Erschienen in Ausgabe: No. 11 (1/1996) | Letzte Änderung: 24.01.09 |
von Dr. Stefan Bleecken
Nochmals: Goethe kontra Newton
Bei den Vertretern der modernen Naturwissenschaft macht sich Unmut breit, wenn
es jemand unternimmt, den Streit in der Farbenlehre zwischen Goethe und Newton
bzw. seinen Anhängern nochmals aufzurollen. Dieser Streit scheint so
eindeutig und endgültig zugunsten von Newton entschieden, daß eine
Neuauflage davon als Zumutung und Zeitverschwendung erscheint. Ein Beispiel von
vielen: Der prominente Naturwissenschaftler Emil Du Bois-Reymond bezeichnete in
seiner 1882 gehaltenen Antrittsrede als Rektor der Berliner Universität,
die den aufschlußreichen Titel "Goethe und kein Ende" hatte, Goethes
Farbenlehre als "totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten" und
schloß die Rede mit der Aufforderung, man solle den Naturforscher Goethe
"endlich in Ruhe lassen" [1]. Was aber, wenn es gewichtige Gründe für
die Annahme gibt, daß Goethe mit seiner Farbenlehre und seinem
Verständnis von Naturwissenschaft im Recht war, Newton und seine
Anhänger hier jedoch einem fundamentalen Irrtum erlegen sind? Vom
Standpunkt eines selbstkritischen Naturwissenschaftlers aus wird im folgenden -
ausgehend von Äußerungen des Naturwissenschaftlers und zum Teil auch
des Dichters Goethe - der Frage nachgegangen, was Goethe unter
Naturwissenschaft verstanden hat und was er darunter nicht verstanden hat.
Die moderne Naturwissenschaft gilt in der modernen Gesellschaft als Tempel der
Wahrheit; als Kriterium für diese Wahrheit wird der Erfolg angesehen, den
diese Wissenschaft bei der Beherrschung der Natur errungen hat. Nach dem
Eigenverständnis der modernen Naturwissenschaft ist das geistige
Fundament, auf dem sie beruht und das von ihr geschaffene Begriffssystem
festgefügt, und die von ihr benutzte analytische Methode zur
Erkenntnisgewinnung hat sich bewährt. Das von dieser Wissenschaft
propagierte materialistische Weltbild hat konkurrierende Weltbilder weitgehend
verdrängt und ist von der Gesellschaft in großem Ausmaß
akzeptiert und verinnerlicht worden; die Logik dieses Weltbilds lenkt heute
nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Wirtschaft, das Bildungswesen, die
Politik und zunehmend auch die ganze Kultur. - Auf der anderen Seite ist in den
letzten Jahrzehnten eine zunehmende Beunruhigung in der Gesellschaft
festzustellen über die Naturzerstörung, die mit der durch die
Wissenschaft ermöglichten Naturbeherrschung einhergeht und es werden
zunehmend Zweifel laut, ob das Erkenntnisideal der modernen Naturwissenschaft
überhaupt richtig ist. Der Philosoph Georg Picht hat diese Zweifel auf den
Punkt gebracht: "Eine Wissenschaft, die Natur zerstört, kann keine wahre
Erkenntnis der Natur sein" [2].
Massive Zweifel an dem von der modernen Naturwissenschaft eingeschlagenen Weg
traten aber nicht erst in unserer Zeit auf, nachdem die Zerstörung der
Natur und damit der Lebensgrundlagen des Menschen unübersehbar geworden
ist. Bevor der Mensch die Natur de facto zerstören konnte,
mußte er sie erst einmal in seinem Denken zerstören [3]. Der erste,
der diese verhängnisvolle Fehlentwicklung des menschlichen Denkens
wahrgenommen und als ihren Verursacher die herrschende Naturwissenschaft, die
sich heute "modern", "exakt" und "objektiv" nennt, erkannt hat, war Goethe.
Goethe hat die geistigen Grundlagen dieser Naturwissenschaft, deren Aufkommen
er ja miterlebte, grundsätzlich in Zweifel gezogen: ihre einseitige
analytische Methode, ihr einseitiges materialistisches Weltbild, vor allem aber
ihre falschen, nicht der Wirklichkeit entsprechenden Begriffe.
Die dramatischste und für Goethe folgenschwerste Auseinandersetzung mit
der modernen Naturwissenschaft fand auf dem Gebiet der Farbenlehre statt und
Goethes Angriffe waren gegen Isaak Newton, einen der Gründungsväter
dieser Wissenschaft, bzw. die Partei der Newtonianer gerichtet, der sich bis
heute praktisch alle Physiker und die Mehrzahl der Naturwissenschaftler
zurechnen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand Newtons `Optik' aus dem
Jahre 1704, insbesondere die Interpretation eines von Newton
durchgeführten Experiments, bei dem Sonnenlicht durch einen Spalt und ein
Prisma geschickt und auf einem Schirm aufgefangen wurde. Nach heutigem
Erkenntnisstand wird bei diesem Experiment eine polychromatische
elektromagnetische Schwingung, die von der Sonne ausgehend auf die Erde trifft
und beim Menschen die Empfindung "weiß" auslöst, transformiert in
ein Spektrum monochromatischer Schwingungen, die beim Menschen die Empfindungen
von gesättigten Farben von violett über blau, grün, gelb bis rot
hervorrufen. Diese Umwandlung läßt sich mit den Mitteln der
Mathematik beschreiben und wird als "Fourier-Transformation" bezeichnet. Newton
interpretierte das experimentelle Ergebnis so, daß sich Weiß aus
den Spektralfarben von Violett bis Rot zusammensetzen müsse.
Bis zum Erscheinen der Newtonschen Optik wurde der Begriff "Farbe" ausnahmslos
für eine Farbempfindung verwendet oder ließ sich auf eine solche
Empfindung zurückführen (wie bei Farbstoffen). Newton und alle ihm
folgenden Physiker verwendeten den Begriff "Farbe" dagegen für etwas im
Wesen völlig anderes, nämlich für die Eigenschaft einer
physikalischen Entität, mit den Worten der heutigen Wissenschaft: für
die Wellenlänge einer elektromagnetischen Schwingung. So bezeichnen die
Physiker beispielsweise die im Emissionsspektrum von Natrium auftretende
elektromagnetische Schwingung mit einer Wellenlänge von 589 Nanometer als
"gelbe" Natriumlinie, eine solche mit der Wellenlänge von 546 Nanometer
als "grüne" Quecksilberlinie usw.
Goethe machte die von Newton und seinen Anhängern verursachte Vermengung
zweier Wirklichkeitsbereiche, des materiellen, durch die Physik beschriebenen
Bereichs der elektromagnetischen Schwingungen und des durch die Farbenlehre
beschriebenen Empfindungsbereichs, nicht mit und versuchte unablässig,
gegen die dadurch verursachte Begriffsverwirrung vorzugehen. In einem Distichon
spottet er [4]: "Weiß hat Newton gemacht aus allen Farben. Gar manches
hat er euch weis gemacht, das ihr ein Säkulum glaubt". Auf die angebliche
Zerlegung des weißen Lichts in alle Farben hat Goethe spontan mit einem
Farbenkreis geantwortet, den er mit Wasserfarben malte und bei dem er die Enden
des Newtonschen Spektrums, rot und violett, ineinander übergehen
ließ (Mischfarbe purpur), wie es der natürlichen Empfindung des
Menschen entspricht. Um zu demonstrieren, daß Farbe eine Empfindung und
keine physikalische Erscheinung ist, ordnete Goethe den Farben in seinem Kreis
die Eigenschaften schön, edel, gut, nützlich, gemein und unnötig
zu.
Im Gegensatz dazu beharren die Anhänger Newtons bis heute darauf,
daß Farben mit physikalischen Begriffen wie Wellenlänge oder
Wellenzahl zu beschreiben und einer mathematischen Behandlung zugänglich
sind; sie sehen somit auch keinen Hinderungsgrund, die Segmente des
Farbenkreises mit Wellenlängenangaben zu indizieren. Sie sind allerdings
bis heute den mathematischen Nachweis schuldig geblieben, warum die
elektromagnetische Schwingung mit der Wellenlänge 380 Nanometer
(Farbempfindung violett) und die mit der Wellenlänge 750 Nanometer
(Farbempfindung rot), die im Prismenversuch am weitesten voneinander getrennt
werden, im Farbenkreis benachbart sind.
Für einen Naturwissenschaftler sollte es einsehbar sein, daß
Wellenlängen und Farben zwei völlig verschiedenen
Wirklichkeitsbereichen angehören und es unzulässig ist, Begriffe und
Prinzipien, die für den einen Bereich Gültigkeit besitzen, auf den
anderen Bereich übertragen zu wollen. Die zum materiellen
Wirklichkeitsbereich gehörenden elektromagnetischen Schwingungen gibt es,
seit die Welt besteht. Farben gibt es als Empfindung aber erst, seit die
Evolution Tiere mit Augen und Gehirnen hervorgebracht hat und der Begriff
"Farbe" schließlich ist erst mit dem Menschen in die Welt gekommen.
Goethe hat sich immer strikt dagegen verwahrt, daß Farbempfindungen "vom
Menschen abgesondert" werden. Die Unsinnigkeit der Newtonschen Behauptung,
daß Weiß aus allen Farben zusammengesetzt ist, wird vielleicht
deutlicher, wenn man sich anstelle des Physikers und Farbenlehrers Newton einen
Chemiker und Geschmackslehrer Newton vorstellt, der behauptet, daß der
Geschmack von Kochsalz sich aus Natrium- und Chlorgeschmack zusammensetzen
müsse, da ja Kochsalz eine chemische Verbindung von Natrium und Chlor
sei.
Im polemischen Teil seiner Farbenlehre hat Goethe die Lehre Newtons auf dem
Farbengebiet, die er eine "Irrlehre" nannte, leidenschaftlich angegriffen. Man
kann dort lesen, daß Newtons `Optik' "baren Unsinn" enthalte [5],
daß Newtons "Sinn ganz vom Vorurteil umnebelt sein" müsse [6]; die
Zerlegung des Sonnenlichts in Farben wird als "Gespenst" bezeichnet [7], von
"Hokuspokus" ist die Rede [8]. Die Auseinandersetzung mit Newton ist für
Goethe ein Glaubenskampf; die herrschende Naturwissenschaft bezeichnet er als
"herrschende Kirche" [9], und Newton als "Inquisitor" [10]. Goethe hoffte, es
werde "eine Zeit kommen, wo man ... alle jene Spiegelfechtereien ans Tageslicht
bringt, welche den Verstand hintergehen" und wo die "Phänomene ... ein
für allemal aus der düstern empirisch-mechanisch-dogmatischen
Marterkammer vor die Jury des gemeinen Menschenverstandes gebracht werden"
[11].
Seinem Vertrauten Eckermann gestand Goethe, er habe in die Farbenlehre "die
Mühe eines halben Lebens hineingesteckt" [12], er sei in seinem
Jahrhundert "in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige, der
das Rechte weiß" und er habe daher "ein Bewußtsein der
Superiorität über viele" [13]; mit seinem in der Farbenlehre
enthaltenen Weltbild wollte er "Epoche in der Welt machen" [14]. Man hat Goethe
oft verspottet, daß er den Kampf in der Farbenlehre mit einer Heftigkeit
geführt hat, als ginge es ihm um die Zukunft des Menschen. Diese
Heftigkeit ist in der Tat schwer zu verstehen, wenn man außer acht
läßt, daß Goethe mit seiner Kritik an der Newtonschen
"Irrlehre" viel weiter zielte. Mit der Farbenlehre wollte er eine Bresche in
die "Festung" der herrschenden Naturwissenschaft schlagen [15]. Goethe,
bekanntermaßen kein Freund von Revolutionen, wollte in der
Naturwissenschaft eine geistige Revolution hervorrufen: "So übt schon seit
zwanzig Jahren die physiko-mathematische Gilde gegen meine Farbenlehre ihr
Verbotsrecht aus; sie verschreien solche in Kollegien und wo nicht sonst ...
Der Besitz in dem sie sich stark fühlen wird durch meine Farbenlehre
bedroht, welche in diesem Sinne revolutionär genannt werden kann, wogegen
jene Aristokratie sich zu wehren alle Ursache hat" [16]. Die in Goethes
naturwissenschaftlichen Schriften und zum Teil auch in seiner Dichtung
enthaltene Kritik an der herrschenden Naturwissenschaft betrifft nicht nur
deren falsches Verständnis von der Farbe, sie betrifft die geistigen
Grundlagen dieser Wissenschaft insgesamt.
Goethe kann mit Fug und Recht als Vordenker einer zweiten wissenschaftlichen Revolution angesehen werden. Um besser zu verstehen, um was es hier geht, müssen einige Worte zu derjenigen "wissenschaftlichen Revolution" gesagt werden, die zur Entstehung der modernen Naturwissenschaft geführt hat und die mit den Namen Descartes (1596 - 1650), Galilei (1564 - 1642) und Newton (1643 - 1727) verbunden ist. Der Beitrag von Descartes an dieser Entwicklung bestand in der analytischen oder zergliedernden Denkmethode, wonach Gedanken und Probleme, die sich als Ganzes einer Bearbeitung entziehen, in Teile zerlegt und diese in ihrer logischen Ordnung aufgereiht werden können. Galilei führte das Experiment in die Wissenschaft ein und lenkte die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf die quantifizierbaren Eigenschaften der Materie. Sein Credo: "Zu messen, was man messen könne, und meßbar zu machen, was man noch nicht messen könne", ist zu einem methodischen Grundaxiom der modernen Naturwissenschaft geworden. Newton schließlich vervollständigte die erste und entscheidende Phase der wissenschaftlichen Revolution, indem es ihm gelang, die damals bekannten physikalischen Fakten mit Hilfe weniger mathematischer Formeln zu beschreiben. Aus diesen nach ihm benannten Gesetzen der Mechanik ließen sich alle damals bekannten Phänomene der terrestrischen und Himmelsmechanik ableiten. - Das dreiteilige Credo der modernen Naturwissenschaft, wonach nur das existiere, was sich analysieren, messen und mathematisch beschreiben läßt, hat Goethe in allen seinen Teilen in Frage gestellt.
[Nächster Artikel]
Goethe hat sich immer wieder gegen die einseitige Verwendung der analytischen
Methode in der herrschenden Naturwissenschaft gewandt. Seiner Veranlagung
entsprach es, die Naturforschung in erster Linie synthetisch zu betreiben und
von der Analyse zu fordern, daß sie das Ganze nicht aus dem Blick
verliert. In der Schrift "Analyse und Synthese" aus dem Jahre 1829 heißt
es: "Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt und sich vor
der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur
beide zusammen, wie Ein- und Ausatmen, machen das Leben der Wissenschaft. ...
Die Hauptsache, woran man bei ausschließlicher Anwendung der Analyse
nicht zu denken scheint, ist, daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt"
[17].
Goethe hat der herrschenden Naturwissenschaft immer wieder vorgeworfen,
daß sie mit ihrer einseitigen analytisch-zergliedernden Methode die
"höhere Natur" (Lebewesen) zerstört. In seiner "Morphologie"
heißt es: "Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer
fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in
Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und
beleben." [18]. Und in der Schülerszene/Faust I schlüpft der Dichter
Goethe in die Gestalt Mephistos und spottet:
"Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band"
Goethe spielt hier auf die alte Erkenntnis an, daß das Ganze mehr als die
Summe seiner Teile sein kann. Für Goethe gelten bei Lebewesen für das
lebende Ganze noch andere Prinzipien, nicht nur diejenigen, die für die
Teile Gültigkeit besitzen. Goethe bezeichnet diese übergeordneten
Prinzipien in seinem Spottgedicht als "Geistiges Band". Prinzipien für das
Ganze werden bei einer einseitigen Analyse ignoriert, oder, wenn die
analytische Methode nicht nur im Denken, sondern de facto angewandt
wird, wird das (lebende, fühlende oder denkende) Ganze zerstört.
Die ausschließliche Anwendung der analytischen Methode ist für
Goethe geistiger Kretinismus: "Da wir vorher mit dem Ganzen als Riesen standen,
sehen wir uns als Zwerge gegen die Teile" [19].
Auf Galilei geht der Glaube an die Meßbarkeit, auf Newton der Glaube an die Mathematisierung aller natürlichen Phänomene zurück. Diesen Irrglauben geißelt Goethe in unnachahmlicher Weise, indem er im 1. Akt/Faust II Mephisto spotten läßt:
"Daran erkenn ich den gelehrten Herrn!
Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern,
Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar,
Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr,
Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht,
Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht!"
Goethe ist von Seiten der modernen Naturwissenschaft immer wieder vorgeworfen worden, seine Skepsis gegenüber der Mathematik beruhe auf seinem eigenen Unvermögen auf diesem Gebiet; dabei ist immer der wirkliche Grund für diese Skepsis verschwiegen worden: der Irrglauben der herrschenden Naturwissenschaft, wonach nur das existiere, was sich mathematisch erfassen läßt. Goethe sagt dazu: "Ich ehre die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist; allein ich kann nicht loben, daß man sie bei Dingen mißbraucht, die gar nicht in ihrem Bereich liegen und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und als ob alles nur dann existiere, wenn es sich mathematisch beweisen läßt. Es wäre doch töricht, wenn jemand nicht an die Liebe seines Mädchens glauben wollte, weil sie ihm solche nicht mathematisch beweisen kann! Ihre Mitgift kann sie ihm mathematisch beweisen, aber nicht ihre Liebe" [20].
Aber auch das mechanisch-materialistische Weltbild der herrschenden
Naturwissenschaft hat Goethe abgelehnt. Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür
findet sich in der "Kampagne in Frankreich", hier schreibt er: "Mit meinen
Naturbetrachtungen wollte es mir kaum besser glücken; die ernstliche
Leidenschaft, womit ich diesem Geschäft nachhing konnte niemand begreifen,
niemand sah, wie sie aus meinem Innersten entsprang; sie hielten dieses
löbliche Bestreben für einen grillenhaften Irrtum ... Man kann sich
keinen isolierteren Menschen denken, als ich damals war und lange Zeit blieb.
Der Hylozoismus, oder wie man es nennen will, dem ich anhing ... machte mich
unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf
welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis
aufstellte. .... Schon ... in Weimar hatte ich dergleichen vorgebracht, ward
aber als wie mit gotteslästerlichen Reden beiseite und zur Ruhe gewiesen"
[21].
Mit dem Materialismus war Goethe bereits in seinen Straßburger
Studienjahren zusammengestoßen. In "Dichtung und Wahrheit"
charakterisiert er das Hauptwerk "Système de la nature" des
französischen Materialisten Holbach folgendermaßen: "Es kam uns so
grau ... so totenhaft vor, ... daß wir davor wie vor einem Gespenst
schauderten" [22]. Die Bezeichnung "Gespenst" für eine rein
materialistische Sicht der vielschichtigen Welt hat Goethe öfter
verwendet, insbesondere im polemischen Teil der Farbenlehre.
Nicht nur die mechanisch-materialistische Weltsicht der herrschenden
Naturwissenschaft war Goethe im Innersten zuwider, ihn plagten auch Ängste
vor der von der Naturwissenschaft geschaffenen und von keiner moralischen
Instanz kontrollierten Technik. In den Wanderjahren heißt es: "Das
überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es
wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine
Richtung genommen, es wird kommen und treffen" [23].
Goethe hat nicht nur radikale Kritik an der herrschenden Naturwissenschaft
geübt und ist deren Irrtümern auf den Grund gegangen, er hat auch
dieser Wissenschaft "eine neue Wissenschaft" von der Natur entgegengesetzt, die
er "Morphologie" nannte. Er verstand darunter die "Lehre von der Gestalt, der
Bildung und Umbildung der organischen Körper", die sich "nicht dem
Gegenstande nach, sondern der Ansicht (Weltbild) und der Methode nach" von der
herrschenden Naturwissenschaft unterscheidet" [24]. "Morphologie ruht auf der
Überzeugung, daß alles, was sei, sich auch andeuten und zeigen
müsse. ... Das Unorganische, das Vegetative, das Animale, das Menschliche
deutet sich alles selbst an, es erscheint als das, was es ist, unserm
äußern, unserm inneren Sinn" [25]. Nach Goethe schafft sich der
Mensch sein Weltbild, indem er seinem äußeren, seinem inneren Sinn,
d. h. seinem eigenen Weltbildapparat vertraut, und der zeigt ihm, daß in
der Natur neben dem Materiellen das Vegetative, das Animale und das Menschliche
existiert. Eine Naturwissenschaft, die diesen Namen verdient, muß im
Sinne Goethes nicht nur den Prinzipien für das Materielle, sondern auch
den Prinzipien für das Vegetative, das Animale und das Menschliche
nachgehen. Aber gerade diese übermateriellen Prinzipien ignoriert die
herrschende Naturwissenschaft und sie sieht sich darin gerechtfertigt, da sie
mit der von ihr verwendeten analytischen Untersuchungsmethode immer nur auf
materielle Phänomene trifft.
Goethe gibt auch Auskunft, wie er das Verhältnis zwischen seiner neuen
Wissenschaft "Morphologie" und der vorhandenen, materialistisch orientierten
Naturwissenschaft sieht. Er schreibt, "daß sich die Morphologie als eine
besondere Wissenschaft legitimiert" und "daß sie mit keiner Lehre im
Widerstreite steht, daß sie nichts wegzuräumen braucht, um sich
Platz zu schaffen" [26]. Wenn man seine Ausführungen zur Morphologie im
Gesamtzusammenhang sieht, so können sie nur so verstanden werden,
daß er die herrschende (materialistisch orientierte) Naturwissenschaft
nicht "wegräumen" will, er bestreitet aber deren Anspruch, eine
vollkommene Naturwissenschaft zu sein, er kritisiert ihre einseitige
analytische Methode und stellt ihr materialistisches Weltbild in Frage. Goethe
sieht in der herrschenden Naturwissenschaft nur eine Teilnaturwissenschaft, die
erst zusammen mit der von ihm skizzierten Morphologie zu einer neuen,
ganzheitlichen Naturwissenschaft vervollständigt wird.
Um an ihrem geistigen Überbau festhalten zu können, muß die
moderne Naturwissenschaft den gesunden Menschenverstand außer Kraft
setzen und durch Apparate und Computer ersetzen. Vor dieser
verhängnisvollen Entwicklung hat Goethe bereits gewarnt, als diese noch
ganz am Anfang stand. "Der Mensch an sich selbst ... ist der größte
und genaueste physikalische Apparat [27], den es geben kann. Und das ist eben
das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente
gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was
künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen ... will" [28]. Wenn der
Mensch nicht mehr seinen eigenen Sinnen und seinem Verstand, sondern nur noch
den von ihm geschaffenen Apparaten vertraut, erkennt er die Welt nicht mehr, er
verkennt sie.
Die materialistische Naturwissenschaft versteht es als ihre höchste
Aufgabe, die Gesetze der Materie zu erforschen und mit dieser Erkenntnis die
Natur zu beherrschen. Im Gegensatz zu dieser Wissenschaft, die den Menschen
mit seiner existentiellen Problematik außer Betracht läßt,
gehört für den Naturwissenschaftler Goethe "der Mensch ... mit zur
Natur" [29] und die höchste Aufgabe der neuen Wissenschaft von der Natur
besteht darin, Auskunft über den Menschen zu erhalten, um den Menschen
lehren zu können, wie er sich selbst erkennen und auf dieser Grundlage
sich selbst beherrschen kann. Die Blockierung dieser Aufgabe durch die
materialistische Naturwissenschaft ist für Goethe deren größtes
Vergehen gegen den Menschen. Zornig hält er der herrschenden
Naturwissenschaft entgegen: "Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die
Herrschaft über uns selbst zu geben, ist verderblich" [30].
Immer wieder und bis zu seinem Tode warnte Goethe vor den Folgen einer von der
herrschenden Naturwissenschaft ausgehenden Begriffsverwirrung. Er gab der
Nachwelt auf, sich zu erinnern, "wie gegen das Ende des achtzehnten
Jahrhunderts in den Naturwissenschaften auf eine Weise verfahren worden, deren
sich das dunkelste Mönchtum und eine sich selbst verirrende Scholastik
nicht zu schämen hätte" [32]. Fünf Tage vor seinem Tod schreibt
er an Wilhelm von Humboldt voller Resignation: "Verwirrende Lehre zu verwirrtem
Handel waltet über die Welt" [33].
Goethe war voll bewußt, daß die herrschende Naturwissenschaft einem
fundamentalen Irrtum unterliegt, wenn sie einen Teil der Natur, nämlich
die Materie, für das Ganze der Natur setzt. Die Materie ist zwar Grundlage
für alle natürlichen Dinge, d.h. es gibt kein Ding in der Natur, das
ohne stoffliche Grundlage ist, sie ist aber nicht notwendigerweise mit den
natürlichen Dingen identisch, so bei Lebewesen. Kein Mensch mit gesundem
Menschenverstand würde beispielsweise das Fundament als Teil eines Hauses
mit dem ganzen Haus identifizieren. Genau dies, nämlich die Gleichsetzung
eines Teils (der Materie), mit dem Ganzen (der Natur), erfolgt in der modernen
Naturwissenschaft, und zwar bis heute ohne den geringsten Nachweis, daß
sie zu dieser Gleichsetzung berechtigt ist. Aus dem Blickwinkel der Goetheschen
ganzheitlichen Naturwissenschaft ist die von der modernen Naturwissenschaft
ausgehende Begriffsverwirrung von wahrhaft babylonischem Ausmaß und es
stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieser Begriffsverwirrung.
Die Terminologie der modernen Naturwissenschaft steht in einer Tradition, die
bereits bei Newton angelegt war. Er nannte sein epochemachendes Werk, in dem er
1687 die nach ihm benannten Gesetze der Mechanik veröffentlichte,
"Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" (Mathematische Prinzipien der
Naturlehre). In diesem Titel ist der Anspruch enthalten, daß die von ihm
entdeckten Prinzipien für die gesamte Natur Gültigkeit besitzen und
daß diese sich nicht nur auf die materiellen Körper beziehen, von
denen im Werk selbst ausschließlich die Rede ist. Folgerichtig bezeichnen
die Vertreter der modernen Naturwissenschaft bis heute die von Newton und
seinen Nachfolgern entdeckten Gesetze der Materie (von den Gesetzen der
Mechanik bis zu den Gesetzen der Relativitäts- und Quantentheorie) als
Naturgesetze, die darin enthaltenen Konstanten als
Naturkonstanten und ihre Wissenschaft selbst als
Naturwissenschaft. In Wirklichkeit ist die von Newton begründete
Wissenschaft eine Materiewissenschaft, die von ihr aufgefundenen Gesetze sind
Materiegesetze und die darin enthaltenen Konstanten sind Materiekonstanten.
Die von Newton und seinen Nachfolgern eingeführten Bezeichnungen
"Naturwissenschaft", "Naturgesetz" und "Naturkonstante" beruhen auf einem in
seinen Folgen katastrophalen Denkfehler, da sie suggerieren, daß sich
diese Wissenschaft mit der Natur als Ganzem beschäftigt, daß die von
ihr gefundenen Gesetze für die Natur als Ganzes Gültigkeit besitzen.
In Wirklichkeit gelten diese Gesetze nur für einen Teil der Natur,
nämlich für die Materie. Die moderne Naturwissenschaft anerkennt nur
die Existenz von Prinzipien für das Materielle, nicht jedoch von
Prinzipien, die über diesen stehen. Da sie Materie mit Natur gleichsetzt,
werden übermaterielle Prinzipien zu übernatürlichen Prinzipien
erklärt und übernatürliche Prinzipien haben in einer
Naturwissenschaft selbstverständlich nichts zu suchen. Die moderne
Naturwissenschaft betreibt mit dieser Argumentation ein falsches Spiel und kein
anderer hat dieses falsche Spiel klarer erkannt und leidenschaftlicher
angeprangert als Goethe. In seiner Polemik zur Farbenlehre, die ja auch eine
Polemik gegen die herrschende Naturwissenschaft ist, greift er immer wieder
Newton als Verursacher einer geistigen Fehlentwicklung an. Um "das Unwahre"
seiner Lehre durchzusetzen, "muß er Sinne, sinnlichen Eindruck,
Menschenverstand, Sprachgebrauch und alles verleugnen, wodurch sich jemand als
Mensch, als Beobachter, als Denker betätigt" [34]. Von "Selbstbetrug" ist
die Rede, der "ganz nahe an die Unredlichkeit grenzt" [35] und von einer "Welt,
die hundert Jahre seine Lehre nachbetet", ohne daß sie "den
Taschenspielerstreich gewahr wird" [36].
Die moderne Naturwissenschaft muß tabula rasa machen und einen
vollkommenen Neuanfang suchen. Als erstes muß sie schonungslos
Rechenschaft über ihre Irrtümer und falschen Begriffe ablegen und mit
der Selbsttäuschung aufräumen, sie bringe Erkenntnisse über die
Natur hervor, da sie ja mit diesen Erkenntnissen die Natur zu beherrschen
vermag. Diese "Beherrschung" der Natur wird durch Erkenntnisse über die
Materie ermöglicht, die zwar Grundlage aller natürlichen Dinge ist,
aber eben mit diesen Dingen nicht identisch ist. Die moderne Naturwissenschaft
gleicht in ihrem Verhalten einem Toren, der mit Hilfe seiner Erkenntnisse
über das Fundament eines Hauses an diesem Fundament herummanipuliert und,
da er keine Erkenntnisse über die Konstruktion der oberirdischen Teile des
Hauses besitzt, das Haus schließlich zum Einsturz bringt.
Vor allem ist es endlich an der Zeit, mit zweihundertjähriger
Verspätung Goethe als Initiator einer zweiten wissenschaftlichen
Revolution und als Gründungsvater einer ganzheitlichen Naturwissenschaft
zu würdigen, einer Naturwissenschaft nämlich, die diesen Namen
verdient. Goethe würde damit auch seine Ehre als Naturwissenschaftler
wiedergewinnen. In seiner Xenie "Hoffnung" klagt er die herrschende
Naturwissenschaft der Ehrabschneidung an und sieht zugleich ihre
Götterdämmerung voraus:
"Allen habt ihr die Ehre genommen, die gegen euch zeugten;
Aber dem Märtyrer kehrt späte sie doppelt zurück" [37].
Anmerkungen
[1] Du Bois-Reymond, E.: Goethe und kein Ende. Rede. Leipzig 1883. - [2] Picht,
G.: Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima. Stuttgart
1980/81. - [3] vgl. Capra, F.: Das Neue Denken. Bern, München, Wien 1988,
S. 145. - [4] Venezianische Epigramme. Weimarer Ausgabe der Werke Goethes (WA),
Weimar 1887 - 1919, Abt. I, Bd. 1, S. 325. - [5] WA II 2, 285 (658). - [6] WA
II 2, 202 (432). - [7] WA II 2, 68 (113). - [8] WA II 2, 27 (45). - [9] WA VI
48, 105 und WA VI 49, 229. - [10] WA II 2, 69 (114). - [11] Die Schriften zur
Naturwissenschaft. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher
Leopoldina (LA), Abt. I, Bd. 8, S. 361. - [12] Eckermann: Gespräche mit
Goethe (EG); Aufbau-Verlag, Berlin, Weimar 1982, S. 205, (1. 2. 1827). - [13]
EG, S. 283, (19. 2. 1829). - [14] EG, S. 100, (2. 5. 1824). - [15] WA II 1,
XIV. - [16] WA II 11, 101. - [17] WA II 11, 70/71. - [18] WA II 6, 8. - [19]
Goethes Werke in zwölf Bänden, Berlin, Weimar 1974, Bd. 7, S. 570. -
[20] EG, S. 164/5, (20. 12. 1826). - [21] WA I 33, 195/6. - [22] WA I 28, 68. -
[23] WA I 25a, 249. - [24] WA II 6, 293. - [25] WA II 6, 446. - [26] WA II 6,
298. - [27] Für Goethe ist "Physik" die Wissenschaft von der Natur
(griech. physis), während die "neue Physik" sich als Wissenschaft von der
Materie versteht. - [28] WA IV 20, 90. - [29] WA IV 48, 169. - [30] WA I 42b,
174. - [31] 1. Buch Mose XI, 9. - [32] WA II 4, 373. - [33] WA IV 49, 283. -
[34] WA II 2, 173 (322). - [35] WA II 2, 27 (45). - [36] WA II 2, 68 (113). -
[37] WA I 5a, 229.
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