Erschienen in Ausgabe: No 54 (8/2010) | Letzte Änderung: 31.07.10 |
von Helmut Hansen
»Es scheint, dass es Physik überhaupt nur geben kann,
weil sie ein offenes Tor hat zur Metaphysik.«
Carl Friedrich von Weizsäcker
Einführung
Seit jener Zeit, da Galileo Galilei durch sein
Fernrohr blickte und als erster Mensch die Monde des Jupiters entdeckte, hat
die Naturwissenschaft eine rasante Entwicklung genommen. Sie hat innerhalb von
nur vier Jahrhunderten nahezu alle Wirklichkeits-bereiche aufklären können. Wir
kennen nicht nur den Aufbau der Materie, wir wissen auch um das Geheimnis des
Lebens. Mittlerweile sind wir sogar fähig, so tief in den kosmischen Raum
hineinzublicken, dass wir aus der »Glut der Schöpfung« zu lesen vermögen.
Dieser atemberaubende Erfolg hat dazu geführt, dass sich die Naturwissenschaft zu
einer der dominierendsten Erkenntnis-methoden auf unserem Planeten entwickelt
hat.
Doch bei all diesem Erfolg ist ein Bereich der
Wirklichkeit bis heute naturwissenschaftlich vollständig unaufgeklärt
geblieben: Es ist das Transzendente. Über diesen Bereich wissen wir
nahezu gar nichts. Alles Wissen verliert sich im Dunkel der Zeit. Es ist in
Texten aufge-zeichnet, deren metaphysischen Aussagen über das Transzendente
ebenso vieldeutig wie diffus sind.
Trotz dieses fehlenden objektiven Wissens bestimmt
der Glaube an die Existenz dieses Bereiches das Denken und das Verhalten von
mehr als zwei Milliarden Menschen. Dieser gläubige Teil ist nicht nur
davon überzeugt, dass das Transzendente der letzte und eigentliche Grund der
Welt ist, er glaubt auch verbindlich zu wissen, was es mit ihm auf sich hat und
in welcher Beziehung er zu uns und dem Universum steht.
Dies ist eine der großen Paradoxien unserer Zeit.
Gerade der Bereich der Wirklichkeit, der von einem nicht unerheblichen Teil der
Menschheit als die eigentliche Grundlage der Naturwissenschaften aufgefasst
wird, ist bis heute naturwissenschaftlich unaufgeklärt geblieben. Dies
hat dramatische Folgen für unsere globale Welt, denn gerade dieser zentrale
Part der Wirklichkeit ist nach wie vor mit all jenen irrationalen Vorstellungen
und Erwartungen befrachtet, die wir mit Hilfe der Naturwissenschaft in allen
anderen Wirklichkeitsbereichen erfolgreich haben überwinden können. Und nicht
selten entlädt sich dieser bisweilen zum Wahnsinn entartete Glauben in todbringenden
Handlungen.
Diese zutiefst irrationalen Handlungen sind in der
Tat das letzte Stück Mittelalter in unserer ansonsten aufgeklärten modernen
Welt. Sie sind getrieben von dem, was der Biologe Richard Dawkins in seinem
gleichnamigen Buch zu Recht als »Gotteswahn« bezeichnet hat.
Angesichts dieser bedrohlichen Situation erscheint
der Ruf nach einer »Zweiten Aufklärung« als ein Gebot der Stunde - und dieses
um so mehr als eine der mächtigsten Institutionen der Welt – die
Römisch-Katholische Kirche – mit dem Anspruch auftritt, bereits religio
vera, d.h. aufgeklärte, vernünftige Religion, zu sein. [1]
Sie begründet diesen Vernunftsanspruch wesentlich
mit ihrer erklärten Bindung an die Metaphysik. Doch bis zum heutigen Tage waren
die durch die »klassische« Metaphysik begründeten Aussagen über den
gemutmaßten transzendenten Grund der Wirklichkeit wie auch seine Beziehung zum
physikalischen Universum in wissenschaftlicher Hinsicht so extrem vage und
unbestimmt, dass dieser Anspruch auf Vernünftigkeit niemals ernsthaft
herausgefordert worden ist.
Diese Erkenntnissituation ließe sich dann und nur
dann nachhaltig verändern, wenn man Metaphysik auf eine Weise betreiben könnte,
die den üblichen wissenschaftlichen Erkenntnisstandards genügte. Doch gerade
diese Möglichkeit wird heutzutage bestritten. Man ist vielmehr allgemein davon
überzeugt, dass Metaphysik als Wissenschaft prinzipiell unmöglich ist. Diese
Überzeugung ist mittlerweile eines der bestimmendsten Dogmen der Postmoderne.
Sie hat ihren Ursprung in Kant’s Kritik der Reinen Vernunft. 1781
erschienen, führte sie innerhalb weniger Jahrzehnte dazu, dass die Metaphysik
ihre zentrale Rolle im wissenschaftlichen Diskurs des Abendlandes nahezu
vollständig einbüßen sollte.
Kant hatte mit seiner Kritik überzeugend
zeigen können, dass alle traditionellen Argumentationsfiguren, die dem Beweis
der Existenz des Transzendenten galten, auf einem empirisch nicht gedeckten
Grenzübergang beruhten und als solches gerade jener Legitimation entbehrten,
wie sie für das Wesen von Wissenschaft kennzeichnend ist. Kants
erkenntniskritische Analyse war trotz ihres sprachlich unzugänglichen Jargons
philosophisch so wirkungsmächtig, dass sie ihm Ruf einbringen sollte,
»Zertrümmerer der Metaphysik« zu sein.
Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass
diese Analyse keineswegs die Schlussfolgerung erlaubt, Metaphysik sei als
Wissenschaft unmöglich, denn sie beruht auf einer epistemo-logischen Forderung,
die durch die moderne Wissenschaftspraxis längst als viel zu restriktiv aufgegeben
worden ist. Sie beruht nämlich auf der Forderung, nur das als existent
anzuerkennen, was unmittelbar beobachtbar ist. Sie beinhaltet als
solches die erkenntnis-theoretisch sehr weitreichende Forderung, dass jeder
Aspekt einer physikalischen Theorie sich zu jedem Zeitpunkt auf beobachtbare
Größen beziehen müsse. Eine physikalische Theorie, die dieser Forderung genügen
wollte, dürfte demnach keinerlei Aspekte enthalten, die grundsätzlich nicht
beobachtbar sind.
Eben diese erkenntnistheoretisch ultrarestriktive
Forderung, die wir heute als positivistisch bezeichnen, ist jedoch
seit Beginn der 60er Jahren mit der Entwicklung der Theorie der Quarks
innerhalb der modernen Physik unumkehrbar aufgegeben worden, denn es besteht
grundsätzlich keinerlei Möglichkeit, Quarks jemals als freie Teilchen
beobachten zu können. Wir haben lediglich die Möglichkeit, ihre Existenz mittelbar
nachweisen zu können – anhand ihres spezifischen Verhaltens. So besitzen
Quarks die sonderbare, aber für sie charakteristische Eigenschaft, dass die
Kräfte abnehmen, sobald sie einander näher kommen. Da man dieses als
»asymptotische Freiheit« bezeichnete Verhalten von Quarks bei der Streuung
hochener-getischer Teilchen empirisch hat nachweisen können, gilt die Existenz
von Quarks – obwohl nur mittelbar beobachtbar - heute als
wissenschaftlich »bewiesen«.
Physiker, wie z.B. Steven Weinberg, sehen in der
Einführung solcher grundsätzlich unbeobachtbaren Entitäten, wie z.B. freier
Quarks, das unvermeidliche Ergebnis des fortschreitenden physikalischen
Erkenntnisprozesses, da die Physiker bei ihrem Bemühen, das Fundament der
Wirklichkeit zu verstehen, in immer entrücktere Bereiche vorgedrungen seien;
Bereiche, deren theoretische Repräsentation nur noch sehr mittelbar zur
Beobachtungsebene in Beziehung stünden. Weinberg hält es daher für
unwahrscheinlich, dass die positivistische Erkenntnistheorie bei der
zukünftigen Entwicklung der Physik sehr viel weiterhelfen wird. Unbestritten
bleibt natürlich auch für ihn die Forderung, dass eine Theorie, die
wissenschaftlich sein will, sich letztlich der Beobachtung zu
stellen hat. [2]
Legen wir bei der Frage nach der Möglichkeit von
Metaphysik als Wissenschaft diese moderne Forschungspraxis zugrunde, dann
wird das Kant’sche Verdikt wider die Metaphysik hinfällig, denn wenn wir
erkenntnistheoretisch nicht genötigt sind, das Transzendente selbst nachweisen
zu müssen, dann steht uns die Möglichkeit offen, systematisch zu untersuchen,
wie sich das Transzendente innerhalb des sichtbaren Universums auf mittelbare
Weise bemerkbar gemacht haben könnte.
Doch gerade die transzendente Natur des von der
Metaphysik behaupteten Gegenstandsbereiches hat bisher ihre Etablierung als
wissenschaftlicher Disziplin im Wege gestanden hat. Dass Transzendenz in
wissenschaftlicher Hinsicht eine ernste Heraus-forderung für die Entwicklung
einer modernen Metaphysik darstellt, ist unmittelbar einsichtig: Wenn das
eigentliche Fundament unseres Universums wirklich transzendenter Natur ist,
dann verfügen wir per se über keinerlei empirische Daten, die uns
zeigen, in welcher Richtung eine mögliche Theorieentwicklung den größten Erfolg
verspricht. Dieser eklatante Mangel an Daten hat in der Vergangenheit, wie die
Geschichte zeigen sollte, zu einer unübersehbaren und verwirrenden Vielfalt
metaphysischer Theorien geführt, die jedoch allesamt weit hinter den
Erkenntnisansprüchen der neuzeitlichen Physik zurückblieben. Keines der in
jener Zeit entwickelten Erkenntnissysteme erlaubte die Formulierung präziser
Aussagen darüber, wie die Existenz des von der Metaphysik behaupteten
Forschungsgegenstandes empirisch prüfbar sein könnte.
Dies war die intellektuelle Situation, auf die Kant
Mitte des 18. Jahrhunderts stoßen sollte und die er zu Recht als tumultuarisch
bezeichnete. Er hoffte durch eine Bestimmung des wissenschaft-lichen
Geltungsbereiches von Metaphysik diesen Tumult beenden zu können und der so
gereinigten Metaphysik einen Weg in die Zukunft zu ebnen – mit, wie wir wissen,
unerwartet fatalen Folgen. Seine Arbeit führte zu dem bislang als irreversibel
erscheinenden »Ende von Metaphysik«. Seither ist nie wieder der Versuch
unternommen worden, Metaphysik als Wissenschaft betreiben zu wollen.
Es ist klar, dass eine Metaphysik sich unter den
gegenwärtig herrschenden Erkenntnisbedingungen nur dann modern nennen
kann, wenn sie von Anfang an eine erklärte Bindung zur wissenschaftlichen
Methode eingeht. Dies bedeutet, dass eine moderne Metaphysik von Anbeginn an
bestrebt sein muss, ihre Theorie so zu entwickeln, dass die sie
konstituierenden Aussagen empirisch prüfbar sind. So und nur so kann sie in
einer sich technisch-wissenschaftlich verstehenden Welt erfolgreich sein.
Als sich der Physiker Albert Einstein zu Beginn des
20. Jahrhunderts mit der Brown’schen Bewegung auseinandersetzte, war die Existenz
von Atomen noch umstritten. Es gab zu jener Zeit noch keinerlei Möglichkeit,
sie in irgendeiner Weise beobachten zu können. Einstein war jedoch davon
überzeugt, dass die Brown’sche Bewegung durch die Existenz von herumwirbelnden
Atomen verursacht war.
Als er sich mit diesem speziellen Bewegungsmuster –
der unaufhörlich andauernden, aber scheinbar regellosen Bewegung von
Pollenkörnern in wässrigen Suspensionen - eingehender befasste, war sein Ziel
jedoch nicht nur die Entwicklung einer rational begründeten Atom-Theorie, er
verfolgte auch ganz ausdrücklich das Ziel, einen mittelbaren Existenzbeweis von
Atomen führen zu können; ein Ziel, was er schließlich auch erreichen sollte. Er
konnte ein Aussage formulieren, die genau vorhersagte, wie das Brown’sche
Bewegungsmuster im Falle der Existenz von Atomen auszusehen hatte. Diese
Aussage wurde von vielen Physikern als so spezifisch erlebt, dass sie, nachdem
sie drei Jahre später (1908) empirisch bestätigt werden konnte, als
wissenschaftlicher »Beweis« der Existenz von Atomen betrachtet wurde – selbst
von ihren Kritikern, wie z.B. dem Chemiker Wilhelm Ostwald.[3]
Wenn wir die Existenz des Transzendenten
wissenschaftlich beweisen wollen, dann muss unser Ziel ebenfalls darin
bestehen, eine hinreichend spezifische wie auch empirisch prüfbare Aussage zu
finden.
Doch wie findet man eine solche empirisch
prüfbare Aussage, wenn das, was man beweisen möchte, gerade jegliche Empirie
überschreitet? Diese Wie-Frage steht bislang – seit mehr als zwei
Jahrhunderten - unbeantwortet im Raum. Wann immer metaphysische Fragestellungen
thematisiert werden, erscheint fast reflexartig diese Wie-Frage: Wie ist
Metaphysik als Wissenschaft möglich? Seit Kant’s Veröffentlichung der
Kritik der Reinen Vernunft irrlichtert diese Frage durch das
abendländische Bewusstsein. Die meisten Philosophen sind durch diese Frage so
sehr gefangen, dass sie niemals damit beginnen, wirklich Metaphysik zu
betreiben. Doch diese Frage ist, philosophisch gesehen, eine Sackgasse.
In Wahrheit lautet die Frage nicht: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft
möglich?, sondern Wo ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? [4]
Wenn wir den letzten und eigentlichen Grund der
Wirklichkeit ganz erklärtermaßen als transzendent auffassen, dann kann sich die
gesuchte Aussage zwangsläufig nur auf ein innerhalb des sichtbaren,
physikalischen Universums gelegenen Gebiet beziehen, denn nur hier sind
grundsätzlich empirische Daten zu erwarten. Für ein Etwas, das seiner
inneren Natur nach transzendent ist, kann es per se keinerlei empirische Daten
geben.
So trivial diese Überlegung zunächst erscheinen
mag, sie lenkt unseren Blick, wenn wir von der Möglichkeit von Metaphysik als
Wissenschaft zutiefst überzeugt sind, früher oder später auf ein ganz
spezifisches Gebiet, welches uns zeigt, wo ein wissenschaftlicher Beweis des
Transzendenten überhaupt nur geführt werden kann. Es handelt sich
um jenes innerweltliche Gebiet, welches sich unmittelbar an der Schwelle zum
Transzendenten befindet. Was dieses Gebiet metaphysisch auszeichnet, sind
gerade zwei spezielle Bedingungen, die nirgendwo sonst im sichtbaren,
physikalischen Universum angetroffen werden können.
Zum einen ist dieses Gebiet dem Transzendenten erkenntnis-theoretisch
so nahe, dass man dort befindliche Strukturen begrifflich einigermaßen
verlässlich als »Schattenriss« desselben identifizieren kann. In allen anderen
Gebieten des physikalischen Universums, wie z.B. dem Leben, dürfte die
Beziehung zum Transzendenten in begrifflicher Hinsicht sehr viel diffuser und
uneindeutiger ausfallen.
Zum anderen befindet sich dieses spezielle Gebiet
trotz seiner Nähe zum Transzendenten noch im sichtbaren Universum. Wenn es also
dieses Gebiet gibt, dann dürfen wir auch mit einiger Berechtigung von der
Existenz entsprechender empirischer Daten ausgehen.
Wenn es uns nun gelänge, den in diesem Gebiet
vermuteten »Schattenriss« des Transzendenten – die Signatur Gottes -
begrifflich zu präzisieren, dann müsste sich dieser Schattenriss, wenn unser
Universum tatsächlich auf einem transzendenten Grund basieren würde, auch
anhand spezifischer empirischer Daten nachweisen lassen.
Eben diese beiden Bedingungen machen dieses
»Schwellengebiet« zu einem metaphysisch bevorzugten Forschungsgebiet. Wenn es
einen »Ort« im physikalischen Universum gibt, wo Metaphysik als Wissenschaft
möglich ist, dann ist es zweifellos dieses Gebiet an der Schwelle zwischen dem
Sichtbaren und dem Unsichtbaren.
Es ist einigermaßen überraschend, festzustellen,
dass es bereits zahlreiche Denker gegeben hat, die in dieses weit entrückte
Gebiet des Universums vorgedrungen sind – und dies zu einer Zeit, als es die
Wissenschaft in der uns vertrauten Form noch gar nicht gab. Da sie sich jedoch
einer sprachlich bisweilen antiquierten Form (wie auch ihrer fehlenden
Formalisierung) bedienen, werden sie aus heutiger Sicht oftmals als verquastes
metaphysisches „Geraune“ verkannt. Daher ist bis heute auch noch kein
zeitgenössischer Physiker oder Philosoph systematisch der Frage
nachgegangen, ob es nicht für die eine oder andere auf dieses spezielle Gebiet
bezugnehmende Aussage ein empirisches Äquivalent innerhalb des von uns
beobachteten Universums geben könnte.
Gleichwohl geht von diesen Aussagen noch so viel
schwelende Erkenntnisglut aus, dass sie auch heute noch – nach vielen
Jahrhunderten – das Interesse von Theologen, Philosophen und Philologen
erregen. Es ist allein diesem Interesse zu verdanken, dass wir über diese
Aussagen und ihre Entstehungsbedingungen beinahe genauso viel wissen wie
beispielsweise über Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie .
Was diese Aussagen vor anderen Aussagen der
klassischen Philosophie auszeichnet, ist gerade ihre besondere
erkenntnis-theoretische Nähe zur Gottesfrage. Sie zielen als solches von ihrer
Intention her auf die Beantwortung der Frage nach der letztendlichen Natur der
Wirklichkeit.
Es gibt sicherlich keine Periode im abendländischen
Denken, in dem um diese Antwort intensiver und nachhaltiger gerungen wurde als
in jener Epoche, die wir heute als Renaissance bezeichnen. Eine
der vielleicht bemerkenswertesten Aussagen aus dieser Zeit ist die „Koinzidenz
des Kleinsten und des Größten“.
Coincidentia
Oppositorum – Wissenschaftlich
relevant?
In begrifflich dezidierter Form finden wir diese
Aussage (lat. coincidentia oppositorum) erstmals in dem Werk De Docta
Ignorantia (dt. Über die Belehrte Unwissenschaft), welches 1440 von Nikolaus
von Kues veröffentlicht worden ist. Sie galt ihm als die
entscheidende Schlüsselerkenntnis über die Natur Gottes. Nikolaus von
Kues machte mehrmals deutlich, dass diese Erkenntnis mit Blick auf ein
Verständnis der wahren Natur Gottes einen intellektuellen Durchbruch
ohnegleichen darstellen würde. Aus seinem Werk wissen wir auch um die besonderen
Bedingungen, unter denen er zu dieser Erkenntnis vorgestoßen ist.
Offenbar ist ihm diese Erkenntnis auf offener See im
Angesicht der Weite des Meeres zuteil geworden, als er sich im Frühjahr 1438
auf der Heimreise von Konstantinopel nach Venedig befand. Im Herbst zuvor
war er auf Geheiß von Papst Eugen IV. nach Konstantinopel aufgebrochen, um
führende Vertreter der byzantinischen Ostkirche nach Italien zu holen – in der
Absicht, auf dem geplanten Unionskonzil in Ferrara die ursprüngliche Einheit
der Kirche wieder herzustellen. [5]
Und in der Tat: So einfach und unscheinbar diese
Aussage auch zunächst aussehen mag, sie zeigt in einer äußerst kompakten und
begrifflich stringenten Form, wie man das Transzendente innerhalb des
sichtbaren physikalischen Universums so „codieren“ kann, dass es als sein
»allgegenwärtiger« Grund aufgefasst werden kann, während es zur gleichen Zeit
von niemandem innerhalb des Universums »gesehen« werden kann.
Obwohl Nikolaus von Kues, wie seine eigenen
Kommentare erkennen lassen, um diese bemerkenswerte Aussageleistung
gewusst hat, erscheint sie uns Heutigen in der von ihm gewählten Form vielfach
als dunkel und vage. Wenn er beispielsweise davon spricht, er habe das
Unbegreifliche in nicht begreifender Weise erfasst, dann klingt dies für
moderne Ohren mehr nach Unsinn als nach Tiefsinn.
Doch so unsinnig diese Aussage auch klingen mag,
ihr liegt, wie eine Textexegese seiner De Docta ignorantia sehr schnell
zeigt, ein ebenso klares wie durchdringendes Verständnis über die Schnittstelle
zwischen dem Transzendenten und dem sichtbaren physikalischen Universum
zugrunde. Doch der einfachste Weg, sich diesem Verständnis anzunähern, besteht
darin, die Aussage selbst »sprechen« zu lassen. Ihre begrifflichen und
konzeptionellen Bestimmungen liefern hierzu alles Notwendige.
Beginnen wir mit den beiden rein begrifflichen
Elementen: dem Kleinsten und dem Größten. Diese beiden Elemente
enthalten in der Tat alles, um ein wie auch immer geartetes Etwas als
„allgegenwärtig“ aufzufassen zu können: Wäre etwas das Kleinste, dann könnte
es in allem enthalten sein. Wäre es zugleich das Größte, dann könnte es
auch alles umfassen. Ein Etwas, welches in allem enthalten wäre und alles
umfassen würde, wäre mithin allgegenwärtig.
Um diese durch die beiden Begriffe des Kleinsten
und des Größten vermittelten Möglichkeitsbedingungen von Allgegenwart
jedoch einlösen zu können, bedarf es einer weiteren Bedingung: Beide
begriffliche Bestimmungen müssen auch rational als kennzeichnende Merkmale ein-
und derselben Entität legitimiert sein, denn beide Bestimmungen für sich
genommen reichen nicht aus, um die Eigenschaft der Allgegenwart überzeugend
»codieren« zu können.
Wäre etwas nur das Kleinste, dann würde es nichts
von dem, was das sichtbare Universum ausmacht, umfassen, denn etwas Kleineres
als das Kleinstes kann es schlechterdings nicht geben. Wir hätten es folglich
mit einer Wirklichkeit zu tun, in der das Transzendente und das sichtbare
Universum in einem einzigen Punkt miteinander verschmolzen wären.
Wäre etwas nur das Größte, dann könnte es zwar – im
Gegensatz zum Kleinsten – Alles im sichtbaren Universum umfassen, es
könnte aber in nichts von diesem enthalten sein, da es innerhalb des
physikalischen Universums etwas Größeres als das Größte schlechterdings nicht
geben kann.
In einer solchermaßen charakterisierten
Wirklichkeit wäre das Universum zwar unendlich groß, aber das Transzendente
stünde in keinerlei Beziehung zu ihm, da es in seiner Eigenschaft als
das Größte in nichts von diesem enthalten wäre. Es wäre mithin nicht
möglich, das Transzendente als den Grund eben dieses Universums anzusprechen.
Wie wir sehen, führen beide begriffliche
Bestimmungen, wenn sie disjunkt bleiben, zu einem metaphysisch ebenso
restriktiven wie irrealen Bild von der Wirklichkeit. Es bedarf daher einer
Vorschrift, die diese beiden begrifflichen Bestimmungen nicht nur miteinander
verbindet, sondern sie überdies als Ausdruck ein- und desselben Agens
ausweist. Eben diese Möglichkeit eröffnet das konzeptionelle Element der Koinzidenz:
Weisen zwei Bestimmungen eine Koinzidenzbeziehung auf, dann ist es möglich,
diese Koinzidenz als das Ergebnis ein- und derselben Ursache deuten zu können.
Das konzeptionelle Element der Koinzidenz liefert mithin eine rationale
Rechtfertigung dafür, die beiden begrifflichen Bestimmungen des Kleinsten und
des Größten ein- und derselben Entität zuschreiben zu können. Folgen wir
dieser Zuschreibung, dann ist es möglich, auf der Grundlage der „Koinzidenz des
Kleinsten und des Größten“ ein wie auch immer geartetes Etwas als
allgegenwärtigen Grund des sichtbaren Universum auffassen zu können, denn ein
Etwas, das in allem enthalten ist und zugleich alles umfasst, ist
allgegenwärtig. Doch ist auch die Transzendenz dieses allgegenwärtigen
Grundes sichergestellt? Ist also sichergestellt, dass dieser Grund von einer
innerweltlichen Warte her unbeobachtbar bleibt?
Es zeigt sich, dass die so beschriebene Entität in
der Tat unsichtbar wäre, denn mit den Begriffen des Kleinsten und des
Größten ist der letztmögliche Unterschied, den das sichtbare Universum
gerade noch aufweisen kann. Wir haben es in beiden Fällen mit unübersteigbaren
räumlichen Extrema zu tun. Es kann prinzipiell keine räumlichen
Bestimmungen geben, die über das Kleinste und das Größte hinausgehen. Deutlich
wird dies vor allen Dingen dann, wenn wir diese beiden Bestimmungen
entsprechend ihren begrifflichen Vorgaben »formalisieren«: Setzen wir für das
Kleinste R = 0 und für das Größte R = ¥,
dann ist unmittelbar erkennbar, dass es, räumlich gesehen, weder etwas geben
kann, dass kleiner als ein Punkt ist, noch dass die Existenz eines Raumes
denkbar ist, der größer als unendlich groß ist. Daher führt die
Aufhebung (i.e. Koinzidenz) des durch diese beiden Begriffe begründeten
letztmöglichen Unterschiedes in Richtung ihrer bedingenden Ursache unabweisbar
auf eine grundlegend unsichtbare Sphäre, denn die Eigenschaft der
Sichtbarkeit ist untrennbar mit der Eigenschaft der Unterscheid-barkeit
verknüpft.
Wie diese Überlegungen zeigen, haben wir es in
Gestalt der Koinzidenz des Kleinsten und des Größten mit einem philosophisch
äußerst kompakten Konstrukt zu tun. Es zeigt in rational nachvollziehbarer
Form, welche spezielle Bedingung ein physikalisches Universum erfüllen muss,
wenn sein eigentlicher Grund so beschaffen sein soll, dass er allgegenwärtig
ist und dennoch nicht gesehen werden darf.
Dieses Konstrukt liefert als solches eine äußerst
bündige philosophische Antwort auf die uralte, theologisch bis heute nicht
befriedigend beantwortete Frage: Wenn Gott überall ist, warum sehen wir ihn
dann nicht?
Was der durch die Koinzidenz des Kleinsten und des
Größten gegebenen Antwort eine enorme physikalische und philosophische Wucht
verleiht, ist jedoch nicht allein diese Antwort, sondern vor allem der Umstand,
dass wir es mit einer empirisch prüfbaren Aussage zu tun haben.
Obwohl der implizite Aspekt dieses Konstruktes mit dem Aufweis einer
unsichtbaren Sphäre erkennbar nicht-empirischer Natur ist, für seinen expliziten
Aspekt gilt dies nicht. Er bezieht sich, wie seine äußere sprachliche Gestalt
zu erkennen gibt, auf das sichtbare Universum. Dieser Aspekt beinhaltet,
physikalisch gewendet, die Aussage, dass ein Universum mit
unsichtbarem Grund an seinen äußersten Grenzen - im Kleinsten wie im
Größten – notwendig eine empirische Koinzidenz aufweisen muss.
Die von Nikolaus von Kues vor mehr als fünf
Jahrhunderte formulierte Aussage beinhaltet folglich die Option, die Urfrage der Philosophie – die Frage nach der Existenz
einer transzendenten Sphäre – empirisch überprüfen zu können; eine
Option, nach der wir mehr als zwei Jahrtausende vergeblich gesucht haben. Dass
sie diese Option in sich birgt, verdankt sie ihrem erkenntnistheoretisch
»hybriden« Charakter: Sie verknüpft das Transzendente mit dem Immanenten in
einer solchen Weise, dass sie in begrifflich eindeutiger Weise als »Signatur
Gottes« identifizierbar ist. Es spricht einiges dafür, dass Kant mit der von
ihm metaphysisch favorisierten Klasse synthetischer Urteile a priori
solche hybriden Aussagen resp. Urteile im Auge hatte.
Die entscheidende Frage, die sich angesichts dieser
Option stellt, ist natürlich die: Weist unser Universum an seinem äußersten
Rand eine solche Koinzidenz auf? Es gibt signifikante Hinweise, dass dies
tatsächlich der Fall ist.
Der unheimliche
Befund
Physiker haben bereits vor einiger Zeit entdeckt,
dass der »Trägheitskompass« und der »Sternenkompass« eine
auffällige Koinzidenz aufweisen; ein Befund, den der Physiker Friedrich Hund in
seinen Lehrbüchern zur Physik schon in den siebziger Jahren als unheimlich bezeichnet
hat. [6]
Mittlerweile ist diese empirische Koinzidenz im
Zuge der fortschreitenden Sternenkatalogisierung (Hipparcos) mit einer
bemerkenswerten Genauigkeit von 2.5 x 10-4 arcsec/yr gemessen
worden. Bei dieser empirischen Koinzidenz handelt es sich bezeichnenderweise um
eine Anomalie, die sich bislang jeglicher überzeugenden physikalischen
Erklärung entzogen hat. [7]
Was diese empirische Koinzidenz in metaphysischer
Hinsicht auszeichnet, ist gerade der Umstand, dass die beiden Kompasse räumlich
auf das sehr Kleine und das sehr Große Bezug nehmen. Die
Koinzidenz von Trägheits- und Sternenkompass korrespondiert als solches signifikant
mit der metaphysisch prognostizierten »Koinzidenz des Kleinsten und des
Größten«.
Ob und inwieweit diese Korrespondenz allerdings ausreicht,
um diese empirische Koinzidenz wirklich als empirisches Äquivalent der
Koinzidenz des Kleinsten und des Größten rechtfertigen zu können, ist noch
unklar. Diese Unklarheit hängt u.a. mit der Tatsache zusammen, dass wir nur
einen kleinen Teil des Universums überblicken können. Es stellt sich daher
zwangsläufig die Frage, ob wir die hier getroffene Deutung, die sich lediglich
auf diesen von uns beobachtbaren Teil des Universums bezieht, auch auf das
Universum als Ganzes ausdehnen können. Erst diese Möglichkeit gäbe uns
die Rechtfertigung für diese Deutung, denn von ihrem Begriff des Größten
her zielt sie auf das ganze Universum.
Es sei an dieser Stelle
jedoch angemerkt, dass sich nicht nur die hier formulierte metaphysische
Aussage diese Frage gefallen lassen muss, tatsächlich ist jede Aussage von
kosmologischem Rang dieser Frage ausgesetzt. Wann immer wir Aussagen über
das ganze Universum machen, sind wir mit dieser Frage konfrontiert – und
da sie bisher wissenschaftlich noch nicht befriedigend beantwortet
werden konnte, haftet allen kosmologischen Aussagen ein gewisses Maß an
Unsicherheit an.
Trotz dieser inhärenten Unsicherheit genießen die
von der Kosmologie formulierten Aussagen mittlerweile dennoch denselben
erkenntnistheoretischen Status wie Aussagen anderer Wissenschafts-disziplinen.
Die moderne Kosmologie zählt gegenwärtig zu den lebendigsten Forschungsgebieten
der modernen Physik. Sie bedient sich ebenso wie andere Disziplinen modernster
Forschungsmittel.
So wurde am 18. November 1989 ein
Satellit namens COBE (Cosmic Background Explorer) ins
All geschossen – mit dem Ziel, die kosmische Hintergrundstrahlung, also jene
Glut, die beim Urknall erzeugt worden ist und heute noch das gesamte Universum
durchdringt, mit einer noch höheren Genauigkeit zu messen. Aufgrund von
quantentheoretischen Fluktuationen vermutete man winzige Abweichungen von der
mittleren, bei 2,7 Grad Kelvin liegenden Strahlungstemperatur;
Abweichungen, die dann tatsächlich durch COBE bestätigt wurden.
2006 wurden die beiden amerikanischen
Physiker John C. Mather und George Smoot für
diese Untersuchungen schließlich mit dem Physik-Nobelpreis geehrt.
Obwohl die vermuteten Abweichungen experimentell bestätigt
wurden, erlauben diese Messungen, um ein Beispiel zu nennen, keine eindeutige
Aussage über die Größe des Universums. Theoretische Untersuchungen der durch
COBE ermittelten Daten lassen durchaus den Schluss zu, dass das Universum
kleiner ist als es aussieht.[8] Trotz der Unklarheit, ob die durch COBE
erlangten empirischen Befunde wirklich für das Universum als Ganzes
repräsentativ sind, wird ihre theoretische Deutung – als frühe Keime der
Galaxienbildung - dennoch wissenschaftlich ernstgenommen.
[9]
Wenn man dieses Recht auch einer modernen
Metaphysik zugesteht, dann haben wir es in Gestalt der metaphysischen Deutung
der empirischen Koinzidenz von Trägheits- und Sternenkompass mit einer
höchst überraschenden und unerwarteten Erkenntnis zu tun; einer Erkenntnis, die
uns einen völlig neuen Blick auf das Universum eröffnet. Wir sind das erste Mal
in unserer Geschichte in der Lage, jene Perspektive einzunehmen, um die der
Physiker Albert Einstein ein Leben lang gerungen hat.
Einstein war zeit seines Lebens darum bemüht
herauszufinden, ob selbst Gott jene Zusammenhänge der Natur nicht anders hatte
festlegen können, als sie tatsächlich waren. In diesem Bemühen sah er das
prometheische Element des wissenschaftlichen Lebens – seinen eigentlichen
Zauber. [10]
In dem die Koinzidenz des Kleinsten und des Größten
auf exemplarische Weise zeigt, wie metaphysische Eigenschaften innerhalb des
physikalischen Universums »codiert« sein könnten, erlaubt sie uns die
Aufklärung gerade jenes Gegenstandsbereiches, den wir traditionell mit dem
Begriff GOTT identifiziert haben. Sie ermöglicht damit die Wahrnehmung genau
jener Zusammenhänge, die, um Einstein zu paraphrasieren, selbst Gott nicht
anders hätte festlegen können.
Mit der Koinzidenz des Kleinsten und des
Größten ist nur einer dieser Zusammenhänge bezeichnet: Sie zeigt lediglich, wie
der »Rahmen« eines physikalischen Universums auszusehen hat, wenn es mit einem
unsichtbaren Grund verträglich sein will. Sie beinhaltet jedoch keinerlei Angaben
darüber, wie das zu diesem Rahmen passende »Bild« des Universums aussieht. Es
ist unmittelbar einsichtig, dass dieses Bild, wenn es nahtlos in diesen
metaphysisch vorgegebenen Rahmen passen will, sehr spezifischen Vorgaben
genügen muss. Es war tatsächlich möglich, dieses passgenaue Bild zu bestimmen.
Es handelt sich um eine geometrische Struktur, die unverkennbar an ein Mandala
erinnert. Erste Untersuchungen dieser archetypischen Struktur zeigen, dass es
sich signifikant von dem »relativistischen« Bild des Universums unterscheidet –
also jenem Bild, wie es von Albert Einstein 1905 in seiner speziellen
Relativitätstheorie beschrieben worden ist.[11][12]
Doch eine moderne Metaphysik hätte nicht nur
weitreichende Folgen für die moderne Physik, sie hätte, was zweifellos sehr
viel schwerwiegender ist, massive Auswirkungen auf das traditionelle Gottesbild.
Fides et Ratio: Der Ruf nach einer modernen Metaphysik
Wie bereits eingangs angedeutet, erhebt die
römisch-katholische Kirche den Anspruch, einen Glauben zu vertreten, der in
völligem Einklang zur Vernunft steht.
Sie begründet diesen Anspruch mit ihrer erklärten Bindung
an die Metaphysik. Diese Bindung beinhaltet die ausdrückliche Überzeugung, dass
Gott der Grund aller Dinge ist. Dies ist von Papst Benedikt XVI mehrfach betont
worden. So schreibt er in seinem Werk Einführung in das Christentum, dassdie frühe Kirche den ganzen Kosmos der antiken Religionen entschlossen
beiseite geschoben und ihn insgesamt als Trugwerk und Blenderei
betrachtet habe. Sie habe in Gott vielmehr das Sein selbst gesehen – also das,
was die Philosophen als den Grund allen Seins betrachten. Nur so sei der
christliche Gott gesehen worden. [13]
Dass dieser Grund durch spezifische Eigenschaften, wie
z.B. die der Unsichtbarkeit, charakterisiert ist, auch dies ist Teil dieser
Überzeugung. So beschreibt Papst Benedikt in demselben Werk den Glauben als
„das Bekenntnis zum Primat des Unsichtbaren als des eigentlich Wirklichen, das
uns trägt und daher ermächtigt, mit gelöster Gelassenheit uns dem Sichtbaren zu
stellen – in der Verantwortung vor dem Unsichtbaren als dem wahren Grund aller
Dinge.“[14]
Was den christlichen Gott von dem Gott der
Philosophen freilich unterscheidet, ist die explizite personale Deutung
dieses unsichtbaren Grundes. Infolgedessen ist Unsichtbarkeit auch keine
temporär unaufhebbare essentielle Eigenschaft dieses Grundes, es ist lediglich
das Ergebnis einer jederzeit aufhebbaren göttlichen Entscheidung. Es steht Gott
daher in jedem Augenblick frei, seine Unsichtbarkeit aufzugeben und sichtbar in
die Welt hineinzuwirken.
Die entscheidende theologische Basis für diese
personale Deutung von Unsichtbarkeit ist die alttestamentliche Erzählung vom
brennenden Dornbusch (Ex 3). Dieser Erzählung zufolge hat sich GOTT an diesem
spezifischen Ort zu dieser spezifischen Zeit nicht nur offenbart, er hat die
Welt wissen lassen, dass Er der letzte und eigentliche Grund der Wirklichkeit
ist.
Papst Benedikt sieht in dieser spezifischen
Selbstaussage (Ex 3, 14) Gottes eine der wichtigsten Klammern, die
Heilige Schrift und Philosophie miteinander verbindet. Sie eröffnet theologisch
die Möglichkeit, diese Selbstaussage Gottes als Wesensaussage aufzufassen, in
und mit welcher sich Gott als metaphysischer Grund der Wirklichkeit zu erkennen
gibt. [15]
Wie ernst es der römisch-katholischen Kirche mit
dieser personalen Deutung von Unsichtbarkeit ist, zeigt die Enzyklika Fides
et Ratio (dt. Glaube und Vernunft), die von Papst Johannes Paul II. im
Herbst 1998 veröffentlicht worden ist. In dieser Enzyklika ist nicht nur die
Bindung der römisch-katholischen Kirche an die Metaphysik neuerlich bekräftigt
worden, es erging auch zugleich der Ruf an die Philosophen in aller Welt, die
theoretische Auseinandersetzung mit diesem metaphysischen Grund wieder
aufzunehmen. Ungewöhnlich an diesem Ruf war zweifellos der Umstand, dass Papst
Johannes Paul II. keiner spezifischen Metaphysik das Wort redete. Als Papst
Benedikt – noch in seiner Eigenschaft als Präfekt der Glaubenkongregation –
diese Enzyklika in dem Pressesaal des Vatikans vorstellte, versicherte er vor
aller Welt, dass die römisch-katholische Kirche in der Tat kein bestimmtes
metaphysisches System vorschreiben wolle.[16]
In der tiefen und unerschütterlichen Überzeugung,
im Besitz der letztgültigen Wahrheit zu sein, ist mit diesem erklärten Ruf nach
einer modernen Metaphysik die christliche Theologie zu keiner Zeit von der
römisch-katholischen Kirche so stark zur Disposition gestellt worden wie in
jenen Herbsttagen des Jahres 1998.
Bislang freilich ist diese Überzeugung noch
niemals ernsthaft herausgefordert worden, denn bislang ist der Metaphysik der
Sprung in die Wissenschaft verwehrt geblieben.
Die traditionelle Metaphysik stützt sich zur
rationalen Rechtfertigung des metaphysischen Grundes, wie die
thomistischen Gottesbeweise zeigen, bisher ausschließlich auf induktive
Beweisformen. Doch induktive Beweise sind wissenschaftlich in der Regel weit
schwächer legitimiert als deduktive Beweise. So beruhen die thomistischen
Gottesbeweise allesamt auf Extrapolationen von extrem weiträumig gestreuten
Beobachtungen. So wird aus der Beobachtung, dass eine Vielzahl von
physikalischen und biologischen Phänomene kontingenter Natur ist, geschlossen,
dass es eine erste Ursache geben muss, die in einem strikten ontologischen
Sinne notwendig ist. Eine solche Argumentation ist nicht notwendig
falsch, aber sie aufgrund ihres empirisch äußerst diffusen Charakters in
wissenschaftlicher Hinsicht wenig überzeugend. [17]
Die hier vorgestellte Argumentationsfigur hingegen
beinhaltet nur nicht eine sehr spezifische Vorhersage, sie ist zudem deduktiver
Natur: Sie erklärt in rational nachvollziehbarer Weise, warum das
Universum ganz spezifische Grenzbedingungen, wie eben die der Koinzidenz des
Kleinsten und des Größten, erfüllen muss, wenn es mit einem als unsichtbar
charakterisierten Grund kompatibel sein soll. Sie erlaubt mithin ein tieferes
Verstehen der metaphysischen Eigenschaft der Unsichtbarkeit. Wir sind nicht
gezwungen, an dieser Stellen an einen unerforschlichen Willen Gottes
glauben zu müssen.
Doch eine Metaphysik, die den hier geschilderten
Grundlinien folgt, hat, wie der vorhergehende Satz bereits erkennen lässt,
einen Preis: Wenn sie wahr wäre, dann erwiese sich die Eigenschaft der
Unsichtbarkeit als das ebenso natürliche wie zwingende Ergebnis einer
speziellen Konzeption des Universums; eine Konzeption, die man im weitesten
Sinne als »nicht-dual« bezeichnen könnte.
Unsichtbarkeit wäre fortan eine charakteristische,
temporal unauf-hebbare Eigenschaft des ultimativen Grundes unseres Universums.
Es ist offenkundig, dass diese Schlussfolgerung im
Widerspruch zum römisch-katholischen Gottesbild steht, welches in der
Unsichtbarkeit dieses metaphysischen Grundes, schon von der christlichen
Eschatologie her, ganz explizit das Ergebnis einer spezifischen, nur temporär
geltenden göttlichen Handlungsweise sieht. Es ist nur sehr schwer vorstellbar,
dass die römisch-katholische Kirche diese durch eine moderne Metaphysik
nahegelegte Schlussfolgerung jemals akzeptieren wird.
Doch wie auch immer die Haltung des Vatikans am
Ende ausfallen mag, es ist eine vielfach bestätigte historische Tatsache, dass
jedes Konzept, das einer früheren Kulturepoche der Menschheit entstammt, im
Zuge seiner späteren wissenschaftlichen Aufklärung ein sehr viel spezifischeres
Profil erhalten sollte. Das uns vielleicht vertrauteste Konzept aus antiker
Zeit ist sicherlich das Atom. Von dem griechischen Philosophen Demokrit
vor mehr als zwei Jahrtausenden erstmals formuliert, ist das moderne Bild des
Atoms ungleich spezifischer. Es ist daher eine sich fast aufdrängende
Schlussfolgerung, dass auch das mehr als zwei Jahrtausende alte »Gottesbild«
mit fortschreitender Entwicklung einer modernen Metaphysik eine sehr viel
spezifischere Form annehmen dürfte. Dies mag zweifellos unbequeme
Schlussfolgerung sein, aber vielleicht ist sie der einzige Weg, um der Vernunft
gerade in dem Bereich der Wirklichkeit Geltung zu verschaffen, in dem sich der
Mensch oft am unvernünftigsten verhält.
Referenzen:
[1] Beier, Peter; Eine
zweite Aufklärung!, in: Was die Welt im Innersten zusammenhält, Zum
Dialog zwischen Theologie mit der Naturwissenschaften, Beier Peter (Hg.),
Neukirchener 1997, S. 7
[2] Weinberg,
Steven, Der Traum vom Einheit des Universums, München 1992, S. 189, 190
[3] Fölsing,
Albrecht, Albert Einstein – Eine Biographie, Frankfurt a. Main 21993,
S. 145 ff.
[4] Hansen,
Helmut, Elementarmatrix 3.0 – Auf der Suche nach dem Einen, Hamburg
2000, S. 23, 24
[5] Nicolai de Cusa,
De Docta Ignorantia/Die Belehrte Unwissenheit, Hamburg 1999, Bd. III, S. 98 - 101
[6] Hund, Friedrich, Grundbegriffe der
Physik, Mannheim 1979, S. 42
[7]Hansen, Helmut,
“About an Anomaly that challenges Relativity”, Proceedings of the 15th
Natural Philosophy Alliance, April 7 – 11, 2008 at the University of
New Mexico, Albuquerque; Vol. 5, No. 1, pp. 73 – 84 (2008)
[8]Luminet,
Jean-Pierre; Starkman, Glenn D.; Weeks, Jeffrey R.; Ist der Raum
endlich? in: Kosmologie, Spektrum der Wissenschaften,
Dossier-ND 3/2004, S. 28, 29
[9]Smoot, George; Davidson, Keay; Das Echo der Zeit –
Auf den Spuren der Entstehung des Universums, München 1993
[10]Einstein,
Albert; Beitrag zur Festschrift für Aurel Stodola, hrsg. v. E. Honegger,
Zürich/Leipzig 1929, S. 126, 127
[11] Hansen,
Helmut; Die Physik des Mandala, Aitrang 2007
[12] Hansen,
Helmut; Die Linien des Alten, eBook, FU Berlin 2009
[13] Ratzinger,
Joseph, Einführung in das Christentum, München 1969, S. 103, 104
[14] ebenda S. 48
[15] Ratzinger,
Joseph, Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen, Ein Beitrag
zum Problem der theologia naturalis, Leutesdorf 2004, S. 20
[16] Papst
Johannes Paul II, Enzyklika Fides et Ratio, Glaube und Vernunft, Stein
am Rhein/Schweiz 1998, S. 107 ff. (Kardinal Ratzinger präsentiert die neue
Enzyklika)
[17] Hansen,
Helmut; Von der Entdeckung Gottes am Rande des Universums, Petersberg
2005
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helmuthansen 21.09.2011 12:02
Ich bin einigermaßen überrascht, dass ein Text, der in und mit seiner Argumentation die Möglichkeit, den transzendenten Grund der Wirklichkeit personal zu deuten, dezidiert ausschließt, als Beweis für (!) die Existenz eines Schöpfers gesehen wird. Hier war offenbar der fromme Wunsch der Vater des Gedankens. Das Ziel einer modernen Metaphysik, wie sie mit dem o.a. Aufsatz skizzenhaft umrissen ist, gilt gerade der Aufklärung und "Entmythologisierung" dieses transzendenten Grundes. Es geht also darum, mit wissenschaftlichen Mitteln herauszufinden, was es mit diesem transzendenten Grund eigentlich auf sich hat. Es geht also darum, Fragen zu beantworten wie: Gibt es empirische Hinweise für die Existenz dieses Grundes? Und wenn er existiert, in welcher Beziehung steht er dann zum physikalischen Universum und uns selbst? Das Ergebnis der bisherigen Untersuchungen: Dieser transzendente Grund ist offenbar kein Mythos, sondern etwas Reales. Er ist ferner nichts un- oder übernatürliches. Sein transzendenter Charakter erweist sich als eine der physikalischen Wirklichkeit innewohnende natürliche Voraussetzung, um ein so reiches und vielfältiges Universum zu ermöglichen, wie wir es beobachten. Nur weil der letzte und eigentliche Grund des Universums von transzendenter Natur ist, ist er durch nichts von dem, was wir sehen, anfassen oder sonst irgendwie messen können, begrenzt - und kann eben darum all dieses ermöglichen. Doch dieser Grund ist aufgrund seiner innigen Beziehung zum sichtbaren Universum nicht als ein allherrschendes DU deutbar, das irgendetwas verfügt oder eingerichtet hat - auch nicht die Naturgesetze. Das sichtbare Universum und der transzendente Grund erweisen sich vielmehr als zwei Seiten ein- und derselben Wirklichkeit, wobei das Transzendente der unwandelbare und ewige Spiegel ist, in dem wir sichtbare Universum schauen. Dieser Grund resp. Spiegel ist - ebenso wie alles andere in der realen Welt - unter gewissen Bedingungen existenziell von uns erleb- und erfahrbar. Eben diese Erfahrungen und Erlebnisse sind uns durch die mystischen Überlieferungen wieder und wieder übermittelt worden. Eine moderne Metaphysik nutzt diese Erlebnisse und Erfahrungen - in dem Wunsch und der Überzeugung, dass sich auf ihnen eine wissenschaftlich konsistente und kohärente Theorie über die Wirklichkeit entwickeln lässt. In und mit dem Aufsatz ist auf exemplarische Weise gezeigt, welchen Bedingungen eine solche Theorie folgt; Bedingungen, die in unserem Universum - wenigstens näherungsweise - empirisch realisiert sind. Helmut Hansen
Warszawski 09.08.2010 15:03
Auf einem anderen Weg, hölzerner, weniger filigran, kommen Agnostiker, die an den Beginn des Universums glauben (sic!), zu ähnlichen Ergebnissen: Die Existenz des Schöpfers des Universums kann nicht bewiesen und nicht widerlegt werden, somit kann seine Existenz angenommen werden. Der Schöpfer hat das Universum erschaffen und die Naturgesetze im Universum festgelegt. Die Transzendenz ist außerhalb von Zeit und Raum, kann von Bewohnern des Universums nicht erkannt werden und kann in das Geschehen des Universums nicht eingreifen. Nathan Warszawski