Erschienen in Ausgabe: No 51 (5/2010) | Letzte Änderung: 28.04.10 |
von Heike Geilen
„Sie ist eine
Weltenerfinderin, eine Weltenschöpferin, eine Eigenweltenbewohnerin, auch -
darin liegen ihr Glück und ihre Tragik zugleich - eine Eigenweltinhaftierte.
Für jeden Anderen mögen diese Worte zu groß sein, für Else Lasker-Schüler sind
sie gerade groß genug.“ Kerstin Decker, die bereits mit Paula Modersohn-Becker und
Heinrich Heine erstklassige Künstler-Biografien vorgelegt hat, ist erneut ein
großer Wurf gelungen. Dieses Mal begibt sie sich auf die Spuren dieser immer
noch relativ unbekannten Dichterin, die Gottfried Benn einst für die größte
Lyrikerin Deutschlands hielt.
Kerstin
Decker folgt den biografischen Spuren Else Lasker-Schülers. Dabei nähert sie
sich äußerst behutsam und einfühlsam der sensiblen Künstlerin an, so dass deren
„verbaler Hochseiltanz, immer in der
Schwebe zwischen übermütigem Spiel und Ernst“ dem Leser auf eindrucksvolle
Art und Weise vermittelt wird. Entstanden ist eine Biografie, die sich durch
Tiefe und Substanz auszeichnet sowie durchEntschleunigung den kompromisslosen Lebensentwurf der
expressionistischen Lyrikerin wunderbar nachverfolgen, ja, ihn nahezu selbst
erleben lässt.
„Wir sind nur
auf dem Wege, das Leben ist nur ein Weg, hat keine Ankunft, denn es kommt
nirgendwo her.“, schrieb Else Lasker-Schüler. Ihr Weg begann am 11. Februar
1869 und endete am 22. Januar 1945 in Jerusalem. Dazwischen liegt ein
unorthodoxes Leben in Berlin und später in Israel. Prägend war ihre Kindheit im
industriell aufstrebenden Elberfeld (heute Wuppertal), wo die kleine Else in
einer mehr oder weniger starken Außenseiterrolle aufwächst, nachdem sie durch
eine Krankheit zu Hause unterrichtet wird. In dieser Isolation und durch den
frühen Tod ihres Bruders und ihrer Mutter entwickelt das Kind und später die junge
Frau ihr Lebensmodell, das ganz stark in den eigenen Emotionen verankert ist.
Die Kunst ist ihr dabei „Mittel zur
Befreiung aus dem umgitterten Sein der Alltäglichkeit.“ Doch sie „glaubt nicht an die Realität der Kunst, sie
glaubt an die Wahrheit der Illusion und handhabt das Material der Sprache, von
den Instinkten eines rein torenhaften Spieltriebs geschwellt, wie eine heilige
Sache, [eine] ebenmäßig geschliffene Kugel inneren Erlebnisses, getragen vom
Blut der Herzhingabe.“, schreibt der Schriftsteller Paul Zech (1881-1946).
Genau
diese seelischen Wahrheiten der Dichterin hat Kerstin Decker ernst genommen.
Wunderbar arbeitet sie das „Denkfühlen“ Else Lasker-Schülers heraus und nimmt
sich deren unmetaphysischen, geradezu gottlosen Sinn sehr emphatisch an. Vor
allem in ihrer extremen „Heimatfühligkeit“ sucht die Autorin den Grundimpuls
für den gesamten weiteren Lebensweg dieser weisen Frau, die jedoch nie gebildet
erscheinen will. Vielleicht „weil die
gebildeten Weisen so selten sind, die verbildeten Gebildeten aber so häufig. /
Dass die Dichter mit den Sehern, mit den Propheten verwandt sind, weiß jeder.
(...) Anders wird das Dichterleben, die Lebensdichtung dieser Frau nicht
verständlich.“
Eingewobenen
Gedichte, Briefe und Zeitzeugenberichte sind ein wertvoller und ergänzender
Teil einer durch und durch feinfühligen, wenn auch nicht immer leicht zu
lesenden, herausfordernden, aber unglaublich bereichernden Biografie auf
höchstem Niveau.
Fazit:
Kerstin
Decker ist eine großartige Biografie einer verletzbaren und sensiblen, einer
mutigen und exzentrischen Frau, Mutter, Liebenden und Dichterin gelungen. Vor
allem deren „Präzision im Bereich des
Nichtsagbaren - des für die meisten Menschen Nichtsagbaren“ arbeitet die
Autorin auf einzigartige Art und Weise, beinahe im Else Lasker-Schüler‘schem
Sinn heraus. Ein Buch in „Dicht- als Lebensform“, das die seelische Wahrheit
einer Dichterin ernst nimmt und sie in ihrer Eigenwilligkeit stehen lässt.
Kerstin
Decker
Mein Herz - Niemandem.
Das Leben der Else Lasker-Schüler
Propyläen
Verlag, Berlin (Oktober 2009)
480
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3549073550
ISBN-13:
978-3549073551
Preis:
22,90 EURO
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.