicht
abgegrenzt und nicht abgeschnitten von ihm, sondern zum Ganzen gehörend. Sogar
jetzt sind wir ja noch nicht abgeschnitten (VI 4 [22],14,16-22).[2]
Diesem Menschen,
der „wir“ ursprünglich waren, hat sich – so fährt Plotin fort – ein zweiter
Mensch „angefügt“ und gleichsam um ihn herumgelegt und mit ihm zusammen das aus
Körper und Seele zusammengesetzte Menschenwesen gebildet, als das wir uns
selbst in unserem Dasein in der sinnlich wahrnehmbaren Welt erfahren.[3] Plotin
betrachtet den Menschen also als etwas Doppeltes: Auf der einen Seite ist er
mit dem Dialog Alkibiades
grundsätzlich davon überzeugt, daß „der Mensch nichts anderes als seine Seele“
ist;[4] auf
der anderen erkennt er die Existenz des Menschen als eines psychophysischen
Lebewesens mit einem einheitlichen, die körperlichen Anteile einschließenden
Bewußtsein durchaus als philosophisch relevant an. Insofern sie die Antwort auf
die Frage: „Qui sommes nous?“ gibt, ist diese Theorie des doppelten Menschen
zugleich eine Theorie des doppelten „Wir“ oder doppelten Selbst;[5]
anders formuliert: die Anthropologie ist zugleich eine Ethik. Was „wir“ sind, ist
nicht ontologisch vorgegeben, sondern hängt von einer ethischen Entscheidung ab,
nämlich davon, ob wir mit unserer Aktivität und Lebensgestaltung auf der Stufe
unseres empirischen Selbst verbleiben und uns mit dem „zweiten“,
psychophysischen Menschen identifizieren, oder ob wir zu der höheren, rein
geistigen Stufe unseres Menschseins und zu unserem ursprünglichen Selbst
zurückkehren.[6] Das Selbst wählt sich also seine
ontologische Stufe selbst und definiert sich damit selbst.[7] Der
Terminus technicus „Wir“ (ἡμεῖς) markiert die subjektiv-innere Seite dieses Vorgangs. Plotin
gebraucht hierfür grundsätzlich die erste Person Plural, weil er sich weniger
für das „Ich“, die unverwechselbare personale Identität des individuellen
Menschen, als für die Innenperspektive des menschlichen Daseins im Allgemeinen interessiert.[8] Natürlich
wirft diese Theorie eine Reihe von Fragen auf. Plotin nennt das höhere, „wahre“
Selbst zwar auch den wahren Menschen; aber kann auf der Ebene des reinen
Intelligiblen, wo das Selbst mit dem gesamten Intellekt und der intelligiblen
Welt eins wird, noch sinnvoll von menschlichen Individuen gesprochen werden? Und
in welchem Sinne kann zwischen den beiden Stufen des „Wir“ eine Kontinuität des
Ich-Bewußtseins bestehen? Einerseits muß es eine solche Kontinuität geben, wenn
der ethische Imperativ des Aufstiegs der Seele zu ihrem Ursprung sinnvoll sein
soll, der ja laut Plotin eine Rückkehr zum eigenen ursprünglichen Selbst ist. Andererseits
ist es schwer zu verstehen, wie das menschliche Selbst dasselbe bleiben kann,
wenn es beim Aufstieg nahezu alle Züge hinter sich läßt, die es in der
Erfahrungswelt zu einem Individuum machen – Körperlichkeit, Sinnlichkeit,
Emotionalität und sogar die Erinnerung daran.[9] Der
Begriff der Individualität ist in Plotins Philosophie des „Wir“ also durchaus
problematisch.
Der Theorie des
doppelten Selbst korrespondiert auf dem Gebiet der Seelenlehre die bekannte plotinische
Sonderlehre vom nicht herabgestiegenen Seelenteil. Hiernach verbleibt der
höchste Teil unserer individuellen, in die Körperwelt „gefallenen“ Seelen stets
in der intelligiblen Welt, so daß jede Seele nach Art eines Amphibiums zugleich
in dieser und in jener Welt lebt.[10] In
Plotins System hat diese Theorie eine Vielzahl von Funktionen.[11]
Exegetisch stellt sie eine nichtmythische Interpretation der platonischen
Anamnesislehre dar;[12]
epistemologisch gesehen, sichert sie die Fähigkeit der Seele, die im
transzendenten Intellekt angesiedelten intelligiblen Wesenheiten zu erkennen.[13] Vor
allem aber bildet die Lehre von der nicht herabgestiegenen Seele das
ontologische Fundament der plotinischen Ethik der Rückkehr zum eigenen
geistigen Ursprung: Der „Aufstieg“ der Seele zum Intellekt ist die
Wiederherstellung eines ihr immer schon gegebenen Zustandes der Glückseligkeit,
den sie niemals wirklich verliert, den sie aber aktualisieren und sich bewußt
machen muß.[14] Auch hier ergeben sich
freilich Probleme. Ähnlich wie vorhin beim höheren Selbst, fragt es sich, wie
die nicht herabgestiegene Seele als individuelle Seele gelten kann: Da nach
Plotins Auffassung alle Seelen nur eine
sind und diese eine Seele als solche niemals der Körpergebundenheit
anheimfällt,[15] kann das Prinzip der Individuation
anscheinend weder in der Seele selbst (die ja einheitlich ist) noch in den
Körpern (die auf eine körperfreie Seele nicht wirken können) liegen. Weiterhin
stellt sich die Frage, in welchem Sinne die nicht herabgestiegene Seele „im
Intelligiblen“ (IV 8 [6],8,3) ist: Eine maximale Deutung wird hieraus ihre
völlige Einheit und sogar Identität mit dem Intellekt und den in ihm
enthaltenen intelligiblen Formen ableiten, während eine minimale Interpretation
auf der Differenz zwischen Seele und Intellekt insistieren und in Anlehnung an
Platon selbst eher von einer Ähnlichkeit oder Verwandtschaft sprechen würde,[16]
deren genauer Sinn freilich zu bestimmen bliebe. Die von Plotin verwendeten
Metaphern der „Kontinuität“ und des „Nichtabgeschnittenseins“ scheinen beide
Deutungsmöglichkeiten offenulassen.[17]
Die bis hierher
skizzierten Schwierigkeiten kristallisieren sich in der von der Plotinforschung
seit längerem diskutierten Frage, ob Plotin Formen von Individuen angenommen
hat.[18] Eine
solche Annahme liefe den Aussagen der Dialoge Platons über die Funktion der
Formen scheinbar direkt zuwider[19] und
stünde im Widerspruch nahezu zu der gesamten Tradition des Platonismus;[20] Sinn ergibt sie nur mit Blick auf
menschliche, denkende Individuen und unter der spezifisch plotinischen
Voraussetzung, daß jede individuelle Seele in unmittelbarem Kontakt mit dem
Intellekt steht:
Gibt es eine Form des
Individuums? Nun: Wenn es für mich und jeden Einzelnen die Zurückführung auf
das geistig Erkennbare gibt, dann ist der Ursprung jedes Einzelnen dort (V 7
[18],1,1-3).[21]
Diese Stelle
gilt als der expliziteste Beleg dafür, daß Plotin Individualideen angenommen
hat.[22] Sie
ist in dieser Hinsicht allerdings nicht ganz so eindeutig, wie es in der
Forschung bisweilen erscheint.[23] Und
auch wenn man sie als klare Affirmation der Existenz von Individualideen liest,
wirft sie mehr Fragen auf als sie Antworten gibt: Kann das intelligible Prinzip
jedes Individuums, von dem Plotin hier spricht, als Form dieses Individuums bezeichnet werden? Und wie verhält sich der
Teil der Seele, mit dem sie „im Intelligiblen“ verbleibt, zu diesem Prinzip? Ist
er mit ihm identisch – und falls er es nicht ist, worin liegt die Differenz? In
jedem Fall ergibt sich die mißliche Situation, daß neben die klassischen
platonischen Formen des Menschen oder des Gerechten – deren Funktion die
Erklärung wiederkehrender Züge in der Erfahrungswelt ist – eine „Form des
Sokrates“ (Αὐτοσωκράτης) zu stehen kommt, deren Wirkung Individualität
und damit Einmaligkeit ist. Der Grundzug der meisten in jüngerer Zeit
vorgetragenen Lösungsvorschläge sieht etwa folgendermaßen aus: Plotin hat die
Existenz von Individualformen bejaht in dem Sinne, daß er darunter den nicht
herabgestiegenen Teil der menschlichen Seele verstanden hat; diese
„Seelen-Formen“ sind jedoch von den im Intellekt enthaltenen platonischen
Formen zu unterscheiden.[24] Die
nicht herabgestiegene Seele – so argumentiert etwa Cristina D’Ancona in einem bedeutenden
Aufsatz – ist das, was Plotin an anderer Stelle den „Intellekt in uns“[25]
nennt, also diejenige Instanz der Seele, die die Formen in gewissem Sinne „besitzt“
und der Seele so das dianoetische Nachdenken über nichtsinnliche Gegenstände ebenso
wie die noetische Erkenntnis der intelligiblen Wesenheiten und die Einswerdung
mit dem Intellekt ermöglicht.[26] Diese individuellen Intellekte oder
Intellekt-Seelen bevölkern zusammen mit den überindividuellen Formen die
intelligible Welt, sind aber nichtsdestoweniger als „Seelenteile“ je einer
individuellen Seele zugeordnet.[27] Wie
D’Ancona an anderer Stelle ausführt, bevorzugt Plotin diese Theorie gegenüber
der Alternative, die intellektuellen Fähigkeiten der Seele mit der
unmittelbaren Präsenz des hypostatischen Gesamt-Intellekts in jeder einzelnen
Seele zu begründen und damit dem höchsten Seelenteil kollektiven,
überindividuellen Charakter zuzuschreiben,[28] weil
die Individual-Intellekte für ihn außerdem als Prinzip der Individuation der
Seelen fungieren.[29]
Nun kann zwar
m.E. die Identität der nicht herabgestiegenen Seelen mit den Formen der
Individuen vernünftigerweise nicht bestritten werden. Die scharfe Abgrenzung
der letzteren von den platonischen Formen und damit von dem diese umfassenden Gesamt-Intellekt
scheint mir jedoch aus mehreren Gründen bedenklich. Erstens: Wenn die
Erkenntnisweise der zum Intellekt aufgestiegenen und mit ihm vereinigten Seele
eine im vollen Sinne noetische, durch die Einheit des Erkennenden mit dem
Erkannten definierte Erkenntnis ist,[30] dann
sieht man schwer, wodurch sich eine solche Seele noch vom Intellekt
unterscheiden soll. Der Intellekt ist die einzige Wesenheit, der Plotin
noetische Selbsterkenntnis in diesem Sinne zuerkennt; was noetische
Selbsterkenntnis hat, kann also nichts anderes als Intellekt sein.[31] Zweitens: Wenn der Aufstieg der
Seele zu ihrem geistigen Ursprung die Aktivierung und Bewußtmachung ihres im
Intelligiblen verbliebenen Teils ist und zwischen dem letzteren und dem
Gesamt-Intellekt ein prinzipieller Unterschied besteht, dann endet der
Seelenaufstieg nicht beim Intellekt, sondern auf einer diesem nachgeordneten
Stufe. Das aber ist sicher nicht die Auffassung Plotins. Drittens: Es gibt
zwar, wie wir sehen werden, gute Gründe, das Prinzip der Individualität der
Seelen schon auf der Stufe des Intellekts anzusetzen. Es geht jedoch nicht an,
die Theorie der nicht herabgestiegenen Seelenteile oder individuellen
Intellekt-Seelen als Alternative zu der Präsenz des einen, überindividuellen Gesamt-Intellekts in der Seele zu interpretieren.
Eine solche Deutung läßt die ontologische Struktur des plotinischen Intellekts
als Einheit-Vielheit unberücksichtigt, die es verbietet, eine derartige
Alternative auf ihn anzuwenden: Wo ein Einzelintellekt gegenwärtig ist, ist
immer auch der Gesamt-Intellekt gegenwärtig.
Es soll daher im
folgenden der Versuch gemacht werden zu zeigen, daß Plotin die reale Identität
der nicht herabgestiegenen Seele mit dem Intellekt als solchen vertritt,[32] daß
er den Individualformen denselben ontologischen Status zuweist wie den
traditionellen platonischen Formen und daß eine solche Position für ihn darum
philosophisch möglich wird, weil er den Begriff der Individualität selbst einer
grundlegenden Revision unterzieht.[33] Die
Leitfrage dieser Untersuchung ist insofern nicht die traditionelle, ob es bei
Plotin Formen von Individuen gibt, sondern die grundsätzlichere, was für Plotin
überhaupt das Kriterium von Individualität ist. Dabei müssen drei Aspekte
dieses Begriffs unterschieden werden:[34] 1. Die
individuelle Seele und das individuelle Selbst eines Menschen gehört diesem
allein an und ist von den Seelen und „Selbsten“ der anderen eindeutig
abgrenzbar. Das entscheidende Kriterium der Abgrenzung ist die Subjektivität, das
individuelle Ich-Bewußtsein, das uns erlaubt, von „meiner“ und „deiner Seele“
und generell von „Ich“ und „Du“ zu sprechen.[35] Der
Körper spielt für diesen Aspekt von Individualität dagegen keine Rolle. Das Ich-Bewußtsein
ist als solches unkörperlich, auch dann, wenn es faktisch das Bewußtsein eines συναμφότερον, eines Körper-Seele-Verbundes, ist; es
behält daher seine Relevanz als Kriterium von Individualität auch dort, wo es
keine individuellen Körper mehr gibt, auf der Ebene der nicht körpergebundenen
Seele.[36] 2. Im
logisch-ontologischen Sinne spricht man vom Individuum (τὸκαθέκαστα) im Gegensatz zum Allgemeinen (τὸκαθόλου). Bei Aristoteles, auf den die Terminologie
zurückgeht, ist das Individuum in der Regel das sinnlich wahrnehmbare
Einzelding und das Allgemeine die Art oder Gattung, der es angehört.[37]
Plotin verwendet die aristotelische Terminologie,[38] teilt
als Platoniker aber nicht die ontologischen Annahmen, die sie impliziert. Wie
wir sehen werden, führt bei ihm die Frage, ob und wie sich der aristotelische
Gegensatz zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen auf die Individualität
von Seele und Selbst anwenden läßt, zu einer neuen, unaristotelischen
Bestimmung dieses Gegensatzes. 3. Schließlich können zwischen verschiedenen
Exemplaren einer und derselben Art individuelle Unterschiede rein körperlicher
Natur bestehen. Plotin diskutiert dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Frage
der Individualformen, weil es mit Hilfe von Gattungs- und Art-Formen allein nicht
zu erklären ist, aber auch nicht von vornherein als Störung oder Mangel
eingestuft und auf die Materie zurückgeführt werden kann.[39] Dieser
Aspekt von Individualität kann für unsere Zwecke außer Betracht bleiben.
2. Plotins
Revision des Individualitätsbegriffs
Die Frage nach
Formen von Individuen bei Plotin ist auch deswegen so schwer zu beantworten,
weil sie im Rahmen von Plotins Denken eigentlich falsch gestellt ist. Plotin
fragt zwar ausdrücklich: „Gibt es
eine Form des Individuums?“ (V 7 [18],1,1). Aber er übernimmt diese Formulierung aus der Tradition,
wo die Frage nach den Individualformen ein Teilaspekt der alten platonischen
Streitfrage war, wovon es Ideen gibt;[40]
und er gibt keine direkte Antwort darauf, weil mit der Bezeichnung „Individuum“ das sinnlich wahrnehmbare Einzelding bereits als
selbständiges Seiendes mit einer eigenen Realität und Substantialität anerkannt
ist. Die Idee kann dann nur noch als etwas zu diesem Seienden Relatives gesehen
werden; sie wird dann wesentlich im Hinblick darauf betrachtet, daß sie die
Idee „von“ diesem
Seienden ist und in irgendeiner Weise „in“ ihm präsent ist, und beide Redewesen – das „Von-etwas-Sein“ und das „In-etwas-Sein“ - signalisieren
ontologische Abhängigkeit. Damit muß der Versuch, die Ideen dennoch als
selbständige Substanzen zu denken und den sinnlichen Substanzen dualistisch
gegenüberzustellen, notwendigerweise zu einem Widerspruch und zu den bekannten,
im Parmenides und von Aristoteles
aufgeworfenen Aporien der Ideenlehre führen. Noch wichtiger für unseren Zweck
ist, daß mit der Qualifizierung der Sinnendinge als Individuen den Ideen bereits
implizit der Status von Allgemeinbegriffen zugewiesen ist, womit ihre
Substantialität ernsthaft in Frage gestellt ist. Der Vertreter der Ideenlehre
setzt sich an dieser Stelle dem Einwand des Aristoteles aus, nach dem
Allgemeinheit und Substantialität einander ausschließen:
Aufgrund dieser Erwägungen ist deutlich, daß
nichts Allgemeines Substanz ist und daß das allgemein Ausgesagte nicht ein
Dieses (τόδε τι), sondern eine Qualität (τοιόνδε) bezeichnet (Metaph. Z 13, 1038b34-1039a2).
Es war demnach der
Kardinalfehler der Platoniker, die Ideen zugleich als Substanzen und als
Allgemeinbegriffe denken zu wollen. Substanz kann nur sein, was ein „Dieses“ (τόδε
τι) und mithin ein Individuum ist, und hierfür kommt für Aristoteles nur das
sinnliche Einzelding in Frage. Für Plotin ist diese Betrachtungsweise indessen
eine Fehlwahrnehmung, die aus der Prägung des diskursiven Denkens durch seinen täglichen
Umgang mit den Sinnendingen erwächst. Die Gewöhnung an die Sinnendinge bewirkt
die Neigung des Denkens, diese als selbständige Realitäten anzusehen und die
Ideen zu ihnen in Relation zu setzen. Es ist daher ein wesentlicher Teil von
Plotins philosophischem Programm, einen Wechsel in der Perspektive des Denkens
herbeizuführen: Der Ausgangspunkt, von dem aus die Ideen gedacht werden, sollen
nicht mehr die Sinnendinge sein, deren Ideen sie sind; sondern sie sollen aus ihrem eigenen Sein heraus,
aufgrund der ihnen angemessenen Prinzipien, als intelligible Realitäten eigenen
Rechts begriffen werden, zu denen die Sinnendinge ihrerseits in Relation stehen
und von denen her das Sein und die Erkennbarkeit der Sinnendinge überhaupt erst
gedacht werden kann.[41] Der Begriff des „In-Seins“ etwa wird dahingehend revidiert, daß nicht die
Idee „im“ Einzelding ist, sondern die Einzeldinge „im“ intelligiblen Seienden sind und ihr Sein von diesem
empfangen; damit ist das Dilemma der Partizipation gelöst.[42]
Entsprechend müssen Begriffe wie „Dieses“ und „Individuum“, die wir unreflektiert
in ihrer für die Sinnenwelt gültigen Bedeutung zu verwenden pflegen, überdacht
und nach den Prinzipien des wahren, intelligiblen Seins neu definiert werden; dabei
ist auch zu fragen, ob der Gegensatz von Individualität und Allgemeinheit, der
der Kern des aristotelischen Einwands ist, für das intelligible Sein in
gleicher Weise gilt.[43]
Dies geschieht
etwa in folgendem Text, der als direkte Antwort auf Aristoteles gelesen werden
kann:
Denn die seienden Dinge müssen
fest stehen, die geistig erkennbaren Gegenstände müssen [stets] identisch sein,
und jeder einzelne muß der Zahl nach eins sein. Denn nur auf diese Weise ist er
ein Dieses (τὸτόδε). Bei manchen Dingen ist ja wegen der Natur der
Körper die Individualität (καθέκαστον)
etwas Fließendes, weil die Form etwas ihnen von außen Zukommendes ist; darum
kommt das Immersein ihnen [nur] der Art/Form nach (κατ’ εἶδος) zu aufgrund durch Nachahmung der [wahrhaft]
seienden Dinge. Bei anderen Dingen liegt, da sie nicht aus einer
Zusammensetzung bestehen, das Sein in dem, was der Zahl nach eins ist, was
ihnen von Anfang an zukommt; weder werden sie zu etwas, das sie nicht [immer
schon] waren, noch werden sie einmal nicht mehr das sein, was sie sind (IV 3
[27],8,22-30).[44]
Plotin übernimmt
hier die aristotelische Unterscheidung zwischen numerischer und artmäßiger oder
formaler Einheit, integriert sie jedoch in die Ontologie Platons und verknüpft
sie mit der im Timaios niedergelegten
Grundunterscheidung zwischen Sein und Werden.[45] Er
gesteht Aristoteles zwar zu, daß etwas, um ein „Dieses“ zu sein, die Bedingung
numerischer Einheit erfüllen muß, mit anderen Worten: ein Individuum sein muß.[46] Durch die Verbindung mit dem Timaios wird die numerische Einheit
selbst aber an eine Bedingung geknüpft, die bei Aristoteles keine Rolle spielt:
die der Unveränderlichkeit. Damit ein Ding numerisch eines ist, genügt es in
Plotins Augen nicht, daß es zu einem gegebenen Zeitpunkt mit sich selbst
identisch ist; sondern dies muß immer der Fall sein, das betreffende Ding muß
sich also – nach Platons berühmter Formel – „immer gleich und auf dieselbe
Weise verhalten“.[47] Als
numerisch einheitliche substantielle Individuen kommen damit nur noch die
platonischen Formen in Frage. Den sinnlich wahrnehmbaren Individuen wird die
numerische Einheit dagegen abgesprochen, weil sie im ständigen Fluß sind und
die Bedingung des ewigen Bestehens folglich nicht erfüllen können; sie können somit
weder als „Dieses“ im eigentlichen Sinne noch als Substanzen und strenggenommen
nicht einmal als Individuen gelten. Ihren relativen Grad an Realität erreichen
sie nicht durch ihr individuelles Sein, sondern dadurch, daß sie einer Art
angehören, die als Art immer bestehen bleibt und dadurch der Ewigkeit der
intelligiblen Wesenheiten wenigstens nahe kommt. Bei den Sinnendingen gibt es
also keine numerische, sondern lediglich artmäßige Einheit.[48] Die
Art (εἶδος)
in diesem aristotelischen Sinne aber ist ein Allgemeinbegriff. Plotin verwendet
den aristotelischen Terminus καθέκαστον hier zwar
noch in traditioneller Weise für das sinnliche Einzelding und geht nicht so
weit, ihn auf die intelligible Form zu übertragen.[49]
Die Stoßrichtung des Textes ist nichtsdestoweniger klar: Plotin kehrt die
aristotelische Zuordnung der Begriffe „allgemein“ und „individuell“ zu den
sinnlichen und intelligiblen Wesenheiten um, indem er die Individualität ebenso
wie das wahre Sein für die letzteren reserviert und den Sinnendingen lediglich
Sein in einer über ihr individuelles Dasein hinausreichenden, zeitübergreifenden
Allgemeinheit zugesteht.[50] Diese Revision der gängigen
Auffassung des Individuellen und des Allgemeinen wirkt paradox, ergibt sich
aber logisch aus Plotins philosophischem Programm. Der Begriff der
Individualität wird von den Sinnendingen gelöst und nach den Kriterien des
intelligiblen Seins neu bestimmt.
Diese Strategie ist
freilich nur auf die im zitierten Text genannten Stoff-Form-Komposita – die
aristotelischen „sinnlichen Substanzen“[51] –
anwendbar, nicht aber auf eine immaterielle Wesenheit wie die Seele. Dies zeigt
sich schon daran, daß in diesem Fall kein Teilhabe-Verhältnis besteht; die
einzelnen Seelen verhalten sich zur „Seele an sich“ (der Seelen-Hypostase) nicht
wie Einzeldinge zu einer Form.[52] Plotin
vertritt zwar die Lehre von der Einheit aller Seelen; er kann aber aus mehreren
Gründen nicht allein der Gesamtseele Individualität zuschreiben und die
Existenz individueller Seelen0 wie die Realität der Sinnendinge zur Illusion
erklären.[53] Das wäre nicht nur extrem
kontraintuitiv, sondern er würde er damit auch gegen die Unterscheidung des Timaios zwischen Welt- und Einzelseelen
und gegen die Metaphorik des Phaidros
vom Seelensturz und -wiederaufstieg, d.h. gegen Platon selbst, stellen; sachlich
liefe das auf eine quasi gnostische Ethik hinaus, nach der jede Moralität und
jedes philosophische Bemühen um Erlösung überflüssig wäre, weil die menschliche
Seele immer schon identisch mit der Allseele und mithin „von Natur aus erlöst“
wäre.[54] Gerade
in der Schrift VI 4-5 [22-23], wo er die platonische Redeweise vom Eingehen der
Seele in die Körper konsequent als Hinwendung der vielen Körper zu der einen Seele allegorisiert,[55] hält
Plotin aber klar an der Auffassung fest, daß die Seele durch exzessive
Aufmerksamkeit auf einen Körper ihre Aktivität partikularisieren und minimieren
und so ihre Einheit mit dem intelligiblen Ganzen verlieren und sich im
Körperlich-Partikulären gleichsam verfangen kann.[56] Dies
setzt voraus, daß es neben der absoluten Einheit auch eine reale Vielheit der Seelen
gibt. Die Position der Schrift VI 4-5 [22-34] kann also offensichtlich nur
konsistent sein, wenn die Seele als
solche zugleich eines und vieles ist; und genau dies ist die Auffassung
Plotins.[57] Zwar kommt er gelegentlich
der Behauptung nahe, daß die Vielheit der Seelen nur Schein ist; so
interpretiert er die änigmatische Aussage des Timaios, daß die Seele „an den Körpern teilbar wird“, in der Weise,
daß eine und dieselbe Seele an vielen Körpern sichtbar wird, so wie das
unteilbare Sonnenlicht sich scheinbar an den von ihm beleuchteten Körpern
teilt.[58] Wie
er sogleich hinzufügt, darf daraus jedoch nicht geschlossen werden, daß die
Körper das Prinzip der Vielheit und der Individuation der Seelen sind:
… man darf nicht
annehmen, daß erst durch die räumliche Größe der Körper die Vielheit der Seelen
entsteht, sondern daß sie schon vor den Körpern viele und eine sind. In
dem Ganzen sind nämlich die vielen schon enthalten, und zwar nicht nur
potentiell, sondern so, daß jede einzelne aktuell ist; die eine, gesamte
Seele verhindert nicht, daß in ihr viele Seelen enthalten sind, und ebensowenig
schränken die vielen die eine ein. Sie unterscheiden sich, ohne Distanz zu
haben, und sie sind beieinander, ohne sich von sich selbst zu entfremden. Sie
sind ja nicht durch Grenzen voneinander getrennt, ebensowenig wie die vielen
Wissenschaften in einer einzigen Seele; und die eine ist von solcher Art, daß
sie sie alle in sich selbst enthält. Das ist der Sinn, in dem eine solche Natur
unendlich ist (VI 4 [22],4,37-46).[59]
Plotin
unterzieht hier die Gegensatzpaare „Eines – Vieles“ und „Teil – Ganzes“ einer
Revision. In der Körperwelt schließen diese Charaktere einander aus: Zwei
Menschen können nicht zugleich einer sein, weil sie – genauer: ihre Körper –
sich an verschiedenen Orten im Raum befinden. Aus demselben Grund können zwei
Teile eines Körpers weder miteinander eins sein noch mit dem Ganzen, weil bei
Körpern der Teil kleiner als das Ganze ist.[60]
Sobald man es jedoch mit einer unkörperlichen Natur wie der Seele zu tun hat,
fallen diese spezifisch körperlichen Einschränkungen weg, und Einheit und
Vielheit hören auf, kontradiktorische Gegensätze zu sein. Dagegen gibt es keinen
Grund, Vielheit und Differenz als solche – ohne die Bindung an einen Ort – lediglich
als körperspezifische Mängel anzusehen; sie sind also auch als Charakteristika der
Seele als solcher anzusehen, ohne daß diese an einen Körper gebunden ist.
Plotin versucht diesen Sachverhalt mit dem Beispiel der Wissenschaften
plausibel zu machen: Geometrie und Dialektik sind voneinander eindeutig
unterschieden und werden doch in einer und derselben Seele gleichzeitig aktual
gewußt; in derselben Weise ist die körperfreie Seele zugleich die eine Gesamtseele und die Vielzahl der
individuellen Seelen, und zwar aktual. Die ganze Tragweite der Wendung „nicht
nur potentiell, sondern so, daß jede einzelne aktuell ist“ (VI 4 [22],4,40)
enthüllt sich indessen erst, wenn man berücksichtigt, daß Plotin damit auf eine
Überlegung aus der Metaphysik des
Aristoteles Bezug nimmt:
Dasselbe ist auch aufgrund folgender Überlegung offensichtlich: Es ist
unmöglich, daß eine Substanz aus Substanzen besteht, die der Verwirklichung
nach in ihr vorhanden sind. Denn
dasjenige, was der Verwirklichung nach zwei ist, ist niemals der Verwirklichung
nach eins, sondern sie können nur dann eins sein, wenn sie der Möglichkeit nach
zwei sind, so wie z.B. das Doppelte aus zwei Hälften besteht, aber nur der Möglichkeit
nach; denn die Verwirklichung trennt (Metaph.
Z 13, 1039a3-7).
Nach dieser
Argumentation können die Teile eines Ganzen nicht zugleich mit dem Ganzen aktuale
Substanzen sein. Zwei Hälften sind nur potentiell ein Ganzes, und umgekehrt;
Honig und Wein sind zwei Substanzen, die sich potentiell zu Honigwein
vereinigen können, und in der einen Substanz Honigwein sind die Substanzen
Honig und Wein potentiell enthalten, da das Gemisch wieder getrennt werden
kann. Plotin akzeptiert diese Argumentation, soweit sie sich auf Körper
bezieht,[61] verwirft sie aber mit
Bezug auf die Seele, die gerade dadurch ausgezeichnet ist, daß Gesamtseele und
Teilseelen zugleich aktual bestehen können. Vor allem aber ist dieser
Aristotelestext die Fortsetzung und Begründung jener Passage, in der die
Substantialität der platonischen Form bestritten wurde, sofern diese als ein Allgemeines
aufgefaßt wird.[62] Indem Plotin das Argument
des Aristoteles für die Seelen zurückweist, nimmt er also auch hier eine
Neubestimmung des Verhältnisses von Allgemeinheit und Individualität vor,
freilich in einer anderen Weise als es vorhin bei den sinnlichen Einzeldingen der
Fall war. Plotin ist weit entfernt davon, den Einzelseelen die Individualität
zu bestreiten und sie, wie vorhin für die Form, für die Seele als ganze oder
die Hypostase Seele zu reservieren. Er hebt vielmehr den Gegensatz von
Individualität und Allgemeinheit auf: Sowohl die individuellen Seelen als auch die
Gesamtseele, die sie als ein Allgemeines alle umgreift, sind jeweils ein „Dieses“
und mithin Individuen. Plotins Auffassung von der Individualität nicht
körpergebundener Seelen kann also nur mit Blick darauf verstanden werden, wie
er die Einheit (genauer: die Einheit-Vielheit) aller Seelen denkt.[63]
Es fällt auf,
daß Plotin eine Reihe von Zügen, die man als konstitutiv für unsere empirische
Individualität und Personalität ansehen kann (etwa den Besitz eines eigenen
Körpers und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort in Raum und Zeit, mit
anderen Worten: eine individuelle Geschichte), hier ganz außer acht läßt. Stattdessen
versieht er uns mit einer Individualität, deren Proprium gerade nicht die
Abgrenzung, sondern die Inklusion des Anderen und des Ganzen ist. Was das für
eine Erfahrung sein könnte, sagt Plotin nicht: Der neue, das Allgemeine mit
umfassende Begriff von Individualität ist nicht durch Introspektion, sondern
mit ontologischen Mitteln, durch den Rekurs auf das der immateriellen Seele
eigene Wesen, gefunden worden. Es ließe sich an dieser Stelle sogar einwenden,
daß Plotin in der gerade besprochenen Passage nur von der Vielheit, nicht aber
von der Individualität der Seelen spricht und daß die Einzelseelen, von denen
er dort spricht, nicht notwendigerweise mit den uns in der Erfahrungswelt
begegnenden Seelen des Sokrates, Pythagoras usw. identisch sind.[64] Denkbar
wäre ja auch, daß die Einzelseele zwar durch ihre Präsenz im συναμφότερον,im Kompositum von Seele und Körper, die Existenz des psychophysischen
menschlichen Individuums verursacht, daß aber der Träger der menschlichen
Individualität nicht die Seele, sondern das Kompositum ist. Die Auflösung des
Kompositums im Tod wäre dann auch das Ende der Individualität, die in der
reinen Seele nicht fortexistieren würde. Das würde bedeuten, daß die vom Körper
befreite Seele des Sokrates nicht mehr die Seele des Sokrates ist, mit anderen Worten: daß es zwischen Sokrates und
seiner unsterblichen Seele keine Kontinuität des Ich-Bewußtseins gibt. Es gibt durchaus Züge in Plotins Denken, die in diese
Richtung weisen.[65] Daßdies
dennoch nicht das von Plotin Gemeinte ist, deutet sich in der Wendung „ohne
sich von sich selbst zu entfremden“
(οὐκ
ἀλλοτριωθεῖσαι: VI 4 [22],4,43) an; an einer
unserer Stelle sehr ähnlichen Passage aus der Schrift IV 3 [27] argumentiert er
explizit dagegen:
Aber wie kann dann noch die
eine Seele die deine, die andere diejenige dieses bestimmten Menschen (τοῦδε) und eine dritte die eines anderen sein? Ist
sie etwa nur mit ihrem unteren Teil die Seele dieses bestimmten Menschen,
während sie mit ihrem oberen nicht zu diesem Menschen, sondern zu jener
[Wesenheit] gehört (d.h. zu der Hypostase Seele, in der alle Seelen eins sind
und die niemals in einen Körper eingeht; vgl. IV 3 [27],4,15)?[66]
Aber dann würde Sokrates, d.h. die Seele des Sokrates,[67]
nur so lange existieren, wie sie in einem Körper wäre, und gerade dann
zugrundegehen, wenn sie den besten Zustand erreicht hätte. – Nein, denn nichts
von dem, was ist, wird zugrundegehen.
Auch dort lösen sich ja die Geistwesen nicht deswegen in einer Einheit auf,
weil sie nicht auf körperliche Weise voneinander getrennt sind; sondern jedes
einzelne bleibt bestehen in der Andersheit, weil ihm zukommt, genau das zu
sein, was es ist.[68]
Genauso ist es mit den Seelen, die von jedem einzelnen Geist unmittelbar
abhängig sind, da sie von den Geistwesen kommende rationale Strukturen (λόγοι) sind und in höherem Maße als diese entfaltet
sind [...]; jede für sich bleibt eins, und alle zusammen sind sie eins (IV 3
[27],5,1-14).[69]
Die Parallelität
dieser Passage zu der soeben besprochenen aus VI 4 [22],4 steht außer Frage.
Plotin beschreibt im letzten zitierten Satz dieselbe zugleich einheitliche und
vielheitliche Struktur, in der jede individuelle Seele eins mit dem Ganzen ist
und doch sie selbst bleibt. Aber Plotin führt die Struktur der nicht
körpergebundenen Seele jetzt explizit auf die Einheit-Vielheit der
nächsthöheren Hypostase, des Intellekts, zurück: Die Seelen werden mit dem
vielzitierten, sonst meist auf den Intellekt bezogenen Anaxagoras-Fragment „alle
zusammen“ belegt.[70] Umgekehrt
wird für den Intellekt betont, daß die Unterschiedenheit der Einzel-Intellekte
nicht dadurch bedroht ist, daß sie nicht durch Körper voneinander abgegrenzt
sind – hier spiegelt sich Plotins Überzeugung, daß für das sinnlich geprägte
diskursive Denken die unkörperliche Pluralität des Intellekts leichter zu denken
ist als die der Seele, deren Vielheit sich uns in der Erfahrungswelt immer
durch ihre Relation zu den Körpern zeigt.[71] Der
wahre Grund für die Vielheit der Seele ist jedoch ihre Abhängigkeit vom
Intellekt, dessen entfaltetere Version sie ist und dessen Grundzug sie bewahrt:
das Zugleich von Identität und Differenz.[72] Wie
diese Entfaltung vor sich geht, ist nicht ganz klar. Plotin beschreibt die
Seelen als λόγοι
ihrer jeweiligen Intellekte, d.h. er setzt das Verhältnis von Intellekt und
Seele, wie auch sonst gelegentlich, in Analogie zu dem Verhältnis von
innerseelischem und sprachlich vorgetragenem Logos, das nach seiner
Interpretation eine Teilung und Vervielfältigung impliziert;[73] und
er schreibt der Seele in Anlehnung an den Timaios
(35a) einerseits Unteilbarkeit, andererseits eine Tendenz zur Teilung zu. Damit
kann nicht das „reale“ Geteiltwerden der Seele beim Eingehen in die Körper
gemeint sein, da von nicht körpergebundenen Seelen die Rede ist; eher meint
Plotin, daß die im Intellekt miteinander vereinigten Inhalte in der Seele
bereits stärker voneinander differenziert sind, so daß ihre Ordnung auf die
raumzeitliche Anordnung vorausweist, die die Seele ihnen in der Körperwelt
geben wird.[74] Dagegen ist Plotins Rede
von der Entfaltung sicher nicht so zu verstehen, daß es eine größere Anzahl von
Seelen als von Intellekten gibt, daß also aus je einem Intellekt mehrere Seelen hervorgehen. Der Faktor, um den die
Seelen gegenüber den Intellekten vermehrt sind, wäre eine rein willkürliche
Annahme (ob ein Intellekt zwei, drei oder zehn Seelen aus sich heraussetzt,
wäre nicht begründet zu entscheiden). Es kommt Plotin vielmehr darauf an, daß
sich die Einzelseelen zu den Einzel-Intellekten so verhalten wie die
Gesamtseele zum Gesamt-Intellekt.[75]
Diese Interpretation ist, wie mir scheint, vor allem deswegen notwendig, weil
das Problem, das Plotin mit der bis hierher nachvollzogenen Argumentation lösen
will, dasjenige der Individualität der körperlosen Seelen ist. Der Text wird eröffnet
mit der Frage, ob unter der Voraussetzung der Einheit aller Seelen in der
Hypostase Seele überhaupt noch von der Seele eines individuellen Menschen wie
des Sokrates gesprochen werden kann oder ob die Seele des Sokrates nach ihrer
Befreiung vom Körper in der Hypostase Seele aufgeht und aufhört, Seele des
Sokrates zu sein. Das ist zum einen der Einwand der natürlichen Intuition, die das
menschliche Individuum immer unter Einbeziehung des Körpers und der
persönlichen Geschichte denkt und die sich infolgedessen das Fortbestehen von
Individualität in der Körperlosigkeit schwer vorstellen kann. Es ist
bemerkenswert, daß Plotin bei Teilen seiner Leserschaft einen solchen –
freilich intuitiven, nichttheoretischen – Begriff von Individualität
voraussetzt und mit entsprechendem Widerstand gegen seine Theorie von der
Einheit aller Seelen rechnet;[76] der
Grund dafür dürfte in seinen Augen die schon erwähnte Beeinflussung des
diskursiven Denkens durch die Sinnendinge sein, gegen die seine philosophische
Argumentation hier wie überall ankämpft. Zum anderen ist es aber auch der
Einwand des Platonikers, der bezweifelt, ob das Ideal des Phaidon – die Lösung der Seele vom Körper durch Philosophie – noch einen
Sinn ergibt, wenn die individuelle Seele beim Erreichen dieses Ziels in einer
differenzlosen All-Seele aufgeht. Das philosophierende Selbst würde damit
vernichtet; die platonische Unsterblichkeit der Seele wäre lediglich eine
allgemeine, aber keine persönliche Unsterblichkeit.[77] Wenn
Plotins Argumentation in IV 3 [27],5,5ff. auf diese Fragen eine überzeugende
Antwort geben soll, dann darf sie sich nicht lediglich, wie der vorige Text aus
VI 4 [22],4, auf die objektive Vielheit, sondern muß sich auch auf das Selbstsein,
die Subjektivität der einzelnen körperfreien Seelen beziehen. Das Selbstbewußtsein
der Seelen muß in Kontinuität mit dem Selbstbewußtsein des Menschen stehen,
dessen Seelen sie sind bzw. waren, sofern die Redeweise von „deiner Seele“ oder
„der Seele des Sokrates“ in der Körperlosigkeit ihre Gültigkeit behalten soll. Wenn
Plotin also in IV 3 [27],5 jede Seele in einem individuellen, ihr allein
zugeordneten Intellekt gegründet sein läßt, dann verankert er damit die menschliche
Individualität im Sinne des individuellen Selbstbewußtseins in der
intelligiblen Welt. Zu beachten ist freilich, daß es sich dabei um Individualität
in dem für den intelligiblen Bereich gültigen, Einheit mit dem Ganzen nicht
ausschließenden Sinne handelt, wie die anaxagoreische „Alles zusammen“-Formel
zeigt.
Für Plotin ist
der Intellekt also das Prinzip nicht nur der Pluralisierung, sondern auch der
Individuation der Seelen.[78] Daraus
folgt freilich noch nicht, daß es bereits auf der Stufe des Intellekts selbst ein
„Wir“ gibt, ein individuelles Selbstbewußtsein, das in der ersten Person
beschrieben werden kann. Wie wir sogleich sehen werden, gibt es jedoch Texte,
die hinreichend belegen, daß dies der Fall ist und daß der Intellekt insofern
nicht nur das Prinzip, sondern auch die höchste Form jedes individuellen „Wir“
ist.
3. Die Einheit
der nicht herabgestiegenen Seele mit dem Intellekt
Es gibt keinen
vernünftigen Grund zu bezweifeln, daß es sich bei den körperlosen Seelen, von
denen in den bis hierher diskutierten Texten die Rede war, um die nicht
herabgestiegenen Teile der individuellen menschlichen Seelen handelt. Genauer
gesagt: Es handelt sich um die höchsten Teile dieser Seelen, die im Sinne des Timaios (35a) „unteilbar“ sind und sich
per se niemals mit einem Körper verbinden – im Gegensatz zu den niederen
Seelenteilen, die ihrer Natur nach „an den Körpern teilbar“ sind, auch wenn sie
faktisch einmal nicht an einen Körper gebunden sein sollten.[79] Weniger
klar ist hingegen das Verhältnis der nicht herabgestiegenen Seelen zum Intellekt.
Sind sie trotz ihres Verbleibens „im Intelligiblen“ vom Intellekt klar
differenziert – oder handelt es sich bei ihnen um individuelle Intellekte, die
wegen des für immaterielle Wesenheiten gültigen Verständnisses von
Individualität zugleich der Gesamt-Intellekt sind? In diesem Fall wären sie
„Formen von Individuen“ in dem Sinne, wie Plotin ihn in V 7 [18] diskutiert. Die
bis hierher besprochenen Passagen enthalten diesbezüglich keine eindeutigen
Aussagen; die Formulierung in IV 3 [27],5, daß die Seelen mit dem Geist „durch
dasjenige in Verbindung stehen, was an ihnen das weniger Teilbare ist“ (IV 3
[27],5,11f.) scheint eher für eine Differenz zwischen Intellekt und unteilbarem
Seelenteil zu sprechen. Es soll daher nun gezeigt werden, daß Plotin die nicht
herabgestiegene Seele tatsächlich mit dem Intellekt gleichsetzt und daß diese
Gleichsetzung ernstgenommen werden sollte, weil es für sie im Rahmen von
Plotins Denken gute philosophische Gründe gibt.
Die Schrift VI
4-5 [22-23] interpretiert bekanntlich die platonische Teilhabe an den Formen
als die ungeteilte Gegenwart des gesamten intelligiblen Seins, d.h. des
Intellekts, bei jedem sinnlich wahrnehmbaren Einzelding. In der Tat kann
Teilhabe nichts anderes sein, wenn sie nach den dem intelligiblen Sein
angemessenen Prinzipien verstanden werden soll, also unter Ausschluß jeder
räumlichen Distanz oder körperlichen Teilung. Dabei ist nicht nur das Dasein
von Tieren oder Mineralien, das man traditionell mit der Teilhabe an den
entsprechenden Formen begründete, als Ergebnis der Allgegenwart des
intelligiblen Seins zu erklären. Dasselbe Prinzip gilt auch und vor allem für
das höchste in der Erfahrungswelt vorfindliche Seiende: den Menschen, das aus
Körper und Seele zusammengesetzte „rationale Lebewesen“.[80] Es
reicht dabei nicht aus, auf die Unteilbarkeit und Allgegenwart der Seele im
Körper zu verweisen, die Plotin in VI 4-5 [22-23] häufig als konkretes Beispiel
für die Unteilbarkeit und Allgegenwart des Intelligiblen anführt.[81] „Wir“, d.h. die menschliche
Rationalität und der menschliche Intellekt, gehen vielmehr direkt auf den höchsten
Intellekt und das intelligible Sein in seiner Ganzheit zurück:
Denn auch das zu uns Gehörige[82]
und wir selbst werden auf das Sein zurückgeführt; d.h. wir steigen auf zu ihm
und zu dem ersten, was von ihm ausgeht,[83]
und haben ein geistiges Erkennen des Dortigen, ohne Abbilder oder Eindrücke
davon zu haben. In diesem Fall aber ergibt sich, daß wir es erkennen, indem wir
es sind. Wenn wir mithin am wahren Wissen teilhaben, dann sind
wir die betreffenden Gegenstände, nicht indem wir sie abgeschlossen in uns
haben, sondern indem wir unsererseits in ihnen sind. Da aber nicht nur wir
allein, sondern auch die anderen [Menschen] sie sind, ergibt sich, daß wir alle
sie sind. Also sind wir mit allen [Menschen] beisammen, wenn wir sie sind; also
sind wir alle alles und sind eins
(VI 5 [23],7,1-8).[84]
Es geht in
diesem Text nicht in erster Linie – wie etwa in IV 8 [6],1,1-11 – um den Aufstieg der Seele oder des Selbst zum
Intellekt und in die intelligible Welt. Dieser Aspekt erscheint zwar auch, doch
die eigentliche Aufmerksamkeit gilt der Tatsache, daß wir, um den Aufstieg
überhaupt durchführen zu können, immer schon im Intelligiblen verwurzelt und in
letzter Instanz mit ihm eins sein müssen. Der Wiedergewinn des wahren Selbst
ist für Plotin nichts anderes als der Rückgang auf den eigenen Ursprung.[85]
Plotin unterscheidet diese logisch-ontologische Reduktion („wir ... werden ...
zurückgeführt“; im Griechischen steht das zu ἀναγωγή,
„Reduktion“, gehörige Verb) der Seele auf den Intellekt hier auch
terminologisch von dem ethisch-aktualen Aufstieg („wir steigen auf“). Der Grund
für Plotins Akzentsetzung ist klar: Ein beispielhafter Fall der Allgegenwart
des intelligiblen Seins ist die Einheit des Selbst mit dem Intellekt nur, insofern
sie immer besteht, nicht insofern sie erst im Laufe der Zeit erreicht wird und
wieder verlorengehen kann. Für Plotin ist an dieser Stelle nicht relevant, daß
wir Intellekt werden können, sondern
daß wir es immer schon sind.[86]
Drei Punkte sind
für unsere Zwecke an dem zitierten Text besonders hervorzuheben. Erstens: Das
„Wir“ erkennt die intelligiblen Wesenheiten dadurch, daß es diese ist. Das wird damit begründet, daß es
sich bei der Erkenntnisweise des „Wir“ um wahre Erkenntnis handelt, die nicht
indirekter Natur sein kann (hierfür stehen die „Abbilder“ und „Eindrücke“), sondern unmittelbare Erkenntnis und damit
Selbsterkenntnis im Sinne der Identität von erkennendem Subjekt und erkanntem
Objekt sein muß. Exakt dies ist aber die Erkenntnisform, die nach der bekannten
Argumentation von V 5 [32],1 das Wesen des göttlichen Intellekts ausmacht, weil
nur sie die für diesen vorauszusetzende absolute Irrtumsfreiheit gewährleistet.[87]
Wenn das „Wir“ in der
intelligiblen Welt also eine irrtumsfreie Erkenntnis der intelligiblen Objekte
hat, die zugleich Selbsterkenntnis ist, dann ist es Intellekt. Plotin deutet mit keinem Wort an, daß er eine
Differenzierung zwischen „Wir“ und Intellekt für notwendig hält, und eine solche ließe sich auf der Basis
der Argumentation von VI 5 [23],7 auch nicht ohne Künstlichkeit durchführen. Zweitens
notiert Plotin ausdrücklich, daß die ursprüngliche Einheit mit dem Intellekt
nicht nur besonders fähigen oder privilegierten Menschen (etwa Philosophen),
sondern allen Menschen zukommt. Auf der Ebene des Intellekts bilden sämtliche „Wir“
eine Einheit. Damit ist eben jene
einheitlich-vielheitliche Struktur gemeint, die in VI 4 [22],4 mit
aristotelischer Terminologie und in IV 3 [27],5 mit der anaxagoreischen „Alles
zusammen“ -Formel beschrieben
wurde. Wenn Plotin sie jetzt aus der subjektiven Perspektive des „Wir“
beschreibt, beweist das noch einmal,
daß die Einheit aller Seelen im Intelligiblen nicht den Verlust des aus der
Erfahrungswelt geläufigen individuellen Selbst bedeutet. Wohl aber deutet sich
– im Sinne des für immaterielle Wesenheiten gültigen revidierten Individualitätsbegriffs
– eine Integration der Anderen in das eigene Selbst im Sinne totaler
gegenseitiger Transparenz an.[88]
Drittens charakterisiert Plotin dieses intelligible Selbst deutlich als Form.
Der hier mit „also sind wir alle alles und sind eins“ eher paraphrasierte als übersetzte griechische
Satz πάνταἄραἐσμὲνἕνverknüpft mit
außerordentlicher sprachlicher Kühnheit drei Aussagen: 1. „Wir alle sind eins“,
der aus dem vorhergehenden Satz folgende Gedanke der Einheit aller „Wir“
miteinander; 2. „Wir sind alles (d.h. alle platonischen Formen)“, die Einheit
jedes individuellen „Wir“ mit der Totalität der Formen; 3. „Alle Dinge (d.h.
alle platonischen Formen) sind eins“, die Einheit aller Formen im Intellekt.
Diese drei Gedanken kombiniert Plotin zu einem einzigen Satz, der, wörtlich
übersetzt, heißen müßte: „Wir, alle Dinge (d.h. alle platonischen Formen), sind
eins.“ Hier sprechen gewissermaßen die platonischen Formen selbst und stellen
ihre fundamentale Einheit fest; da aber der ganze umgebende Text in der ersten
Person Plural steht, sprechen zugleich die individuellen „Wir“ der Menschen,
denen auf diese Weise selbst der Status von Formen zuerkannt wird. Die eingangs
für die Erkenntnisform des „Wir“ festgestellte Subjekt-Objekt-Identität ist
also so zu deuten, daß das „Wir“ ein intelligibles Objekt im vollen Sinne ist
und nicht lediglich ein Subjekt, das im Moment des Erkennens mit seinem Objekt
eins wird. Mit anderen Worten: Das „Wir“ ist sowohl individuelle Form als auch
Form eines menschlichen Individuums.
Das Problem, das
die jüngere Forschung so sehr beschäftigt hat – die Abgrenzung dieser
intelligiblen Individuen oder Seelen-Formen von den „echten“ platonischen
Formen – scheint sich für Plotin hier nicht zu stellen. Es scheint aber auch
nicht, daß das erforderlich wäre. Generell sind die platonischen Formen für
Plotin ja Intellekte, die sich selbst als ein bestimmtes Seiendes (Mensch,
Pferd) erkennen und zugleich alle anderen Formen und den Gesamt-Intellekt
erkennen; genauer gesagt, sind sie
der sich selbst erkennende Gesamt-Intellekt, der sich in jeder von ihnen als ein bestimmtes Seiendes denkt.[89] Wie
wir soeben sahen, gilt alles das auch für das intelligible „Wir“, die
Individual-Form. Und speziell nach der Argumentation von VI 4-5 [22-23] ist in
der Seele des Sokrates und in der Form des Baumes gleichermaßen das gesamte
intelligible Sein präsent; die Differenz ist dadurch bedingt, daß Sokrates
dieses auch nahezu als ganzes aufnimmt, während der Körper des Baums nur die
Aufnahmefähigkeit für eine einzelne Form besitzt. Diese Konzeption wirft
fraglos eigene Probleme auf, sobald man nach der Ursache der unterschiedlichen
Aufnahmefähigkeit der Körper fragt. Doch hat das nichts mit der Unterscheidung
von individuellen und überindividuellen Formen zu tun; die platonische Form des
Baumes und die Individualform „Sokrates“ entfalten dieselbe Art von Kausalität.
Plotin gebraucht
für den nicht herabgestiegenen Teil der individuellen Seele, dessen Identität
mit dem Intellekt er an unserer Stelle herausarbeitet, den subjektiven Terminus
„Wir“. Das ist kein Widerspruch zu anderen Passagen, an denen er das Wir auf
der Stufe des diskursiven Denkens verortet[90] oder
sogar ausdrücklich feststellt, daß „Wir“ nicht der Intellekt sind.[91] An
diesen Stellen spricht Plotin von dem Selbstbewußtsein des empirischen
Menschen, das wesentlich durch die Rationalität geprägt ist: Als Menschen sind
wir per definitionem rationale Wesen und denken jederzeit diskursiv, während
die noetische Erkenntnis für uns etwas Intermittierendes ist.[92] In
VI 5 [23],7 ist dagegen von jenem schon in der eingangs zitierten Passage aus VI
4 [22],14 erwähnten „Wir“ die Rede, das unser Selbst ist, bevor dieses durch
den Zusatz des Körpermenschen verändert wird. In diesem Sinne sagt Plotin
einmal, daß der empirische Mensch, um die wahre, nur auf der Ebene des
Intellekts mögliche Selbsterkenntnis zu erreichen, „ein anderer“ werden muß.[93] Nach
allem, was wir bis jetzt über das Fortbestehen der menschlichen Individualität
auf der Intellekt-Ebene festgestellt haben, kann damit sicher nicht gemeint
sein, daß die noetische Selbsterkenntnis für das erkennende Subjekt den Verlust
des „Wir“, seines individuellen Selbst, bedeutet. Gewiß verlangt Plotin eine
radikale Neudefinition des Wir, von der der körperliche Zusatz-Mensch kein Teil
mehr ist. Das bedeutet jedoch nicht, daß das bisherige Wir, das subjektive
Bewußtsein des psychophysischen Menschen, vernichtet wird und das neue, rein intelligible
Wir eine andere Person, ein anderes Ich ist; das Gegenteil muß der Fall sein, wenn
die Aussagen von IV 3 [27],5 über das Fortbestehen der Person Sokrates in der
Körperfreiheit gültig sind und wenn der Gedanke der Neudefinition des eigenen
Selbst überhaupt einen Sinn haben soll. Freilich erfährt das intelligible „Wir“
gegenüber dem empirischen eine entscheidende Modifikation, deren spezifischer
Charakter in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem für immaterielle
Wesenheiten gültigen Individualitätsbegriff steht. Der Gebrauch der ersten
Person erlaubt es Plotin, diese Modifikation subjektiv als die Erfahrung der
Erweiterung des Ich-Bewußtseins zu beschreiben:
Freilich wird man sich selbst zunächst noch nicht als das All sehen; aber
dann, wenn man nicht mehr weiß, welchen Standpunkt man einnehmen und wie man
sich abgrenzen soll und bis zu welchem Punkt man selbst eigentlich geht, wird
man darauf verzichten, sich ein- und vom Sein insgesamt abzugrenzen, und so in
das gesamte All hineingelangen – nicht indem man in irgendeine Richtung
fortschreitet, sondern indem man da bleibt, wo das All seinen festen Standort
hat (VI 5 [23],7,13-17).[94]
Wenn man genau
hinsieht, beschreibt dieser eindrucksvolle Text allerdings keine Erweiterung,
sondern eine Entgrenzung des Selbst. Plotin spricht nicht von einer
quantitativen Vergrößerung oder räumlichen Bewegung des Selbst (auch nicht
metaphorisch); die letztere wird sogar explizit ausgeschlossen. Um der
Intellekt und alle Formen und alle anderen „Wir“ zu werden, muß man lediglich
darauf verzichten, seinem eigenen Ich die Grenzen zu setzen, die man sich aufgrund
der Gewöhnung an die Körperwelt üblichererweise setzt, die sich aber als willkürliche,
der wahren Natur des Ich nicht entsprechende Beschränkungen erweisen, sobald
man die Kriterien des wahren, intelligiblen Seins zugrundelegt.
4.
Schlußbemerkung
Es ist wohl kaum
zu vermeiden, daß man mit Plotins Ideal eines absolut körperfreien, rein
intelligiblen Daseins die Vorstellung des Verlusts der eigenen Individualität assoziiert.
Wir nehmen neben den rein intelligiblen Kriterien materiale Separation, Körperlichkeit,
persönliche Geschichte und Erinnerung als Kriterien von Individualität an und
betrachten das Wegfallen dieser Elemente auf der Ebene des Intelligiblen
intuitiv als einen Verlust, durch den die Individualität und das Selbst
überhaupt bedroht ist. Für Plotin stellt sich der Sachverhalt dagegen eher
umgekehrt dar. In seinen Augen ist die Entstehung der empirischen aus der
intelligiblen Individualität eben jener Sachverhalt, den er mit den Worten
beschreibt: „Durch den Zusatz bist du weniger geworden“ (VI 5 [23],12,20f.). Körperlichkeit
und Geschichte, die vermeintlich konstitutiven Elemente unserer Individualität,
sind solche mindernden Zusätze zu unserem wahren Selbst; sie sind
Begleiterscheinungen des platonischen Seelensturzes, d.h. des Hinzutretens des
Körpermenschen zu „uns“. Ihr Hinzutreten ist gleichbedeutend mit dem Verlust einer
viel reicheren Art von Individualität, die es nur unter nichtkörperlichen
Bedingungen geben kann und und deren reduzierte, den Bedingungen von Raum und
Zeit angepaßte Form unsere empirische Individualität ist. Kriterien dieser transzendenten
Individualität sind einerseits das individuelle Ich-Bewußtsein und die
Differenz zum Anderen; in dieser Hinsicht ist die empirische Individualität ihr
Abbild. Andererseits impliziert sie zugleich mit der Differenz auch die Identität
des Individuums mit allen anderen Individuen und mit der Gesamtheit des
Seienden; und diese Identität kann in der empirischen Welt nicht erhalten
bleiben, weil sie hier – wo Identität und Differenz einander ausschließen – den
Verlust der Individualität bedeuten würde.
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K. Wurm,
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VI 1, 2 und 3, Berlin/New York: de Gruyter 1973.
[1]
Dieser Beitrag ist in französischer Übersetzung in der Zeitschrift Les études philosophiques erschienen (C.
Tornau, Qu’est-ce qu’un
individu? Unité, individualité et conscience de soi dans la métaphysique
plotinienne de l’âme, Les études philosophiques 90, 2009: Plotin et son
platonisme, 333-360; Online-Version: http://www.cairn.info/revue-les-etudes-philosophiques-2009-3-p-333.htm).
Ich danke dem Verlag Presses
Universitaires de France für die freundliche Erlaubnis, die deutsche
Fassung an dieser Stelle zu veröffentlichen. Die Forschungsdiskussion und
philologischen Detailbemerkungen in den Fußnoten sind gegenüber der
französischen Fassung stark gekürzt. Riccardo Chiaradonna danke ich für die kritische
Diskussion einer früheren Version dieses Artikels.
[2]
Übersetzungen aus Plotin stammen aus Tornau 2001 oder wurden für diesen Beitrag
neu angefertigt.
[3] VI 4 [22],14,22-26.
[4] Pl. Alc. 130c; vgl. bes. IV 7 [2],1,1;
22-25; Dörrie/Baltes 2002a, 58f.; 251-253 (Baustein 157). Zu Plotins Exegese
des Alkibiades vgl. zuletzt Aubry
2004, 15-32; Aubry 2007, 163-171.
[5] I 1 [53],10,5-9: „Das ‘Wir’ ist
also etwas Zweifaches – entweder wird das wilde Tier mit dazugerechnet, oder es
ist nur das, was bereits über diesem steht. Und das Tier ist der mit Leben
versehene Körper; der wahre Mensch ist dagegen etwas anderes, er ist von
all dem rein und besitzt die im geistigen Erkennen liegenden Tugenden,
diejenigen also, die ihren Standort in der sich vom Körper trennenden Seele
selbst haben ...“ Zu dieser Stelle: Aubry 2004, 273-286. Vgl. I 1
[53],7,17-24; II 3 [52],9,30f.; V 3 [49],4,7-13 (Doppeltheit des Menschen mit
Bezug auf die Selbsterkenntnis; dazu Corrigan 2000, 165f.); IV 3 [27],31,15
(„das Zweifache unserer Seelen bleibt uns verborgen“). Plotins Philosophie des
Selbst hat entsprechend dem Interesse der modernen Philosophie an den Fragen
von Subjektivität und Reflexivität einige Aufmerksamkeit in der Forschung
erhalten. Grundlegend ist O’Daly 1973 (Besprechung der relevanten Textstellen).
Vgl. außerdem Gerson 1994, 139-151 („ideal self“ versus „endowed self“);
Beierwaltes 2001, 84-122; Perkams 2008, 305-335 (Einordnung in die Entwicklung
der Philosophie des Selbst im Neuplatonismus bis zu Damaskios). Remes 2007 behandelt
Plotin vom Standpunkt der Gegenwartsphilosophie aus und mit deren
Fragestellungen und untersucht Aspekte wie „self-awareness“, „mental
connectedness“ und „self-knowledge of the thinking thing“; sie arbeitet
durchweg die Bewußtseinskontinuität zwischen niederem und höherem Selbst und
die Einheit des „Wir“ heraus (vgl. z.B. 123f.). Sorabji 2006 bietet eine
umfassende Darlegung antiker Ideen zum Selbst; zur platonischen Tradition und
zu Plotin vgl. bes. 115-136.
[6] Vgl. VI 4 [22],14,29-31; 15,35-40. Zu
VI 4 [22],14 vgl. meinen Kommentar, Tornau 1998a, 266-276; Remes 2007, 9; Aubry
2008a, 281-285.
[7]
Dieser Punkt wird vielleicht etwas überbetont von Aubry 2004, 22-32; 41-59 („Un
sujet sans identité“), die so weit geht, das „Wir“ als „sujet non substantiel“ (ebd.
41) oder als reine Potentialität (Aubry 2007, 170) zu charakterisieren;
kritisch dazu Chiaradonna 2008, 282-284.
[8]
Gelegentlich steht allerdings auch die erste oder zweite Person Singular (IV 3
[27],5,1; IV 9 [8],1,6; IV 9 [8],2,7; IV 7 [2],6,18f. nach Arist. de an. 3,2, 426b19).
[9] Zum
Problem der Erinnerung vgl. IV 3 [27],25-IV 4 [28],8; Brisson 2006; Remes 2007,
111-119. Zu der anscheinend durch Epikur und Stoa angeregten modernen
Privilegierung der Erinnerung bei der Konstitution des Selbst etwa bei John
Locke vgl. Sorabji 2006, 94-111.
[10] Vgl.
bes. IV 8 [6],8,1-6 und dazu Dörrie/Baltes
2002b, 32-35; 202-204 (Baustein 172.3); D’Ancona al. 2003,47-65; 205-208. Zur Metapher des Amphibiums vgl. IV
8 [6],4,31-35.
[11] Vgl.
die Zusammenfassung bei Chiaradonna 2005a, 27-34.
[12] Dies
ist vielfach festgestellt worden, vgl. z.B. Beierwaltes 1981, 73. Zum
exegetischen Aspekt vgl. auch Szlezák 1979, 167-205; Szlezák 2000.
[13] Vgl. Chiaradonna 2005a, bes. 38f.;
Chiaradonna 2006, 75f.
[14] Vgl.
Linguiti 2000, 43-52; Linguiti 2001.
[15] Vgl.
IV 3 [27],2,8-10; 5,9-21. Zur Problematik der Einheit aller Seelen vgl. IV 9
[8] passim; VI 4 [22],1 und 6; IV 3 [27],1-8.
[16] Pl. Phd. 79d-e.
[17]
Kontinuität: IV 3 [27],5,11 (συναφεῖς).
Nichtabgeschnittensein (μὴἀποτετμῆσθαι):
VI 4 [22],14,21; VI 9 [9],9,6-8 etc. Vgl. V 3 [49],12,44f.: „Denn das von ihm Kommende ist weder von ihm
abgeschnitten noch mit ihm identisch.“
[18] Zu
den Diskussionsbeiträgen der letzten Jahre zählen: Helleman-Elgersma 1980,
338-345 (im Kommentar zu IV 3 [27],5); Gerson 1994, 72-78; Blumenthal 1996;
Ferrari 1997; Kalligas 1997a; O’Meara 1999; Morel 1999; Petit 1999; D’Ancona
2002; Remes 2007, 59-91; Aubry 2008a, 277f.
[19] Vgl.
bes. Pl. R. 10,596a: „Wir setzen ja für gewöhnlich je eine einzige Form für
jede Vielheit von Dingen an, denen wir denselben Namen geben.“
[20] Vgl. O’Meara 1999; Alcin. Did. 9, p. 163,23-28: „Man definiert die
Form als das ewige Vorbild der von Natur aus bestehenden Dinge. Denn die meisten
Platoniker nehmen keine Formen von künstlichen Gegenständen [...], von
widernatürlichen Dingen [...] oder von Individuen wie z.B. Sokrates oder Platon
an ...“. Vgl. Dörrie/Baltes
1998, 20-23; 240-246 (Baustein 127.4).
[21] Die
Bedeutung des plotinischen höheren Selbst für die Frage der Individualformen
hat zuerst A.H. Armstrong in einem noch immer lesenswerten Aufsatz
herausgestellt (Armstrong 1977, 57-60).
[22] Vgl.
Kalligas 1997a, 211f.
[23] Die
meisten Übersetzungen geben die hier mit „eh bien“ übersetzte Antwortpartikel ἢ in zu stark affirmativer Weise
wieder: „Oui“ (É. Bréhier), „Oui, c’est le cas“ (L. Brisson/J. Laurent/A.
Petit), „Yes“ (Armstrong). Treffender ist m.E. „Nun“ (Harder/Beutler/Theiler)
oder „surely“ (C. D’Ancona). Vgl. D’Ancona 2002, 532 mit Anm. 37.
[24]
Kalligas 1997a, 217 („soul-forms“); 220f. Skeptisch gegenüber der Annahme von
Seelen-Formen ist Remes 2007, 76-85. Blumenthal 1996, 100f. hält die Frage, ob
der höchste Seelenteil bei Plotin Intellekt oder Seele ist, für nicht
entscheidbar. Zur Identität der nicht herabgestiegenen Seele mit den Formen von
Individuen vgl. ausführlich Ferrari 1997, 47-53. Ferrari liest die Schrift V 7
[18] insgesamt als eine Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten, die entstehen,
sobald man das Verbleiben der höchsten Seelenteile im Intelligiblen unter dem
Aspekt der Frage nach Formen von Individuen betrachtet; hieraus erkläre sich
der aporetische Charakter der Schrift und das Fehlen jeder positiven
Argumentation für die Existenz von Individualformen (ebd. 46f.; 52; 61). Leider
hat diese Erklärung, die viele Probleme der Schrift löst, in der Forschung
wenig Beachtung gefunden.
[25] V 1
[10],11,6; V 8 [31],3,17.
[26]
D’Ancona 2002, 542-552 mit Hinweis auf V 3 [49],4,15-19 (wo allerdings auch der
transzendente Intellekt gemeint sein kann), V 1 [10],11,1-6, III 4 [15],3,21-27
und I 1 [53],8,1-8: „Und wie verhalten wir uns zum Geist? Mit Geist meine ich
hier nicht die Haltung, die die Seele einnimmt und die nur etwas vom Geist
Herkommendes ist, sondern den Geist selbst. Nun: Auch diesen haben wir, und
zwar oberhalb von uns. Wir haben ihn aber entweder gemeinsam oder jeder
für sich allein oder so, daß man ihn sowohl mit allen gemeinsam als auch für
sich allein hat: gemeinsam, weil er unteilbar und eins und überall derselbe
ist, für sich allein, weil ihn trotzdem jeder in seiner ersten Seele ganz
besitzt.“
[27] Vgl. bes. D’Ancona 2002, 560: „The
solution to this problem lies in that [...] there are not only Forms in the
intelligible realm, but Forms and souls, which are present ἐντῷνοητῷ through their intellectual part or aspect –
that part or aspect which will be called, later on, the apex mentis.”
[28]
Plotin würde dann einen „Monopsychismus“ oder eine Art Averroismus avant la
lettre vertreten (D’Ancona al. 2003, 57 Anm. 127; D’Ancona 2006, 22f.).
[29]
D’Ancona al. 2003, 57-64; vgl. D’Ancona 2006, 22-28.
[30] Daß
das der Fall ist, arbeitet C. D’Ancona selbst anhand von Texten wie IV 8
[6],1,1-11 heraus (D’Ancona 2002, 521-533; vgl. auch D’Ancona al. 2003,
131-137).
[31] Das
ist das Ergebnis der Argumentation von V 3 [49],1-5; vgl. V 3 [49],2,23-25;
3,15-18; 6,1-5 („Die Argumentation hat also gezeigt, daß es etwas gibt, das
sich im eigentlichen Sinne selbst erkennt. Dieses erkennt in einem anderen
Sinne, wenn es in der Seele ist, im eigentlichsten Sinne aber im Geist. Denn
die Seele erkennt sich selbst mit Bezug darauf, daß sie von etwas anderem
kommt; der Geist dagegen erkennt, daß er er selbst ist, wie er selbst ist, was
er selbst ist, aufgrund seiner eigenen Natur und indem er sich auf sich selbst zurückwendet“; V 3 [49],4,29-31 („Man ist aber
selbst Geist geworden, wenn man alles andere von sich selbst weggelassen hat
und diesen [= den Geist] durch diesen schaut und sich selbst durch sich selbst.
Man sieht also sich selbst dadurch, daß man Geist ist“); Ham 2000, 128f.; 142f.; Beierwaltes
1991, 113. Zur Frage der Selbsterkenntnis und zur Schrift V 3 [49] vgl. Gerson
1997; Corrigan 2000; Beierwaltes 2001, 84-97; Crystal 2002, 179-205; Sorabji
2006, 201-211; Emilsson 2007, 144-160; Remes 2007, 156-175; Perkams 2008,
305-320 und die Beiträge zu Dixsaut al. 2002. Beierwaltes 1991 bleibt fundamental.
[32] Es
geht also letztlich darum, Aussagen wie V 3 [49],4,29-31 und I 1 [53],8,4-6 in
einem starken Sinne zu verstehen.
[33]
Plotins wichtigste Termini für „Individuum“ und „individuell“ sind καθ’ ἕκαστα/καθ’ ἕκαστον(V 7 [18],1,1 etc.) und ἕκαστος(IV 7 [2],1,1: ἕκαστος ἡμῶν = „jeder
individuelle Mensch“). Beide Termini können auch auf individuelle Seelen (IV 3
[27],8,13: ἑκάστη sc. ψυχή; IV 8 [6],4,1: τὰς δὴ καθέκαστα ψυχάς) und
Intellekte bezogen werden (VI 7 [38],8,28:τοὺς καθ᾽ ἕκαστα νοῦς; V 9
[5],8,4: νοῦς ἕκαστος). Plotins Sprachgebrauch legt also
durchaus nahe, daß es Individualität auch jenseits der sinnlich wahrnehmbaren
Welt gibt. In der Schrift VI 1-3 [42-44] erscheint außerdem das aristotelische ἄτομον in der Bedeutung von „Individuum“ im Gegensatz
zu „Art“ (εἶδος): VI 2 [43],2,8; VI 2 [43],12,11-13; VI 3
[44],1,15; VI 3 [44],9,37; vgl. VI 7 [38],17,22; Arist. Cat. 3a38f. Soweit ich sehe, bedeutet dagegen ἀμερής/ἀμέριστος trotz der
etymologischen Nähe zu lat. individuus
nirgends „Individuum/individuell“ in einem dem modernen Sprachgebrauch
vergleichbaren Sinne.
[34] Die
im folgenden genannten Aspekte 1 und 3 unterscheidet auch Remes 2007, 62f.
[35] Vgl.
IV 3 [27],5,1.
[36] Vgl.
Morel 1999, 54.
[37] Vgl.
z.B. Arist. Metaph. Z
13, 1038b34-1039a7 (siehe unten). Zu Aristoteles’ Interpretation der
platonischen Ideen als Allgemeinbegriffe vgl. Metaph. M 4, 1078b30-34.
[38] IV 4 [28],1,17; VI 2 [43],20,6 und 11; I
8 [51],6,29 und 31. Sie war zu seiner Zeit freilich längst in die
philosophische Sprache des Platonismus übergegangen, vgl. Alcin. Did. 5, 158,2f.
[39]
Individuelle körperliche Differenzen sind auch das Thema der in der Debatte um
die Individualformen wohl meistkommentierten Passage, V 9 [5],12. Vgl. zuletzt
Kalligas 1997a, 210f.; Ferrari 1997, 31-37; Vorwerk 2000, 157-163; D’Ancona
2002, 552-560; Remes 2007, 79-81; Schniewind 2007, 197-200.
[40] Vgl.
Pl. Prm. 130c; Ferrari 1997, 26-33;
O’Meara 1999, 264f., der eine „standard list“ von Dingen nachweist, bei denen
diskutiert wurde, ob es von ihnen Ideen gibt; auf diese Liste nimmt Plot. V 9 [5],9-13 Bezug. Eine
umfassende Darstellung der Problematik mit Diskussion der wichtigsten
Belegstellen bieten Dörrie/Baltes 1998, 70-78; 336-350 (Baustein 132).
[41] Vgl. bes. VI 5 [23],2,6-9: „Wir
aber müssen, wenn wir über das Eine und das, was in jeder Hinsicht ist,
argumentieren, die dem Gegenstand eigenen Ausgangspunkte wählen, um
Glaubwürdigkeit zu erreichen, und das bedeutet: bei geistig erkennbaren
Gegenständen geistig erkennbare Ausgangspunkte und solche, die mit dem wahren
Sein im Zusammenhang stehen.Die
Rede von den „eigenen ... Ausgangspunkten“ ist – ironischerweise – ein Zitat
von Arist. APo 1,2, 71b23; 72a6. Zu
dem Kapitel VI 5 [23],2 und zur Frage der für die Erkenntnis der intelligiblen
Welt adäquaten Prinzipien vgl. Tornau 1998a, 334-346; Chiaradonna 2002, 109f.;
Chiaradonna 2006, 75f. Das Bestreben Plotins, die Formen in ihrem eigenen Wert
(„intrinsic value“) und nicht in Relation zu den Sinnendingen zu erkennen, hat
schon Schroeder 1992, 3-23 mit großer Klarheit herausgestellt.
[42] Vgl.
bes. Plotins Satz-für-Satz-Exegese von Pl. Prm.
131a-b in VI 4 [22],2,17-25 und dazu Tornau 1998a, 48-52. Es ist
aussagekräftig, daß Plotin die Frage, wovon es Ideen gibt, zwar diskutiert, die
traditionelle Formulierung mit dem Genetiv („Ideen von etwas“; vgl. z.B. Alcin.
Did. 9,163,25f.) aber vermeidet und
lieber danach fragt, was „dort (ἐκεῖ)
ist“ (V 9 [5],10,2f.; 13,1; vgl. 9,1).
[43] Die
Notwendigkeit, physische und intelligible Individualität zu unterscheiden,
betont auch Morel 1999, 60.
[44] Vgl.
zu diesem Text Wilberding 2006, 45f.; Remes 2007, 35-40 (zum „Fließen“ der
Einzeldinge und zu Plotins Version der Ontologie Platons).
[45] Pl. Ti. 27d-28a; 37e-38b. Der Anklang an den Timaios zeigt deutlich, daß die Aussagen
für das intelligible Sein als solches gelten, auch wenn es im Kontext um die
intelligible Struktur der Seele geht.
[46] Vgl.
Arist. Metaph. Δ 6, 1016b31-33 (dort wie in IV 3
[27],8,26 die Wendung κατ’ εἶδοςsc. ἕν). Zur Synonymie von numerischer
Einheit und Individualität vgl. Metaph. B
4, 999b33-1000a1. Es stimmt also nur bedingt, daß Plotin „respinge il criterio
aristotelico di individualità come τόδε τι“ (D’Ancona al. 2003, 61);
richtig ist, daß Plotin eine Neudefinition dieser Individualität nach
intelligiblen Kriterien verlangt (ebd.).
[47] Pl. Ti. 29a; 52a; Phd. 78d
etc.
[48] Zum
ewigen Bestehen der körperlichen Lebewesen nichtἀριθμῷ, sondern nur εἴδει
vgl. mit ganz ähnlichen Formulierungen II 1 [40],1,4-12; 2,1-4 und dazu
Wilberding 2006, 104-106; 114.
[49] An
anderen Stellen kommt das durchaus vor, vgl. VI 6 [34],15,13-15.
[50] Das
bedeutet nicht, daß die platonische Form bei Plotin die Funktion des
Allgemeinen gar nicht mehr erfüllt. Wie die Schrift VI 4-5 [22-23] zeigt, muß
ihre Allgemeinheit aber im Sinne des Paradoxons von Pl. Prm. 131a-b gedacht werden, d.h. als ihre ungeteilte Allgegenwart
bei allen Sinnendingen als Individuum.
Vgl. z.B. VI 5 [23],11,31-34:
„Und was gegenwärtig ist, das ist überall der Zahl nach identisch, nicht so wie
das materiegebundene Dreieck, das in Vielen mehreres ist, sondern wie das
materiefreie Dreieck selbst, von dem die in der Materie befindlichen Dreiecke
ausgehen.“ Vgl. D’Ancona 2002, 539f., deren Schlußfolgerung ich allerdings
nicht teilen kann: „in order to be an intelligible something must be
omnipresent in the set of things named after it, which implies that by no means
it can be an individual“ (540). Da nach VI 4-5 [22-23] mit dem
immateriellen Dreieck zugleich die gesamte intelligible Realität präsent ist,
stellt sich vielmehr die Frage, wie es zur Individualisierung des immateriellen
Dreiecks kommt; hier kommt das schwierige Konzept der Aufnahmefähigkeit (ἐπιτηδειότης) der Körper ins
Spiel (vgl. Tornau 1998a, 61-65; Aubry 2008b).
[51]
Arist. Metaph. Z
11, 1037a15 u.ö. Riccardo Chiaradonna hat in mehreren Arbeiten für mich
überzeugend dargelegt, daß Plotin den aristotelischen Begriff der sinnlichen
Substanz radikal in Frage stellt (vgl. bes. Chiaradonna 2002, 55-146; ähnlich
schon Wurm 1973). Es gibt aber auch andere Auffassungen (Horn 1995; de Haas
2004; Thiel 2004, 176-218).
[52] V 9
[5],13,1-7.
[53] Zum
illusionären Charakter der „sinnlichen Substanzen“ vgl. die Spiegelmetaphorik
von III 6 [26],7.
[54] Dies
wirft Plotin den Gnostikern in II 9 [33],15 vor. Zum Ausdruck „von Natur aus
erlöst“ für die gnostischen Pneumatiker vgl. Clem. Al. exc. ex. Theod. 56,3.
[55] Vgl.
bes. VI 4 [22],12,34-37: „Sie war ja nicht vorab so zubereitet, daß ein
einzelner, genau hier liegender Teil von ihr in den betreffenden Körper
eingetreten ist; sondern dasjenige, von dem es heißt, es sei „hergekommen“,war in allem in sich selbst und ist immer noch in sich selbst, auch wenn
es so scheint, als ob es erst hierher gekommen sei.“
[56] VI 4
[22],16, im Rahmen einer Exegese der platonischen Mythen von Seelenabstieg und
Totengericht.
[57] Vgl.
V 1 [10],8,26 mit Zitat von Pl. Prm.
155e.
[58] VI 4
[22],4,27-32 mit Zitat von Pl. Ti.
35a; der Vergleich mit dem Sonnenlicht in IV 3 [27],4,16-21.
[59] Vgl.
zu diesem Text zuletzt Dörrie/Baltes 2002a, 82; 284f.; 288-292 (Baustein
160.5), die ihn auf die nicht herabgestiegene Seele und deren Identität mit dem
Göttlichen, d.h. dem Intellekt, beziehen. Vgl. auch Tornau 1998a, 108-114.
[60] Vgl.
IV 2 [4],1,11-17.
[61] In
IV 7 [2],82,2-7 setzt er sie gegen die stoische Theorie der totalen
Durchmischung der materiell gedachten Seele mit dem Körper ein. Vgl. dazu
Chiaradonna 2005b, 137-141, der auf GC
1,10, 327b22-32 als Parallele hinweist; der Gedanke wird dort ausführlicher
entfaltet als in der Metaphysik, aber
die uns interessierende Übertragung auf das Verhältnis von Individuum und
Allgemeinem fehlt.
[62] Metaph. Z
13, 1038b34-1039a2, siehe oben.
[63] Es
ist daher etwas mißlich, daß D’Ancona 2002, 530 Anm. 32 diesen Aspekt
ausdrücklich ausspart.
[64] So
tendenziell Aubry 2008a, 280f.
[65] Ein
solcher Zug ist die Analogisierung der Rolle der Seele im
Körper-Seele-Kompositum mit einer Lichtquelle (vgl. bes. I 1 [53],7,1-6; dazu
Aubry 2004, 196-204; Marzolo 2006, 128-134), womit die Seele weit aus dem
Menschenwesen hinausgerückt wird (vgl. Tornau 1998a, 221f.). Ein anderer ist
die Theorie der Reinkarnation, die der Platoniker Plotin akzeptiert und die er
ausdrücklich als eine Schwierigkeit für die Annahme von Individualideen benennt
(V 7 [18],1,5-7). Legt man freilich Plotins revidierten Individualitätsbegriff
zugrunde, der die Inklusion des Anderen impliziert und körperliche und
historische Kriterien ausschließt, so ist es zwar paradox, aber akzeptabel, daß
Sokrates und Pythagoras dasselbe Individuum sind. Zuzugeben ist, daß die
historischen Individuen Sokrates und Pythagoras damit kontingent werden. Eine
Lösung dieses Problems hat Plotin vielleicht mit der Erklärung körperlicher
Differenzen durch λόγοι in V 7 [18], mit der
rangmäßigen Differenzierung der präexistenten Seelen in IV 3 [27],8,5-17 und –
soweit es um die Sinnhaftigkeit von Geschichte überhaupt geht – mit der
Providenzlehre von III 2-3 [47-48] versucht.
[66] Es
handelt sich um einen Rückbezug zu ἐξἐκείνου
in IV 3 [27],4,15, das sich auf die Seelenhypostase bezieht.
[67]
Dieselbe Formulierung steht am Anfang der Schrift über die Individualformen (V
7 [18],1,3).
[68] Der platonische
Terminus technicus für die Idee, vgl. Pl. R.
7,532a-b und häufig.
[69]
Dieser Text wird traditionell im Zusammenhang mit der Frage der Formen von
Individuen diskutiert, vgl. Kalligas 1997a, 222f.; Ferrari 1997, 50f.; Remes
2007, 87f.
[70] IV 3
[27],5,14 nach Anaxagoras fr. B 1 DK; vgl. VI 4 [22],14,4 und 6 und mindestens
15 weitere Belege.
[71] Vgl. IV 3 [27],4,9-14.
[72] IV 3 [27],5,13f.
[73] Vgl. I 2 [19],3,28-30; V 1
[10],3,7-9; SVF 2, fr. 135
etc.; Brisson 1999; Tornau
1998b. Im gegenwärtigen Kontext kann es sich um den Übergang vom
noetischen Erkennen zum diskursiven Denken handeln, falls das letztere der
nicht körpergebundenen Seele zukommt (vgl. IV 3 [27],18,10-13; zur Assoziation
von diskursivem Denken – λόγος
– und Teilung vgl. VI 5 [23],2,1-5).
[74] So Kalligas 1997a, 222 Anm. 62; Kalligas
1997b. Zur Frage der Teilung der Seele vgl. Emilsson 2005 (besonders mit
Blick auf die Schrift IV 2 [4]).
[75] Eine
klare Beschreibung dieser Analogie einschließlich der kausalen Ableitung der
Einheit-Vielheit der Seele aus derjenigen des Intellekts findet sich in IV 8
[6],3,6-13. Vgl. D’Ancona al. 2003, 39f.
[76]
Plotin selbst läßt uns also erkennen, daß nicht erst „the contemporary reader“
(Remes 2007, 246) bei seinen Beschreibungen der vom Körper befreiten Seele
Unbehagen empfindet.
[77] C.
D’Ancona (2002, 542f.; vgl. D’Ancona al. 2003, 61) schlägt vor, unter
„Sokrates“ in diesem Text den Sokrates des Phaidon
zu verstehen, der sich ausdrücklich nicht mit seinem Körper, sondern seiner
unsterblichen Seele identifiziert (115c-116a); dagegen argumentiert Chiaradonna
2008, 286 Anm. 29, der in „Sokrates“ lediglich das übliche Standardbeispiel für
einen individuellen Menschen erkennen will.
[78] Vgl.
Ferrari 1997, 51. Anders Aubry 2008a, 280f.; 284, die die Vielheit des
Intellekts als „principe de distinction“ anerkennt, das „principe
d’individuation“ aber erst im körperlichen Bereich ansetzt, weil die
„conscience“ des „individu incarné“ auf der Stufe des Intellekts nicht erhalten
bleibe. Nikulin 2005, 302-304 will m.E. zu Unrecht in der „logical difference“
von V 7 [18],3,7-13 das principium
individuationis der Seelen erkennen: An dieser Stelle ist nicht von
individuellen Seelen, sondern von individuellen körperlichen Differenzen die
Rede (vgl. Ferrari 1997, 44f.).
[79] VI 4
[22],1,2f.; IV 1 [21],8-12; IV 3 [27],5,11-13. Die Körpergebundenheit ist für
jede Seele etwas Kontingentes (IV 3 [27],2,8-10); das muß auch für die
sinnliche und die vegetative Seele gelten, für deren Unsterblichkeit Plotin in
IV 7 [2],85 argumentiert (vgl. Tornau 2005). Einen Überblick über
Plotins Exegese von Pl. Ti. 35a gebe
ich in Tornau 1998a, 18-21.
[80]
Plotin erwähnt diese traditionelle Definition z.B. in VI 7 [38],4,11.
[81] Vgl.
VI 5 [23],6,13-15: „Denn das Weiße ist auf eine andere Art und Weise überall,
als die Seele jedes einzelnen Menschen in allen Teilen des Körpers identisch
ist; wenn nämlich gilt, daß das Sein
überall ist, dann in dem letztgenannten Sinne.“ Die ganze Argumentation von
VI 4-5 [22-23] macht deutlich, daß das nicht nur ein Vergleich oder eine
Analogie ist.
[82]
Damit muß der individuelle Intellekt im Gegensatz zu dem vor allem auf der
Ebene der rationalen Seele beheimateten „Wir“ gemeint sein (vgl. V 3
[49],3,23-29; I 1 [53],7,16-18). Die Terminologie ist vom Alkibiades inspiriert (133d), doch markiert sie bei Plotin eine
sehr viel engere Verbindung zwischen Seele und Intellekt als sie der Alkibiades zwischen Seele und Körper
annimmt. Vgl. I 6 [1],6,16-18; IV 4 [28],2,20-22.
[83]
Damit muß die Hypostase Seele gemeint sein.
[84] Vgl.
hierzu Tornau 1998a, 390-394; Ferrari 1997, 51f., der m.W. bislang als einziger
die Bedeutung dieses Textes für die Frage der Individualideen hervorgehoben
hat. Ich kann die Interpretation von Aubry 2008a, 280 nicht teilen, die in VI 5
[23],7 einen Beleg dafür sieht, daß beim Aufstieg des Selbst zum Intellekt das
individuelle Ichbewußtsein verlorengeht.
[85] Vgl. VI 9 [9],7,33f.: „Wer sich
selbst erkannt hat, wird auch wissen, woher er stammt.“
[86] Daß
die reale Einheit des „Wir“ mit dem Intellekt ihrer Bewußtwerdung im Aufstieg
vorausliegt, zeigt auch VI 5 [23],12,18f.: „weil du ... auf das „So
viel“ verzichtet hast und stattdessen jetzt alles bist, wenngleich du
auch zuvor schon alles warst“.
[87] Vgl.
bes. V 5 [32],1,1-6; 50-68; Emilsson 1996; Chiaradonna 2008, 279-281.
[88] Zur
gegenseitigen Transparenz der intelligiblen Wesenheiten vgl. bes. V 8
[31],4,3f.: „und so sehen sie alle Wesen, nicht solche, die Werden bei sich
haben, sondern nur solche, die Sein haben, und in den anderen sehen sie sich
selbst. Es ist ja alles transparent ...“
[89] Vgl.
V 9 [5],8,1-4: „Wenn also das Denken auf etwas innen Liegendes gerichtet ist,
dann ist jenes, das innen Liegende, die Form, und das ist die Idee. Was ist das
also? Geist und das geistige Sein, wobei jede Idee nicht verschieden vom
(Gesamt-)Geist ist, sondern jede ist Geist“ (Übers. M. Vorwerk). Daß man das
wörtlich nehmen darf, zeigt eine Passage wie VI 7 [38],9,25-38, wo das
Denkobjekt (also die Form) klar als der sie denkende Teil-Geist und als Denkakt
beschrieben wird (vgl. Hadot 1988, 238f.). Gerson 1994, 55 (gefolgt von Remes
2007, 168f.) bevorzugt eine minimale Interpretation von V 9 [5],8, um die
Subjektivierung des Denkobjekts zu vermeiden (vgl. auch Gerson 1997, 168). Daß
die Formen lebendige, denkende Wesen sind, ist indessen für einen Platoniker
keineswegs absurd angesichts von Pl. Sph.
248e.
[90] I 1
[53],7,16f.: „... Denkvorgänge, Meinungen und geistige Erkenntnisse, und hier
sind wir mehr als irgendwo sonst“.
Vgl. V 3 [49],3,35f.
[91] V 3
[49],3,31. Vgl. Beierwaltes
1991, 105f.
[92] V 3
[49],3,27-29: „Deswegen nutzen wir ihn (= den Geist) und nutzen ihn nicht – das
rationale Denken dagegen nutzen wir immer –, und er gehört zu uns, wenn wir ihn
nutzen; nutzen wir ihn nicht, gehört er nicht zu uns.“ Zum Kapitel V 3 [49],3 vgl. Ham 2000, 116-122;
Beierwaltes 1991, 103-106.
[93] V 3
[49],4,10-12: „Sich selbst zu erkennen, bedeutet für ihn nicht mehr, sich als
Menschen zu erkennen, sondern so, daß er ein ganz anderer geworden ist ...“.
Ham 2000, 54 Anm. 36 merkt zu Recht an, daß „Mensch“ hier für die diskursive
Vernunft, nicht aber für das „Wir“ steht. Den Aspekt der Transformation betont
Beierwaltes 1991, 107f.
[94] Vgl.
zu diesem Text Tornau 1998a, 398-400. Verwandte Beschreibungen finden sich in
VI 5 [23],12,7-29 (dort unter Verwendung der zweiten Person Singular); V 8
[31],11,1-13.
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