Erschienen in Ausgabe: No 54 (8/2010) | Letzte Änderung: 31.07.10 |
von Heike Geilen
"Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was
erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen."
(Matthias Claudius [1740-1815]).
Viele
Schriftsteller - so auch Johann Wolfgang von Goethe - fassten die Lust und den
positiven Bildungseffekt einer Reise in Worte: "Die Reise gleicht einem Spiel; / es ist immer Gewinn und Verlust dabei,
/ und meist von der unerwarteten Seite; / man empfängt mehr oder weniger, als
man hofft. / Für Naturen wie die meine ist eine Reise unschätzbar: / sie
belebt, berichtigt, belehrt und bildet."
In
Olli Jalonens neuem Roman, der für den Finlandia Prize nominiert war und
dessen Werk nun erstmals kongenial von Stefan Moster ins Deutschen übertragen
wurde, geht es gleichfalls um eine Reise oder eher um einen Wettbewerb, einen
sehr ungewöhnlichen noch dazu. Zu Ehren des 350. Geburtstag des Astronomen und
Kartografen Edmond Halley, der schon als 22-jähriger zu Ruhm und Ehren
gelangte, als er auf St. Helena die Positionen von 341 Sternen des südlichen
Himmels vermaß, machen sich zwölf Teams auf, entlang des Nullmeridians - „From
Greenwich to Greenwich“ - die Erde in einem Jahr zu umrunden. Erlaubt sind
dabei nur Fortbewegungsmittel, die es zu Halleys Zeiten gab: per pedes im Landesinneren,
mit einem Segelboot auf dem Wasser und mittels Luftschiff für die unwegsamsten
Gebiete der Polarregionen und politisch brisante Gebiete in Afrika. Außerdem
ist es nicht erlaubt, elektronische Geräte zu benutzen. „Die Verpflichtung, sich von der modernen Zeit loszusagen, war eine
Simulation des 18. Jahrhunderts und eine Huldigung an Halley.“
Team Nummer 6,
bestehend aus zwei finnischen Brüdern und einem britischen Ehepaar, begleitet
der Autor auf dieser Erdumrundung, dem die zündende Idee zu seinem Roman auf
Napoleons Verbannungsinsel St. Helena kam und der für die Recherche
unglaubliche 90 000 Kilometer bewältigte.
„Die Welt ist ziemlich klein. Man muss nur einen Entschluss
fassen und aufbrechen.“, vermerkt Kari, der als letzter zu dem Team stößt,
eigentlich um seinem Bruder Petr die Nachricht vom Tod ihres Vaters zu
überbringen und die Erbschaft zu regeln, letztendlich aber die Reise bis zum
Ende mit den anderen absolviert. Zwei Teammitglieder haben eine Schnur um den
Hals, die eine feine Ortungselektronik enthält und deren 14 farblich
unterschiedliche Knoten wie ein Stempelsystem beim Orientierungslauf fungieren.
Mittels vager Andeutungen und Rätsel müssen nur noch die „Stempelstellen“ auf
der Erde gefunden werden. Doch was anfänglich wie eine interessante
Herausforderung ausschaut, wird schnell zum Grenzwert der eigenen
Möglichkeiten. „Weit über die Hälfte der
Strecke bestand aus Meer, mehr als ein Viertel aus Eis und Schnee. Bewohntes
Land entfiel auf den Meridian am wenigsten, kaum siebentausend Kilometer, und
Europa wurde von der Linie nicht einmal zu vier Prozent berührt.“
Jalonen hat
seine Erzählung als raffiniertes Konstrukt unterschiedlichster Sichtweisen
entworfen. Mittels Logbucheinträge der Teammitglieder, Gedankenbruchstücken
Petrs und den ausformulierenden Passagen Karis - ein Sammeln von
Bedeutungssplittern, deren eigentliche Tragweite erst gegen Ende des Romans
offensichtlich wird - bewegt er sich langsam und bedächtig Meile für Meile mit
den vier Abenteurern und dem Leser auf dieser strapaziösen Tour voran. Gerade
mit seiner unaufgeregten Erzählweise dringt er ganz tief in das Innere der
Menschen und das Befremdliche mancher Gegenden ein. Stück für Stück entsteht
dadurch eine eigene, logische Wahrheit. „Die
Zeiten lagern sich Schicht für Schicht übereinander. Wenn man sich erinnert,
erinnert man sich an Blätter auf einem Stoß: Es werden Löcher hineingebrannt,
in immer anderen Formationen, und dann werden kurz unterschiedliche Teile
sichtbar (...) die Dinge gerieten schneller miteinander in Zusammenhang“.
Der Duktus von
Olli Jalonen offenbart wieder einmal mehr die typische Erzählweise vieler
nordischer, vor allem finnischer Autoren. Ruhig, gelassen und neutral, öffnet
er Räume und erschafft auf eine subtile Art und Weise Entfremdungsszenarien
mitten in den Alltag und potenziert diese noch, obwohl sie zunächst realistisch
und gänzlich neutral daherkommen. Meisterhaft schiebt er kleine Partikel von
ganz weit hinten ins Bewusstsein, mischt und verrückt sie, sodass sie anders
verstanden werden. Der Leser selbst befindet sich in der Mitte und die
Gedankenpartikel strömen zusammen. Allerdings erfordert die Lektüre ein
gewisses eigenständiges Innehalten und Eintauchen in die ungewöhnliche
Erzählweise. Aber mit fortschreitender „Breitengradenüberschreitung“ gelingt
dies immer besser. „Das Künftige kann man
nicht sehen; dort, wo man sich gerade befindet, kann man nur Rand und Schleier
des Kommenden greifen.“
Fazit:
Vier
Menschen auf engstem Raum und ohne technische Hilfsmittel umrunden den Nullmeridian
der Erde. Olli Jalonens Roman gewährt tiefe Innensicht in den Menschen als
eigenes Individuum und zeigt auf, wie wenig wir uns doch eigentlich wichtig
nehmen sollten im Gesamtkreislauf der Erde.
„So schnell
wird der Mensch ein bisschen ein anderer, auch wenn er von sich selbst nicht
loskommt. (...) Von dem, was früher war, kommt man nicht los, aber man kann es
zur Seite schieben, damit es keinen Schatten wirft, vorausgesetzt, im Neuen ist
man bei sich und es gibt genügend Licht und Gutes.“
„Sehnsucht ist
die Summe der Welt.“ (aus „Vierzehn Knoten bis Greenwich“)
Olli
Jalonen, Vierzehn Knoten bis Greenwich, Das Leben der Else Lasker-Schüler, Mare
Verlag, Hamburg (März 2010), 463
Seiten, Gebunden, ISBN-10:
3866481241, ISBN-13:
978-3866481244, Preis:
22,00 EURO
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