Erschienen in Ausgabe: No 52 (6/2010) | Letzte Änderung: 30.05.10 |
Steffen Möller: Vita Classica.Bekenntnisse eines Andershörenden. Scherz (Frankfurt am Main): 2009. 478 Seiten. Euro (D) 14,95. ISBN: 978-3-502-15168-5.
von Daniel Krause
Steffen Möller ist Polens beliebtester Deutscher, und einer der
bekanntesten. Mag sein Stern zuletzt im Sinken sein, wie Möller selbst
freimütig einräumt, als Kabarettist – und als deutscher Kartoffelbauer der
Daily Soap „M jak miłość“ – hat Steffen Möller mehr zur Verständigung der
beiden Völker beigetragen als sämtliche Bundeskanzler, Willy Brandt ausgenommen.
(Es fügt sich, dass sein Warschauer Wohnsitz in Sichtweite des Getto-Mahnmals
gelegen war, der Stätte des „Kniefalls“.) Die Kunde von Möllers ungewöhnlicher
Karriere auf polnischen Bühnen und Bildschirmen ist jüngst auch nach
Deutschland gedrungen. Als Gast in mancherlei Talkshows zwischen Anne Will und
Stefan Raab hat Möller um Verständnis für polnische Sichtweisen geworben, so in
der leidigen Causa Erika Steinbach. Dass seine autobiographisch untermauerte
Landeskunde Viva Polonia. Als deutscher Gastarbeiter in Polen (2008)
in Deutschland zum Bestseller wurde, muss als Glücksfall fürs deutsch-polnische
Verhältnis gelten. Fast möchte man sagen, Möller holt für Deutschland die Kartoffeln
aus dem Feuer – dies nicht nur im Fernsehen –, wetzt Scharten aus, die Steinbach
und Schröder mutwillig, eigensüchtig, ignorant geschlagen haben. Das
Bundesverdienstkreuz (2005) steht ihm wie wenigen zu.
Nun ist Steffen Möller ein zweites Mal als Buchautor hervorgetreten: Bei
Scherz ist Vita Classica – Bekenntnisse eines Andershörenden (2009)
erschienen. Der Band wird doppelsinnig als „klassisches Outing“ avisiert, denn
Möller hat vierzigjährig einen Lebens(hälften)rückblick vorgelegt und widmet
sich vor allem – klassischer Musik. Vita Classica muss gegenüber Viva
Polonia – trotz aller unbestrittenen Meriten – fast unvermeidlich abfallen,
denn als deutscher Polen-Liebhaber mit schriftstellerischer Begabung ist
Möller ein wahres Rarissimum, und seine Polen-Beschreibung ad usum
teutonicorum per se von hohem Belang. Als Liebhaber ernster Musik gehört er
gewiss einer Minderheit an, wiewohl einer bildungsstolzen und keineswegs
unbedeutenden: Manch anderer hätte Bekenntnisse eines Andershörenden zu
schreiben vermocht, und unter anderem Titel mögen dergleichen
Bekenntnisschriften längst niedergelegt worden sein. Wohlgemerkt:
‚Misslungen’ sind Möllers Einlassungen zur klassischen Musik nicht – er spielt
Klavier und weiß, wovon er spricht, dies ohne dem Leser mit fachsprachlicher
Prätention oder feuilletonistischen Worthülsen zur Last zu fallen. Sein
emphatischer Gestus – samt idiosynkratischer CD-Empfehlungen – ist beglaubigt
durch Empfindung und reich dokumentiertes musikkonsumptorisches
Suchtverhalten. Wenn Steffen Möller, der Pastorensohn, eine verworfene
Seele für ernste Musik zu gewinnen vermag, so hat sich alle Mühsal ausgezahlt.
„Meinem Vater war vieles an meinem Buch zu langatmig erzählt.“ (454) Möller
senior – Pastor von Beruf – legt den Finger in die Wunde, denn in der Tat: Vita
Classica ist weder Fisch noch Fleisch, stattdessen von allem ein bisschen,
recht umfangreich und disparat: Es finden sich Exkurse zur Diskographie und
Krankengeschichte einzelner Musiker, polenkundliche Digressionen, (diskrete)
Reminiszenzen an Kindheit und Jugend, ans friedensbewegte westdeutsche Milieu
der achtziger Jahre, auch manche Passage, die Fäden aus Viva Polonia
aufnimmt und fortspinnt. (So wird mancher Einblick ins polnische Medienwesen
geboten: Möller wurde die Ehre zuteil, die polnische Version von „Wetten dass…“
zu moderieren.) Der erste Lebensbericht wird gleichsam nach beiden Seiten
ergänzt: in die Vorvergangenheit der achtziger und neunziger Jahre und in die
Gegenwart der Jahre nach Drucklegung Viva Polonias. Symptomatisch sind
die zahlreichen abrupten Übergänge: Vom Papstbegräbnis über Dwójka, Polens
Klassiksender, zu Bruckners „Schnurrbärtchen“ – dies alles auf einer Seite
(370). Möller greift weit aus, auch geographisch: bis hin zu eigenen Sibirien-
und Amerika-Reisen. Die Beziehung aufs „Klassische“ seiner „Vita“ scheint nicht
selten etwas konstruiert.
Auch wird das Schicksal jugendlicher Klassik-Hörer übermäßig dramatisiert,
wenn vom Zwang zur „inneren Emigration“ die Rede geht. Solches Pathos, mag es
ironisch gebrochen sein, tönt hölzern. Wohlgemerkt: An Humoräußerungen, auch
solchen subtilerer Art, herrscht kein Mangel, wenn Möller beispielweise von
seiner jugendlichen Adorno-Lektüre berichtet: „Schönberg, Berg und Webern,
Beethoven und Mahler – das waren laut Adorno die Widerstandsnester, aus denen
man die Kraft beziehen konnte, die Zurichtung des Menschen zum Strichcode
aufzuhalten. Mit einem Schlag war meine Pubertät gerechtfertigt. Es war also
doch richtig gewesen, am Freitagabend nicht nach Düsseldorf zur Bhagwan-Disco
mitzufahren, sondern in der Stadthalle zu sitzen.“ (140) Von unübertrefflicher
Komik ist schließlich das Zusammentreffen Martin Stadtfelds, des jungen
deutschen Pianisten, mit Stefan Raab in dessen Late-Night-Show „TV Total“.
Möller, der selbst in „TV total“ auftreten ‚durfte’, tut gut daran, die
komplette, viertelstündige Begegnung im Wortlaut abzudrucken – sei es, um die
Kollision zweier musikalischer Welten, von ‚E’ und ‚U’, darzustellen, sei es
mit komödiantischem Impetus. Der Dialog füllt zehn Seiten – mit bestem
(un)freiwilligem, wunderbar albernem Witz:
„Raab: … mmm … Sie sind aber sehr absolutistisch unterwegs, Herr Stadtfeld!
Stadtfeld: Herr Raab …
Raab: … ich find ja zum Beispiel Mozart, ich sag’s gerne und immer wieder,
ich finde ja Mozart ein bisschen überschätzt … […] Mozart hat mit Sicherheit
auch die einen oder anderen guten Sachen gemacht, die Kugel zum Beispiel. […]
Stadtfeld: Sie würden es nicht schaffen, in Ihrem ganzen Leben nur die Noten
aufzuschreiben, geschweige denn…
Raab: … nee, weil ich gar keine Note kann! […]
Stadtfeld: Bach ist meine Leidenschaft […]. Und wenn ich kein Klavier
spielen würde, dann würde ich trotzdem jeden Abend die Matthäus-Passion hören.
Raab: Die Matthäus-Passion ist aber jeden Abend – das ist aber wirklich mal
… also … um mal dufte draufzukommen, ist die Matthäuspassion nicht unbedingt
gerade das Gelbe vom Ei, oder?
Stadtfeld: Wissen Sie …
Raab: Da hör ich mir aber lieber – ich hör mir zwar auch mindestens zwei-,
dreimal die Woche die Matthäus-Passion an – aber ich höre auch zum Beispiel DJ
Ötzi.“ (412ff)
Das Beste zuletzt: Steffen Möller kann schreiben. Auf annähernd 500 Seiten
jeden Satz gedanklich wie rhythmisch exakt auszuformen, ist menschenunmöglich.
Kein Leser wird daran Anstoß nehmen, dass nicht jede Formulierung vom höchsten
Karat ist. Möllers Duktus entscheidet: Er garantiert, dass viele dieses
Buch, das hoffentlich nicht Möllers letztes ist, mit einigem Vergnügen,
womöglich mit Gewinn, zu Ende lesen werden. Auch finden sich in Vita
Classica Augenblicke höherer Wahrheit. Sie bringen Kulissen zum Einsturz,
und dafür sind Möller Kränze zu flechten:
„Schluss-Scham? […] Wer ‚Bekenntnisse’ ankündigt und dann nicht mehr zu
bieten hat als ein paar harmlose Bruckner-Elevationen – dem steht ein bisschen
Scham wohl an […]. Doch halt! Dafür, dass meine Vita Classica nur so strotzt
vor Harmlosigkeit, schäme ich mich gar nicht. […] Wer sagt, dass Bruckner-Elevationen
weniger wert sind, nur weil sie unter das Verdikt ‚brav’ fallen? Vielleicht
ist die Welt ja so eingerichtet, dass es Elevationen gibt, die nur den Braven
vorbehalten sind? […] Außerdem scheint mir, dass die Harmlosigkeit ein
schönes Privileg […] meiner ganzen Milchbubi-Generation [ist]. Uns ist
vergönnt, im Paradies musikalischer Parallelwelten zu leben; im friedlichen
Europa dürfen wir Dauerfestivalgäste sein, die sich an musikalischen
Geschmacksfragen abarbeiten – „Ästhetizismus“ hieß es noch vor hundert
Jahren, Schönwetterfußballer wäre ein aktuellerer Ausdruck.“ (457)
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