Erschienen in Ausgabe: No. 11 (1/1996) | Letzte Änderung: 24.01.09 |
Prolegomena zu einer ästhetischen Theorie für die Künste des 20. Jahrhunderts, 1. Teil
von Bernd Villhauer
Hierbei handelt es sich um das Manuskript einer Rede. Das merkt man dem Text
inhaltlich wie formal an vielen Stellen auch an. Ich habe mich entschieden, den
Redecharakter beizubehalten und keine Veränderungen vorzunehmen weil ich
das Konzept der TABULA RASA so verstehe, daß auch im philosophischen
Diskurs der Teilnehmer als Person mit allen persönlichen Spezifika
deutlich werden soll. Auch philosophisches Sprechen ist ein persönliches
(wenngleich es zum Überpersönlichen und Verbindlichen sich immer
aufschwingen können sollte) und hat daher seine persönliche
Perspektive, seinen Ort.
Den Ort dieses Textes näher und deutlicher zu bestimmen, hätte ich
gerne noch Abbildungen der Originalarbeiten über die ich im folgenden
spreche, beigegeben. Das war aus technischen Gründen leider nicht
möglich. Um dennoch in einem Text über die Ästhetik der Comics
die sinnfällige Illustration nicht ganz zu vergessen, habe ich ein Bild
von Tintin aus `Le Lotus bleu' von 1935 hinzugefügt (Abb. 1) und eines von
Spirou - allerdings in seiner bekannteren Gestalt, gezeichnet von André
Franquin - (Abb. 2). Am Ende des Textes findet sich noch eine Reproduktion von
Joost Swartes Titelbild zum Ausstellungskatalog `De klare Lijn', einem
wichtigen Dokument der Comicgeschichte, das auch mehrere Künstler (de
Morr, Jacobs, Martin und Swarte selbst) zeigt, die für die von mir
beschriebene Tradition von Bedeutung sind.
Zu Beginn ist vielleicht auf die Frage einzugehen, ob man die Comics so einfach
in den Kanon der Künste aufnehmen kann. Bei der Entwicklung, die die
Kunsttheorie genommen hat, scheint es leicht zu sein, praktisch jede
menschliche Lebensäußerung unter dem künstlerischen Aspekt zu
besprechen. Aber auch ohne diese allgemeine Einschätzung, die manchmal den
Charakter einer Rückzugsposition anzunehmen scheint, lassen sich
vielfältige Anknüpfungspunkte finden. So ist natürlich der Comic
immer auflösbar in einzelne Zeichnungen, denen niemand den Status von
künstlerischen Erzeugnissen absprechen wird. Außerdem hat sich um
das Medium Comics eine wissenschaftlich-kritische Szene gebildet, die mit ihren
Kongressen und Veröffentlichungen der offiziellen Kunstszene kaum mehr
nachsteht. Schließlich sind die personellen Wechselbeziehungen zwischen
den Comics und anderen Darstellungsformen, die ohne weiteres als Kunst
anerkannt werden, intensiv; viele Künstler, die auch in der Welt der
Akademien und Galerien einen Namen haben, legten schon Versuche in diesem
Medium vor.
Und selbst wenn das alles keine Kriterien der Akzeptanz wären, müssen
doch die Sehgewohnheiten und das `visuelle Milieu' des jetzt real existierenden
Menschen (der im Normalfall eben auch mit Comic-Zeichungen aufgewachsen ist)
unbedingt im Vorfeld dessen geklärt werden, was wir gerne unter dem
Projektnamen `Ästhetische Theorie' zusammenfassen.
Die philosophische Ästhetik scheint sich in der angenehmen Lage zu
befinden, ihre Thesen stets anschaulich demonstrieren zu können. Nach dem
Wortsinn ihrer griechischen Ursprungsbezeichnung `aistetike episteme' ist sie
die `die Sinne betreffende Wissenschaft'. Die Sinne stehen im Mittelpunkt des
Interesses; vorgeführte Kunstwerke oder andere Phänomene
korrespondieren mit unmittelbaren Eindrücken, die eine stillschweigende
Unterschiebung von theoretischen Annahmen über menschliche Sinnlichkeit
gefährlich erleichtern.
Jedenfalls ist auch der äußere Anlaß unseres heutigen
Zusammentreffens am 8. Februar 1996 in Burgau bei Jena mit Gegenständen
verbunden, die sich der einfachen und unvermittelten Betrachtung nicht
verschließen, solange man nicht interpretatorische oder ganz reale
Schleier vor sie hängt. Einige solcher Schleier sollen hier und heute aber
beseitigt werden. Daher erlaube ich mir jetzt, ganz gegenständlich die
feierliche Einweihung der zwei Werke, um die es gehen soll, vorzunehmen. Das
Formelle soll auch in diesem Fall helfen, dem sonst nur beiläufig
wahrgenommenen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Solche Aufmerksamkeit billigen
wir oft nur Gegenständen zu, die uns in einem öffentlichen
zeremoniellen Rahmen präsentiert werden. Es ist schon fast eine
Binsenweisheit, daß gerade das Feierliche und Zeremonielle uns manchmal
die Dinge wieder in der Distanzierung näher zu bringen vermag, die durch
scheinbar unmittelbare Nähe nicht mehr deutlich wahrzunehmen waren - wir
halten sie ein wenig vom Körper und sehen besser. Das macht auch im
Nachhinein die Frage nach dem Kunstcharakter weniger dringlich. Die Kunst hat
eine Reihe von Ritualen, Zeremonien, auch von sakralen Räumen geschaffen,
die helfen, alles, aber auch wirklich alles, von einer neuen Seite und
möglicherweise intensiver in seiner Besonderheit zu sehen. Also selbst
wenn wir es nicht mit Kunst zu tun haben, hilft es manchmal, so zu tun, als
handle es sich um Kunst, da dadurch plötzlich eine Achtung, ein Respekt
und eine distanzierende Annäherung eben möglich werden, die es vorher
so nicht geben konnte.
Nun können wir sehen - aber was sehen wir und um was handelt es sich hier
genau ? Grundlage der gezeigten Drucke sind jeweils Arbeiten des
französischen Zeichners Yves Chaland (1957-1990), der, obwohl ihm
leider nur eine kurze produktive Lebens- und Arbeitszeit vergönnt war, zu
den herausragenden Vertretern der modernen Comic-Kunst gehört.
Was sehen wir auf den Chaland-Bildern ? Dargestellt sind zwei Szenen,
die sich jeweils in geschlossenen, hohen Räumen abspielen. Eine Person
steht im Mittelpunkt des Geschehens : Ein junger Mann in altmodischer roter
Pagenuniform, zusammen mit einem Eichhörnchen, das sein Haustier zu sein
scheint. Eine Darstellung zeigt Spirou (so der Name des Helden) in
äußerst bedrohter Lage, da ein riesiger Roboter mit hoch erhobenen
Armen auf ihn zustürmt. Auf dem anderen Bild sitzt der junge Mann
entspannt im Sessel, hat wohl gerade in einem Magazin mit dem Titel `Moustique'
geblättert, das er noch in der einen Hand hält. Wieder ist das
Eichhörnchen (Spip mit Namen) bei ihm. Spirou sieht auf die Uhr und sagt,
daß sein Freund Fantasio bald, nämlich in 15 Sekunden,
zurückkehren werde. Im gleichen Augenblick offenbar läutet auch schon
die Türglocke, die in einem Feld am oberen Rand der Zeichnungseinrahmung
dargestellt ist.
Es kommt hier aber wohl gar nicht so sehr auf den dargestellten Inhalt an,
sondern vielmehr auf die Art der Darstellung, den Stil der Zeichnung.
Die Art der Zeichnung ist in beiden Fällen betont schlicht. Bei der
Kolorierung werden leuchtende Grundfarben verwendet. Es sind praktisch keine
Schraffuren zu sehen und die Licht-, bzw. Schattenzonen sind von einer
stilisierten Homogenität, z.B. beim Licht der Lampe auf Bild 2, wo der
Lichtkegel einfach durch eine gerade Linie begrenzt wird. Überhaupt
herrschen gerade, geschlossene Linien vor; einheitliche und saubere
Flächigkeit, großzügige Raumauffassung prägen den
Gesamteindruck. Die eigentlichen Zeichnungen werden eingerahmt von einem
ebenfalls zeichnerisch gestalteten breiten Rahmen in Art eines Passepartouts,
der in stilisierter Form Elemente der Handlung aufnimmt.
Formal wie inhaltlich wird auf einen berühmten älteren Stil der
Comic-Zeichnung Bezug genommen. Die betonte Schlichtheit und Sachlichkeit der
Auffassung, die klare Linienführung, aber auch inhaltliche Details der
dargestellten Räume und Gegenstände (wie bei den Möbeln oder der
Konstruktion des Roboters) verweisen auf die goldene Ära der frühen
Comic-Kunst, auf den Stil, der unter dem Namen `Ligne Claire' berühmt
wurde.
Die `Ligne Claire', manchmal auch `Marcinelle-Stil' genannt (obwohl man hier
nach Zeichnern und Veröffentlichungsorten unterscheiden kann), wurde in
den 30er- und 40er Jahren durch belgisch-französische Künstler wie
Hergé, Tilieux und Jijé begründet. Als
der eigentliche Vater der `Ligne Claire', die für einen betont klaren
Zeichen- und Erzählstil steht, gilt Georges Rémi, der sich
selbst Hergé nannte.
Hergé (geboren am 22.5.1907, gestorben am 3.3.1983) hat die
Entwicklung der europäischen Comics beeinflußt wie kein zweiter; es
ist sicher nicht übertrieben, seine Bedeutung für unseren Kontinent
mit der Walt Disneys für Amerika zu vergleichen. 1923 begann er
für die katholische Pfadfinderzeitschrift `Le Boy-Scout belge' erste
Illustrationen anzufertigen und veröffentlichte hier drei Jahre
später seinen ersten Comic `Les Aventures de Totor, C.P. des Hannetons' um
die Erlebnisse eines Pfadfinderführers in Amerika. Dieser Pfadfinder Totor
wird später in der Gestalt eines jungen Reporters weiterentwickelt, den
wir in Deutschland unter dem Namen Tim kennen. Tim, eigentlich `Tintin' wurde
(neben Spirou) schnell der europäische Comic-Held, dessen
Popularität in der ganzen Welt (in Deutschland durch die `Tim und Struppi'
- Alben im Carlsen Verlag) bis heute anhält. Beide Gestalten, Tintin wie
Spirou, stehen im Mittelpunkt von Zeitschriftengründungen; die Magazine
trugen auch jeweils ihren Namen. Aus dem Gegensatz zwischen den Zeitschriften
`Tintin' und `Spirou' erklärt sich auch der Unterschied zwischen `Ligne
Claire' und `Marcinelle' - Stil. Letzterer wird dem Umkreis von `Spirou'
zugeordnet, die `Ligne Claire' dem um die `Tintin'-Ausgaben. Daß man auf
unterschiedliche Stile hinweisen kann, macht deutlich, daß den Comics
weitgehend schon Kunstcharakter zugebilligt wird. Läßt sich dieser
Kunstcharakter nun auch im Rahmen theoretischer Überlegungen begreifen ?
Bei den Versuchen, die Ästhetik der Comics zu beschreiben und die innere
Logik des Mediums zu erfassen, stehen sich mindestens zwei Auffassungen
gegenüber:
- Auf der einen Seite werden Comics als Fortführung der Textillustration
begriffen. Wie beispielsweise bei mittelalterlichen Illuminationen sollen die
Zeichnungen einen Vorgang anschaulich machen oder sprachliche Beschreibungen
unterstützen. Hier sind auch die Beziehungen zur Karikatur einzuordnen
oder zu Zeichnern, die oft als Vorläufer einer eigentlichen
Comic-Ästhetik gesehen werden, wie Wilhelm Busch oder der Genfer
Künstler Rodolphe Toepffer.
- Die andere Auffassung rückt die Comic-Ästhetik näher an die
zweite große neue Kunstform des 20. Jahrhunderts heran, den Film. Comics
werden hier als ein Versuch gesehen, die neuen optischen Möglichkeiten des
Films, die neue Visualität, auf der Ebene der Zeichnung umzusetzen.
Hergé beispielsweise begriff (nach eigenen Aussagen) die Strips
als gezeichnete Filme; die Texte, die er zunächst nur unter den Bildern
anordnete und nicht in Sprechblasen, hätten ohne die Zeichnungen keinen
Sinn ergeben.
Ich will mich nicht allzulange über diese verschiedenen Auffassungen
verbreiten; mir scheint nur klar zu sein, daß die unterschiedlichen
Sichtweisen sich notwendig auf eine spezifische theoretische Weise
äußern müssen - mit jeweils unterschiedlichen Stärken und
Schwächen. Sieht man die Comic-Zeichnung als Kind der Textillustration
wird man im Grunde immer den inneren Strang von Erzählung, die inhaltliche
Entwicklung, man könnte sagen, das Sinnzentrum der Comics,
außerhalb des Bildes lokalisieren. Die Bilder sollen etwas
erläutern und zur Darstellung bringen, das außerhalb ihrer schon als
intellektuelle Struktur des Erzählens oder einer Weltbeschreibung
vorliegt. Der Text bringt das Bild hervor und nutzt seine Möglichkeiten.
Anders beim Modell, das von der Filmästhetik beeinflußt ist. Hier
sollen die Bilder allein schon eine Erzählleistung vollbringen. Im
Idealfall muß gar kein kommentierender Text hinzutreten. Die Bilder
entwickeln mit ihrer eigenen Dynamik ihren spezifischen Sinn, ihr
ästhetisches Programm. Das Sinnzentrum liegt in den Bildern selbst, sowohl
in den einzelnen Darstellungen wie im Fluß der Bilder, der Abfolge, dem
Rhythmus der visuellen Erzählung. Um das außerhalb der Bilder
liegende Sinnpotential zu minimieren, den puren Textsinn zu entmächtigen
werden verschiedene Strategien angewandt. Beispielsweise beginnen die Formate
zu sprechen: ein nur kurz stattfindendes Ereignis, ein wichtiger Moment, wird
als Extrabild isoliert, ein klingelndes Telefon etwa oder die schellende Glocke
in unserem Chaland-Beispiel, die einen eigenen Kasten erhält. Die
noch viel durchschlagendere Veränderung besteht natürlich in der
Aufnahme von Techniken der Filmregie wie Schnitte und Gegenschnitte, Zoom,
Zeitlupe, usw. usf.
Bei Vergleichen zwischen Film und Comic sind allerdings noch mehrere Dinge zu beachten. Beispielsweise ist der Film ein Medium, das uns intensiver dem Geschehen ausliefern kann, wir verlieren mehr Orientierungspunkte außerhalb des Geschehens. Beim Lesen eines Comic-Buches sind wir souveräner, wir können zurückblättern, uns manche Darstellungen genauer ansehen, die beeindruckende emotive Kraft der Musik oder von erschütternden Geräuschen fehlt. Und vielleicht noch interessanter ist das grundsätzliche Phänomen, daß wir die Verbindung zwischen den Bildern herstellen. Der Film zeigt uns die Handlungsabläufe meist explizit, manchmal wird uns der Hergang überdeutlich vor Augen geführt. Im Comic fehlen oft einige Zwischenschritte und das Vergnügen bei der Lektüre hängt auch damit zusammen, wie phantasievoll wir die Verbindung zwischen den Bildern gestalten können. Unser Eigenanteil ist schlicht größer, auch dadurch, daß wir die Situation bestimmen, in der wir rezipieren. Einen Film können wir nur in einem Vorführsaal genießen, das Sehen ist an technische Voraussetzungen gebunden. Beim Film ist deshalb auch seine zeitliche Verortung in der Moderne offensichtlicher. Der Comic fügt sich ins Bild der Bibliothek, wie wir sie als Klosterbibliothek seit dem frühen Mittelalter und als größere Privatsammlung seit der Zeit der Renaissance kennen; er steht für eine deutlichere Medienkontinuität als der Film. Hier scheint sich allerdings durch die Allgegenwart des Fernsehens und der Videotechnik manches zu ändern. Mit der leichteren Verfügbarkeit des Mediums wird auch die äußere Form der Bibliothek, nun eben als Mediathek mit Regalen voller Videobänder reaktiviert. Es wäre natürlich interessant, sich die Frage nach der Stabilität des Medienträgers zu stellen; in einer verblüffenden Dialektik werden die immer perfekteren Medienkonserven auch immer kurzlebiger. Während wir Papyrusrollen aus dem Mittleren Reich des alten Ägyptens noch lesen können und Bücher aus dem 16. Jahrhundert in unser Regal stellen können, beginnen die ersten Magnetbänder und wohl bald auch CDs ihre Botschaft wieder zu verlieren. Auch das kann natürlich mit dem Comic nicht so leicht geschehen.
Genauso wie der Film sind die Comics ein Phänomen der Massenunterhaltung.
Comics werden auch von Menschen gelesen, die sonst kein Buch in die Hand nehmen
würden, Filmveranstaltungen von einem Publikum besucht, das man eher
selten im Theater oder Konzert antrifft. Beide Ausdrucksformen haben
(verglichen mit den klassischen Kunstformen) eine begeisterte Aufnahme beim
Publikum gefunden. Comic-Bände stellen den größten
Geschäftserfolg dar, der je mit Druckerzeugnissen in der Geschichte
erzielt worden ist; in den Vereinigten Staaten wurden und werden monatliche
Produktionsziffern von mehr als 100 Millionen Heften erreicht. Mehrere
Generationen sind nun schon durch Erfahrungen mit den bunten Bildern
geprägt und auch ihr Blick auf die anderen Kunstformen wird nicht zu
verstehen sein, weiß man nicht, was die Gesetze des Mediums Comic sind.
So ist es mit einer neuen, machtvoll nach vorne drängenden Kunstform, die
alten Dinge erhalten durch sie wiederum einen Glanz oder sie kommen in eine
stille Ecke und der Geist der Zeit blickt achtlos an ihnen vorbei bis sie
wieder durch eine weitere Veränderung der Optik sichtbar werden.
In beiden Fällen steht aber der Massenerfolg der Anerkennung durch eine
etablierte bürgerliche Kunstkritik entgegen. Es dauerte lange bis die
ersten kompetenten und kritischen Filmbesprechungen erschienen und mindestens
genauso lange bis die Comic-Zeichnung als Kunstwerk in der öffentlichen
Diskussion Anerkennung fand. Auch an der Geschichte der Comics läßt
sich das fatale Auseinanderreißen von Hochkultur und Alltagskultur, eines
der Kerntraumata im Diskurs der Moderne, nachvollziehen. Was Erfolg bei den
Massen hat, kann keine Kunst sein, so lautet ein Verdikt; die Sprache der Kunst
ist nirgends und nie die Sprache des Volkes und seiner Bedürfnisse. Dies
wurde auch von den Produzenten so empfunden und daher beginnen schon
frühzeitig die Versuche, den Film `kulturell aufzuwerten'. Dies geschah
mit zum Teil verheerenden Wirkungen wie in einem unfreiwillig komischen
Auftritt der berühmten Theaterschauspielerin Sarah Bernhardt in einer 1911
gefilmten Tragödie. Erwin Panofsky schreibt ganz zutreffend
über diese untauglichen Versuche einer `Kultivierung':
"Die wahren Entfaltungsmöglichkeiten eröffneten sich nicht, indem man den Volkskunstcharakter des primitiven Films verwarf, sondern indem man ihn entwickelte. Die volkskunstartigen filmischen Archetypen - Belohnung und Strafe, Sentimentalität, Sensation, Pornographie und kruder Humor - konnten sich zur überzeugenden Geschichte, zur Tragödie und Romanze, zur Kriminal- und Abenteuergeschichte und zur Komödie entfalten, sobald man erkannt hatte, daß sie nicht durch aufgepfropfte literarische Werke zu verwandeln waren, sondern nur dadurch, daß man die spezifischen Möglichkeiten eines neuen Mediums ausnutzte" ( So Panofsky in seinem Essay `Stil und Medium im Film').
Versuchte man die ihm eigenen Entwicklungsmöglichkeiten zu ignorieren,
dann war mit dem vorwärtsweisenden ästhetischen und intellektuellen
Potential interessanterweise auch die Akzeptanz beim Zuschauer verloren. Auf
letzteres spielt das Bonmot aus den 20er Jahren über den enttäuschten
Kinobesucher an. Dieser kommt aus einem der Kinos am Kurfürstendamm und
beschwert sich lautstark über den gesehenen Film mit den Worten: "Wenn ick
nu' schon 3 Jroschen opfre kann ick och verlangen, daß an meene
niedrigsten Instinkte appelliert wird."
Was wären also die mediumspezifischen Entwicklungsmöglichkeiten der
Comics und wie sieht hier die Beziehung zwischen Kunst und Erfolg aus ? An die
niedrigsten Instinkte appellieren die Comics von Hergé
gewiß nicht, die Verwendung massenwirksamer Reizmittel wie exzessiver
Gewalt oder Erotik verbot sich schon automatisch durch Hergés
Sozialisation in der katholischen Jugendarbeit. Die `Ligne Claire' entwickelt
auf einer anderen Ebene `Massentauglichkeit'.
In der `Ligne claire' kommen auf interessante Weise der Kunstcharakter und der Massenerfolg in einer spezifischen Ausdrucksweise zusammen. Wie der Name schon sagt zeichnet sich die `Ligne claire' durch klare, auf den ersten Blick durchschaubare Zeichen aus und durch ebenso einfache, gut zu verstehende Erzählplots. Dies sichert den Erfolg auch bei Lesern, die komplizierteren Erzählsträngen oder verschleierten, andeutungsreichen Erzählarten nicht folgen wollen oder können. Gleichzeitig hat aber diese 'Primitivität'&bsp; unzweifelhaft Züge einer künstlerischen Ästhetik, die wir heute, mit zunehmendem Abstand von der Zeit des Entstehens, immer deutlicher wahrnehmen. Es ist ein erstaunliches, aber nicht zu ignorierendes Faktum, daß Reduktion, obwohl aus pragmatischen Gründen erfolgt, zu einem eigenständigen künstlerisch interessanten Stil führen kann. Künstlerische Valenz und Unterhaltungswert klingen zusammen - genau diese Dialektik spricht Roland Mietz in seiner abschließenden Beschreibung des Stellenwertes der `Ligne Claire' an, wenn er schreibt: (Das Zitat stammt aus seinem Beitrag für die Sammlung `Lexikon der Comics', Band 3 - Teil 3, 8. Ergänzungslieferung, Dezember 1993, S. 16)
"Die Ausformung der `Ligne Claire' steht im Schnittpunkt der Erfahrungen der
Moderne und ihrer Krise zu Beginn der dreißiger Jahre. Drückten so
unterschiedliche künstlerische Strömungen wie Expressionismus,
Surrealismus oder Dadaismus die Erfahrung und das damit verbundene Unbehagen
aus, daß die Dinge nicht das sind, was sie vorzugeben scheinen,
beziehungsweise die Dinge nicht mehr das einzulösen versprachen, was bis
zur zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts noch einen ganzheitlichen
Sinn von Welt vermittelte, so fand spätestens ab den dreißiger
Jahren der Versuch einer massiven Rückerstattung von Sinn statt.
Kunstästhetische Sinnerstattung durch Art Deco und Neue Sachlichkeit im
Bereich der Malerei und des Kunsthandwerks, die ihren augenfälligsten
Ausdruck auf dem Gebiet der Architektur in einer weltweit aufkommenden Tendenz
zum neoklassizistischen Baustil als Antwort auf Neues Bauen und
Konstruktivismus fand, und nicht nur das nationalsozialistische Deutschland und
das faschistische Italien betraf.
Hergé begegnete dieser Erfahrung, daß die Dinge nicht
länger eindeutig sind, mit seinem Konzept des opaken Dokumentarismus:
Mehrdeutige Dinge müssen zur Eindeutigkeit gezwungen werden, aber eine
Ahnung von ihrer Mehrdeutigkeit soll in ihnen aufbewahrt werden, was durch die
Schaffung des sinngebenden Rezeptionsapparates der `Ligne Claire' als in sich
geschlossene, stringent funktionierende und zugleich völlig
künstliche Welt geschah."
In sich geschlossen, stringent funktionierend (und dadurch nachvollziehbar) aber zugleich völlig künstlich - was hier über die alte `Ligne Claire' gesagt wurde gilt nur noch mit Einschränkungen für die Renaissance als `Nouvelle Ligne Claire' in den 70er und 80er Jahren.
Hier kommt nun Yves Chaland ins Spiel. Er gilt als eine der Hauptfiguren
bei der Wiederaufnahme des `Klaren Stils', zusammen mit Künstlern wie
Ted Benôit, Joost Swarte, Serge Clerc und
Jean-Claude Floc'h.
Zunächst einige biographische Daten: Geboren wurde Chaland
1957 in Lyon, mit 17 Jahren veröffentlichte er erste Zeichnungen im
Magazin `Biblibop'. 1976 gründete er seine eigene kleine Zeitschrift, ein
Fanzine, das er `L'Unité de Valeur' (Die Einheit des Wertes) nannte.
1978 erscheinen verschiedene Comic-Parodien in der wichtigen französischen
Zeitschrift `Métal Hurlant' (Schwermetall), bei vielen davon arbeitet
sein Freund Luc Cornillon mit. Das Genre der Parodie wird für
Chaland immer große Bedeutung haben. Er gilt in Comic-Fachkreisen
bald als ein Experte für das Interpretieren und Karikieren älterer
Stile. Die Breite der unterschiedlichen kopierten Stile ist erstaunlich. Dies
erlaubt ihm, ein sehr interessantes Projekt zu verwirklichen. 1979 erscheinen
mehrere Nummern der erfundenen Zeitschrift `Le Captivant' (Der Gefangene), ein
scheinbarer Nachdruck eines Jugendblattes aus den 50er Jahren. Diese
Pseudo-Zeitschrift enthält eine Fülle von Geschichten in sehr
unterschiedlichen Zeichenstilen; Chaland zeigt die ganze Breite seiner
zeichnerischen Vielseitigkeit. Der deutsche Comic-Forscher Volker Hamann
nennt `Le Captivant' das Manifest der Bewegung `Nouvelle Ligne Claire'. Nachdem
Chaland so seine handwerklichen Fähigkeiten entwickelt hat, geht er
an Entwürfe für eigene Figuren. Es entsteht 1980 eine Geschichte um
den Privatdetektiv Bob Fish und 1981 mit dem Buch `Das Testament des Gottfried
von Bouillon' der erste Band aus einer Reihe, in deren Mittelpunkt Freddy
Lombard steht, der äußerlich stark an eine der klassischen Figuren
erinnert, an Tintin nämlich, aber einen differenzierteren und erstaunlich
destruktiv/zynischen Charakter aufweist. Für unseren Zusammenhang noch von
Interesse sind natürlich die anderen Versuche, sich einem der Mythen
europäischer Comic-Kunst anzunähern, nämlich Spirou. 1982 wurden
23 Folgen eines Spirou-Fortsetzungsstrips veröffentlicht - aus diesem
Zusammenhang stammen auch die hier gezeigten Werke.
An dieser Stelle sollte man vielleicht darauf hinweisen, daß die
Unterscheidung zwischen `Ligne Claire' und `Marcinelle'-Stil doch weitgehend
akademischen Charakter hat, da Chaland sich ursprünglich an
Hergé orientierte, aber eben auch in das Spirou-Universum, das
von Zeichnern wie Tilieux und André Franquin geprägt
wurde, Eingang fand.
Die Beschäftigung mit den Klassikern des Genres jedenfalls erklärt
sich vielleicht auch ein bißchen durch die Tatsache, daß
Chaland immer im Zweifel war, ob er nicht der `wirklichen Kunst' der
Malerei den Vorzug geben sollte. Während seiner Zeit an der Kunstakademie
von St. Etienne wandte er sich mehrmals von der Gattung der Comics ab und
konzentrierte sich auf die seriöse Malerei. Dies verbindet ihn mit
Jijé, einem der Künstler der alten `Ligne Claire', der sich
von seinem eigentlichen Ausdrucksfeld der Ölmalerei nie ganz abwandte. Die
Neuinterpretation von Comic-Klassikern, die von Chaland manchmal mit
zurückhaltend konservativem hermeneutischen Instrumentarium, manchmal aber
auch unter starker Betonung der Dialektik zwischen dem Zeichenstil der 30er und
dem Geist der 80er Jahre vorgenommen wird, erklärt sich so auch
psychologisch. Wenn schon nicht die Hallen der großen Kunst betreten
werden können, dann soll doch zumindest in einem Bereich gearbeitet
werden, der schon aus historischen Gründen an auratischer Bedeutung
gewonnen hat.
Chaland will die Faszination, die die alten Comicstile auf ihn
ausüben, immer und immer wieder durch eigene Werke rekonstruieren,
reaktivieren. Er versucht, zeichnerisch dem `l'âge d'or' zuzurechnende
Comics für ein junges modernes Publikum vorzulegen.
Dies wird zunächst von vielen Seiten begrüßt und vor allem
innerhalb der Szene der Comic-Kenner gefeiert. Als öffentliches Projekt,
als Versuch, eine ähnliche Massenwirksamkeit wie die älteren Zeichner
zu erreichen, scheitert die `Nouvelle Ligne Claire' jedoch. Die Arbeiten werden
mit Preisen ausgezeichnet, die Kritiker loben die Alben und Chalands
`Der Komet von Karthago', eine düstere Liebes- und Kriminalgeschichte, die
auch Motive aus Gustave Flauberts Buch `Salambo' verarbeitet, wird von
den Connaisseurs als der schönste Comic aller Zeiten gepriesen; die
Käufer bleiben jedoch sehr zurückhaltend.
Warum scheiterte der Versuch einer Erneuerung der `Ligne Claire' auf diesem
Gebiet ? Nach Volker Hamann lag dies am Fehlen einer überzeugenden
erzählerischen Komponente:
"Das urspüngliche Konzept, an die Arbeiten Hergés und dessen weltweit erfolgreichen Serie Tintin anzuknüpfen und durch zeitgemäße Strömungen erneuern und fortsetzen zu wollen, scheiterte an der Unvereinbarkeit von Szenario und Zeichnung: Die Zeichner der `Nouvelle Ligne Claire' akzeptierten zwar die formalen und zeichnerischen Mittel Hergés und seiner Zeitgenossen, übersahen aber die Notwendigkeit eines klaren Szenarios, welches im Zusammenhang mit den Zeichnungen die `Klare Linie' ausmacht."
Der Versuch, die Uneindeutigkeit der Welt zugunsten einer klaren ästhetischen und erzählerischen Linienführung aufzulösen, scheitert in den 80ern - offensichtlich ist zwar ein Spielen mit den gestalterischen Versatzstücken noch möglich, auch eine etwas tiefergehende Aneignung auf der Ebene der technisch-zeichnerischen Mittel wird erreicht; die verbindende inhaltliche Linie fehlt jedoch; die Erzählung als ein Fenster in die geordnete Welt ist verschwunden. Man mag gegen eine vorschnelle kulturkritische Reflexreaktion einwenden, daß auch zu Hergés Zeiten die Welt keineswegs geordnet war und auch den meisten durchaus nicht so erschien und daß die angeführte Einschätzung von Mietz, bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seien die Dinge noch das gewesen, was sie vorgaben zu sein, einige frühere Phasen der Erschütterung geordneter Weltbilder außer acht läßt. Sinnvoll werden solche Annahmen nur unter der Voraussetzung, daß jede neue Kunstform notwendig bestimmte Prozesse der Selbstfindung und Abgrenzung der für sie verwendbaren technischen Mittel und der für sie erreichbaren inhaltlichen Aussagen durchlaufen muß. An dieser Stelle wird im nachhinein vielleicht noch einmal deutlich, warum es sich lohnt, an die Kunstform der Comics mit dem Instrumentarium philosophisch-ästhetischer Analyse heranzugehen. Im Falle der Comics können wir nämlich die Entwicklung einer Kunstform direkt mitverfolgen, die verschiedenen Stadien der Entwicklung liegen in einem zeitlichen Rahmen, der auch unserer unmittelbaren Anschauung zugänglich ist und in Beziehung zu unserem Lebensgefühl steht. Wenn es zutrifft, daß entscheidende Wendungen in der Entwicklung der Kunst auch mit ganz neuen Sichtweisen verbunden sind, die ein neues philosophisches Verhältnis zur Welt miteinbegreifen, dann sind wir geradezu verpflichtet, die Felder der Gegenwartskultur im Auge zu behalten, wo solche entscheidenden Wendepunkte direkt aufgewiesen werden können. Dann würde die Eule der Minerva mit deutlich geringerer Verspätung ihren Flug antreten.
Ein Mittel der Selbstreflexion des Mediums ist sicherlich die
Überprüfung der noch möglichen, noch verwendbaren Stilmittel.
Wird ein alter Stil, eine alte Sprache des Mediums aufgegriffen und für
neue Inhalte oder auch nur ein verändertes Verständnis der alten
Inhalte verwendet, zeigt sich, ob die Entwicklung des Mediums in ein neues
Stadium tritt. Yves Chaland steht mit seinen Arbeiten exakt an solch
einer Schnittstelle in der Entwicklung der Kunstform Comics. Er macht die
Erfahrung, daß die Stilmittel sich selbständig machen und mit
erzählpragmatischen Zwecken nicht mehr korrespondieren. Der Comic
wiederholt ein Geschehen der Loslösung von alten
Form-Inhalt-Zusammenhängen, das andere Kunstformen schon früher
prägte.
Solch eine Loslösung kann unterschiedliche Formen annehmen wie im
Ästhetizismus, meistens jedoch wird sie begleitet von einer großen
Traurigkeit über die scheiternden Versuche, Form und Inhalt noch in eins
zu zwingen. Die moderne Kunsttheorie hat versucht, dieses Scheitern produktiv
zu machen, der Verzweiflung eine Stimme in der Kunst zu verleihen.
Adorno beschreibt das moderne Kunstwerk gerade unter dem
Hauptgesichtspunkt seines Scheiterns, seines Nicht-mehr-aussagen-Könnens.
Harmonie und Schönheit dürfen nicht mehr Standards der Beurteilung
von Kunst sein da mit ihrer Annahme die gesellschaftlichen und historischen
Fehlentwicklungen ästhetisch sanktioniert würden. Ein
abgeschlossenes, in sich gerundetes harmonisch schönes Werk wäre nach
Auschwitz eine Verhöhnung der Opfer der Geschichte und nur Schminke im
häßlichen Gesicht der Zeit. Um noch Wahrheit verbürgen zu
können muß die Kunst sich selbst in Frage stellen und ihre eigenen
Formen als vorläufige und nicht einem ästhetischen oder auch nur
kunsthandwerklichen Ideal entsprechende vorführen.
Das Schweigen soll aber nicht die Folge sein, der Innovationsprozeß nicht
an sein Ende kommen; alte Formen werden immer wieder durch neue und neueste
Versuche ersetzt, die auch als fertige Kunstwerke den Versuchscharakter nicht
verlieren. Adorno bekennt sich entschieden zum experimentellen
Weiterentwickeln künstlerischer Formen, zum ungesicherten Aufbruch ins
Unbekannte. In `Dissonanzen' (Gesammelte Schriften, Band 14, Frankfurt am Main
1973) schreibt er auf Seite 126:
"Was sich für gesichert hält, indem es vorm vermeintlichen Experiment sich hütet, ist bedroht wie ein törichter Geizhals, der, um ja sein Geld nicht zu verlieren, es in mündelsicheren Papieren anlegt, die bei der nächsten Inflation am ehesten entwertet werden. Todverfallen ist die Geborgenheit; Chance zu überleben hat einzig das Ungeschirmte, Offene."
Die immer schnellere Abfolge von Avantgarden und Neo-Avantgarden scheint aber zu zeigen, daß der Erkenntnisgewinn und die Ausdrucksfähigkeit der jeweils neuesten Kunstwerke tendenziell an Verbindlichkeit verlieren, daß das Dauer-Experiment seine eigenen Bequemlichkeiten und Verläßlichkeiten entwickelt - im Rahmen eines Kunstmarktes, der nurmehr ein hektisches Dauerflimmern ist.
Dagegen setzt Odo Marquard einen Versuch der Verstetigung, indem sich
die Reflexion verschiedener Phasen des Experimentierens genauer versichern soll
um sich so einzuhausen in den Vorläufigkeiten, die vergangen sind und
gerade durch diesen Charakter des Vergangenseins Bestand haben könnten. Je
älter die Moderne wird, um so plausibler wird die Position eines
Konservativen, der zum Schatz des Bewahrenswerten eben auch den Bilderreichtum
einer modernen Selbstvergewisserung und Selbstfindung zählt.
Marquard nennt diese Position die eines
`Modernitätstraditionalisten' und schreibt in der Einleitung zu seinem
Buch `Aesthetica und Anaesthetica', daß von einer solchen Position aus
zweierlei versucht werde: die Behauptung der Resistenz der Moderne gegen die
Postmoderne und die Verteidigung des ästhetischen Zeitalters gegen den
Antimodernismus, speziell den futurisierten Antimodernismus.
Immer zahlreicher werden die Aufklärungsnostalgiker und Greise der
Revolution. Angesichts neuer Generationen, die weder die psychische noch
intellektuelle Stärke haben, sei es ein sinnvoll progressives oder
reflektiert konservatives Programm aus sich selbst zu schöpfen und mit
ganzer Existenz zu ihrer Sache zu machen müssen die Enzyklopädisten
der vergangenen Umsturzversuche denen die Hand reichen können, die das
Beständige und Ewigkeitstaugliche im Gegenwärtigen aufzuspüren
imstande sind. Gegen Konzepte wie das von Theodor W. Adorno, bei dem die
demonstrative Verzweiflungsästhetik ihre Glaubwürdigkeit immer noch
aus der Annahme bezog, daß eine Darstellung des Wirklichen in der Kunst
irgendwann einmal in authentischer Weise möglich gewesen sein muß
und die sich deshalb in bierernster Weise einen frischen Luftzug von Dingen
außerhalb des ästhetisch-theoretischen Trauerzimmers verbittet,
setzt Marquard eine skeptische Ästhetik, die vergangene
Authentizitätskunstwerke und Kunstwerke der vollzogenen
Authentizitätsverlustskompensation so ernst nimmt wie sie es verdienen
ohne sie als letztes Wort oder auch nur letztes Vorwort zu akzeptieren. Die
Ausschließlichkeit ästhetischer Immanenz wird nicht akzeptiert.
Jede Kunstform erreicht irgendwann eine solche Phase, in der sich entscheidet,
ob sie für die Entwicklung des Bewußtseins einer Epoche noch etwas
beizusteuern hat. Mutmaßlich beschleunigen sich die Zyklen der
Selbstvergewisserung und kommen nicht immer zu einem konstruktiven Ende. Das
jedenfalls scheinen gewisse Entwicklungen in der offiziellen `hohen' Kunst
nahezulegen, in der bestimmte Formen der Avantgarde nur noch von
Kunsthändlern, Kunstkritikern und Ausstattungsberater für
Sparkassenfilialen akzeptiert werden. In der breiten Masse werden sie aber als
das erkannt, was sie in den real existierenden Verhältnissen auch sind:
überschätzt. Überschätzt natürlich aus
nachvollziehbaren strategischen Gründen, die sehr oft Mal lautersten
Motiven verpflichtet sind.
Die `Ligne Claire' scheint sich in spielerischer Weise neben dem verkrampften
Selbstbehauptungsgetöse moderner Kunst zu bewegen. Viel erfolgreicher und
akzeptierter als diese verdankt sie ihre souveräne Position einem geradezu
provozierend naiven Blick auf die Dinge. Die Welt wird reduziert auf klare,
handwerklich sauber gezeichnete Bildchen, deren jedes zu sagen scheint: "Du
kannst auch noch viel mehr aus mir machen, du mußt aber nicht." In diesem
Punkt vielleicht mit dem verschmitzten bärtigen Lächeln von
Husserl verwandt, der seinem Kind Phänomenologie auch eine
scheinbare Naivität, die dem Optimismus einer möglichen Wesensschau
korrespondierte, in die Wiege legte und Kriterien anzugeben versuchte, wie die
disparaten Aspekte der Wirklichkeit in einer nicht vergewaltigenden Reduktion
sinnvoll verstehbar zu machen seien.
Genau die Reduktion, die Hergé oder Chaland sich
vorzunehmen erdreisten, wurde aber von den intellektuellen Sinn- und
Unsinnstiftern vermieden, moderne Kunst stellte sich gerade die Aufgabe, innere
Komplexitäten, Konflikte des Künstlers beispielsweise, oder die
äußere Unübersichtlichkeit einer chaotischen Welt darzustellen.
Genau dieser Wunsch, eine vielschichtige und mehrdeutige Welt in ihrer
Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit wiederzugeben oder doch zumindest die
Klüfte und Zerrissenheiten der textlichen Widerspiegelung der Welt als
solche ernst zu nehmen, führte aber zu einer Entfremdung vom Zuhörer
oder Zuschauer, sogar zu einer Entfremdung von den eigenen
Darstellungsmöglichkeiten. Die Kunst hat auf diese Weise ihr Thema so
ernst genommen, daß es ihr verloren ging - und das Publikum gleich mit
ihm. Es ist hier wichtig, sich die Beziehung zwischen Reduktion und Erfolg
wieder ins Gedächtnis zu rufen. Reduziere ich meine Ausdrucksmittel, dann
akzeptiere ich dreierlei:
1. Nehme ich Abschied von einer naiven Abbildtheorie; es wird klar, daß
ich nur Modelle der Wirklichkeit beziehungsweise bestimmte Aspekte zur
Darstellung bringen kann - 2. Biete ich einen leichten Zugang zu meinen Themen
an wenn die Strukturierung den aktuellen Bedürfnissen der Zeit
entgegenkommt und dennoch für die Eingeweihten einen Überschuß
an semantischem Potential bietet - 3. Liefert meine Arbeit
Anknüpfungspunkte für sowohl Historisierung als auch Ironisierung
(denn ein scheinbar einfaches reduziertes Zeichensystem kann natürlich
besser karikiert werden). Solche Reduktion erzeugt einen kristallklaren
Bergsee, in dem sich ein Ideenhimmel immer noch besser spiegeln kann als in den
trüben Tümpeln der Eigentlichkeit und Tiefsinnigkeit. Die
künstlerische Avantgarde hat dieser tiefsinnigen Ergriffenheit lange genug
gehuldigt und dabei die Philosophie geplündert um noch schwieriger und
tiefsinniger zu erscheinen.
Aber das gilt nun vielleicht schon nicht mehr: Eine weitere Wendung in der
Entwicklung der Kunst bahnt sich an und der Markt mit seinen ökonomischen
Gesetzmäßigkeiten ist ein großer Regulator dabei. Genau wie zu
Beginn der Film- oder Comic-Kunst verlieren die schwergewichtigen Welt- und
Selbstdeuter an Boden, die Spieler, die einfach am Vektor des Marktwertes
entlang agieren, beherrschen die Szene. Natürlich sind auch die neuesten
Creationen gerade schockierend oder irritierend genug in einem mittlerweile
charmant altmodischen Sinne, daß sie von Kunstkritikern noch in den
fortgeschriebenen Kanon der Moderne eingegliedert werden können. Aber ihr
eigentliches Lebensgesetz ist ein anderes, eigentlich geht es um
Unterhaltung.
Dieser großen allgemeinen Anforderung müssen sich die Künste
nun wieder stellen, vielleicht in anderer Form auch die Wissenschaften. Das
bedeutet, unterhaltend zu sein in einer bewußten Reduktion der
Ausdrucksmittel in einer rettenden Bewegung hin zur Anschaulichkeit, die das
hohe Niveau bewahrt und gerade nicht an die `niedrigsten Instinkte' appelliert.
Das kann nur im `Hier und Jetzt' geschehen, in einem radikalen Sich-Einlassen
auf die Gegenwart; nur dann kann die innere Dynamik sich frei entfalten, die
die Entwicklungen der Jetztzeit denen der Vergangenheit ebenbürtig macht.
Nur wer den Augenblick will, kann auch die Ewigkeit wollen.
Ein ganz neues Konzept der scheinbaren Durchsichtigkeit, eines opaken
Dokumentarismus, naiv und fast überdeutlich an der Oberfläche, aber
doch durchzogen von mehrdeutigen Zeichenfeldern, dies zu beschreiben wäre
die Aufgabe der Stunde.
Vielleicht erreichen solche Denk- und Darstellungsformen einmal die
Schönheit einer Zeichnung von Hergé oder den bösen Witz
seiner unglücklichen Nachfolger der `Nouvelle Ligne Claire'. Yves
Chaland als der hochbegabte Historist dieser Bewegung mußte wohl
notwendig scheitern, aber in Fragmenten bleibt uns sein Werk erhalten und wir
alle können sehen, daß er mit einer höchst eleganten Geste
scheiterte, dem Zeichnen eines einfachen geraden Striches, einer klaren
Linie.
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