Erschienen in Ausgabe: No. 37 (3/2009) | Letzte Änderung: 25.01.09 |
(Rezension zu: Peter Barnes, Kapitalismus 3.0. Ein Leitfaden zur Wiederaneignung der Gemeinschaftsgüter, a.d. Amerik. v. Veit Friemert, hrsg. v. d. Heinrich-Böll-Stiftung, Hamburg: VSA Verlag 2008)
von Robert Lembke
„Can’t get there from here“ ist ein Song der amerikanischen
Rockband R.E.M., der, in bewährter künstlerischer Manier, die
momenthafte Empfindung objektiver Abhängigkeit und des psychischen
Drucks in der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft zu einem
bloß subjektiven Phantasma verklärt, um ihr danach durch
Veränderung des Zustands des empfindenden Subjekts begegnen zu
können.1
Im Gegensatz dazu zeigt Peter Barnes im vorliegenden Buch, warum
diese Art des alltäglichen Eskapismus zwar nach wie vor
funktioniert, sie aber irgendwann an objektive Grenzen stossen wird,
weshalb den objektiven Gründen dieser Empfindung auch objektiv
begegnet werden muss.
Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist, dass es nicht von einem
Theoretiker, sondern einem Mann der Praxis verfasst wurde. Barnes hat
selber lange Jahre als Unternehmer gearbeitet, er kennt die
Mechanismen des Marktes, kennt nicht nur die Theorie, sondern auch
die praktische Seite von Reformbestrebungen. Hierzulande wäre Barnes
wohl ein intellektueller Vordenker der Grünen, was sich zu dem
Umstand fügt, dass sein Buch in einem ‚linken‘ Verlag von der
‚grünen‘ Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben wurde. (In
Amerika befindet sich eine grüne Partei erst noch im Aufbau und hat
noch keine große politische Ausstrahlung entfalten können, was
zeigt, dass die USA auf diesem Feld nicht 20 Jahre voraus, sondern 30
Jahre zurück liegen.)
Bemerkenswert ist auch die Radikalität, mit der Barnes die
gegenwärtigen Missstände analysiert; schonungslos zeigt er die
Schwachstellen unseres Wirtschaftssystems nicht nur auf, sondern
analysiert hellsichtig und unter Einbeziehung konkreter historischer
Daten den Prozess, der uns in die gegenwärtige Lage manövriert hat.
Dabei speist sich seine Vision einer besseren Gesellschaft aus einer
ganz einfachen Idee, die wie ein roter Faden das gesamte Buch
durchzieht: die Schaffung von Gemeinschaftsgütern (commons).
Gemeinschaftsgüter sind, so Barnes, all jene Güter, die der Nutzung
aller vorbehalten bleiben müssen, wobei unter alle – hier schließt
er sich der Meinung des schottischen Konservativen Edmund Burke an –
auch die nachfolgenden Generationen verstanden werden müssen.
Gemeinschaftsgüter sind entweder natürlich vorhandene Güter
(Boden, Wasser etc.), für deren Erhaltung die Menschheit
Verantwortung trägt, oder solche, die aus der gemeinsamen Arbeit von
Generationen erschaffen wurden, d.h. also öffentliche Güter wie
Straßen, institutionelle Strukturen, Sozialversicherung usw. Des
Weiteren gibt es den Bereich der Kultur, der wegen seiner
potentiellen Unendlichkeit ein Gemeinschaftsgut par excellence
darstellt, weil er durch Nutzung aller nicht gemindert wird.
Zunächst einmal geht es darum, sich bewusst zu machen, dass diese
Güter existieren. Im Falle der natürlichen Ressourcen ist es bisher
so, dass Privatunternehmen diese kostenfrei nutzen können bzw. ihre
negativen Effekte auf diese abwälzen können. Da die natürlichen
Güter aber nicht unbegrenzt sind, muss ihre Nutzung eingeschränkt
werden, um den in einer nicht allzufernen Zukunft bevorstehenden
Kollaps der Erde zu vermeiden.2
Im Falle der Luft werden z.B. gegen Gebühr Emissionslizenzen
vergeben, und die daraus erwachsenden Einnahmen können dann für das
Gemeinwohl verwendet werden. Barnes zufolge würde dieses Vorgehen
auf breiter Front dazu führen, dass auf längere Sicht neben dem
immer mehr dominierenden Privatsektor3
ein Gemeinschaftssektor entsteht, der die ökologischen und sozialen
Verwerfungen im Kapitalismus nicht mit einem Schlag, aber im selben
Atemzug zu beseitigen oder doch zumindest zu mildern in der Lage
wäre.
Dazu müsste jedoch – geschichtlich gesehen – jener Prozess
gestoppt werden, der bei Marx „ursprüngliche Akkumulation“
heißt: Hinter der enigmatischen Formel verbirgt sich die Frage, wie
die kapitalistischen Unternehmer ursprünglich in den Besitz der
Produktionsmittel gelangten. Barnes Verdienst ist es hier, mit
Unklarheiten und Mystifizierungen weitgehend aufzuräumen. Der
Prozess der Inbesitznahme der Gemeinschaftsgüter hatte zwar,
beginnend im Mittelalter, seinen Höhepunkt im 18. und 19.
Jahrhundert, als (bezogen auf Amerika) immer mehr Grund und Boden an
private Eigentümer verliehen wurde; im Prinzip aber handelt es sich
laut Barnes um einen kontinuierlichen Vorgang, wie er am
Beispiel der Rundfunkfrequenzen vorführt: Indem der Staat diese
kostenlos an interessierte Unternehmen vergibt, die bereits in diesem
Feld tätig sind, wird für einen kurzen Moment der ständige
Aderlass an Gemeineigentum sichtbar, dass quasi geräuschlos in
private Hände übergeht.4
Diesem unkontrollierten Weiterwuchern des Privatsektors soll Einhalt
geboten werden durch Schaffung eines Gemeinschaftssektors: Wenn der
Staat am Anfang jedes Eigentums stand und fortwährend steht, indem
er Konzessionen an private Unternehmer verteilt, so muss er dasselbe
auch für gemeinwohlorientierte Institutionen tun können, die
sogenannten trusts.
Trusts sind treuhänderisch verwaltete Institutionen, die zwischen
Staat und Markt angesiedelt sind und von unabhängigen Personen
geleitet werden, die besonderen Prinzipien verpflichtet sind. (Damit
ähneln sie, so Barnes, den Institutionen der Rechtsprechung.) Trusts
sind im Grunde gigantische Umverteilungsmaschinen. Sie erheben
Gebühren für das von ihnen verwaltete Gemeinschaftsgut und setzen
das Geld zum Schutz dieses Gutes sowie zum Wohle der Allgemeinheit
ein. Letzteres geht für Barnes sehr weit, vom Startkapital für
Kinder bis zur jährlichen Pro-Kopf-Dividende für jeden Bürger, die
geeignet ist, die sozialen Ungleichheiten auszugleichen.
Dass diese Ideen nicht vollends aus der Luft gegriffen sind, zeigen
bereits bestehende Institutionen, die genau nach diesen Prinzipien
organisiert sind. Das Paradebeispiel ist der „Alaska permanent
fund“, der aus Gebühren für die Erdölförderung finanziert wird
und jedem Einwohner ein jährliches Zusatzeinkommen garantiert;
dieses Modell möchte Barnes auf die gesamten USA ausgeweitet wissen.
Jeder Einwohner erhält dadurch einen gleichgroßen lebenslangen
Anteil an Gemeineigentum, wodurch einerseits Armut gemindert,
andererseits eine direkte Umverteilung von oben nach unten vermieden
wird.5
Trotz der scheinbaren Einfachheit trägt Barnes Ansatz
außerordentlich weit: So begreift er z.B. die immer aggressivere und
sich stetig ausweitende Werbung als „Verschmutzung“ „unserer
eigenen Gedanken und Gefühle“ (157, 156) – in der Barnesschen
Terminologie: als unerlaubten Ausgriff privaten (Profit-)Interesses
auf unseren Seelenhaushalt. Analog zu physischer Umweltverschmutzung
wären Limits festzulegen, in welchem Umfang dieser Zugriff gestattet
werden darf. Wieder käme hier das Prinzip zum Einsatz, die inhärente
Steigerungslogik des Kapitalismus zu brechen und daraus noch einen
Nutzen für alle zu konstruieren – mittels eines Trusts, der
Gebühren für den Zugang zu unseren mentalen Ressourcen erhebt.
Im „Kapitalismus 3.0“, wie ihn Barnes in Anlehnung an
Softwarekennzeichnungen nennt, stünde also ein durch das
Eigentumsrecht gut geschützter Sektor von Gemeinschaftsgütern dem
Privatsektor gegenüber, der mit den selben Regeln nach wie vor
besteht. Alle gemeinsamen und öffentlichen Güter stehen unter
treuhänderischer Verwaltung, deren oberste Maxime die Erhaltung
dieser Güter für zukünftige Generationen ist.
Bleibt nur die Eingangsfrage: Wie von hier nach dort gelangen?
Damit kommen wir zugleich zu den Schwächen des Buches: Natürlich
macht sich Barnes darüber Gedanken, wie seine Vision zu
verwirklichen wäre. (Der dritte und letzte Teil des Buches lautet
„Die Realisierung“ und umfaßt knapp 35 Seiten.) Seine Ideen sind
nicht aus der Luft gegriffen, sondern bestehen bereits – im Kleinen
– in der Wirklichkeit. Trotzdem müsste der Maßstab der bisherigen
Initiativen, Fonds und Kooperationen vergrößert werden, was einer
Änderung ums Ganze gleichkäme. Wie soll das aber gehen, zumal
angesichts der von Barnes selbst analysierten Beharrungskräfte des
Bestehenden? So analysiert er bspw. schonungslos die Verfilzung von
Politik und Ökonomie durch Tradition und Lobbyismus. Jedoch: „Ein
oder zweimal pro Jahrhundert eröffnet sich für eine kurze Dauer die
Möglichkeit der Machtübernahme durch nichtunternehmerische Kräfte.“
(191, vgl. 76) Was anders kann hier gemeint sein als Krisenzeiten, in
denen die politische Ausrichtung ins Wanken gerät?
Allem Anschein nach durchleben wir gerade eine solche Phase. Der
globalisierte Kapitalismus erlebt seine erste große, allumfassende
Krise: der Westen taumelt, die Schwellenländer werden
zurückgeworfen, die Ärmeren und Armen trifft die Misere ungebremst.
Allerorten wird über Mittel diskutiert, das System Kapitalismus 2.0
‚wieder zum Laufen zu bringen‘, durch Konjunkturprogramme,
staatliche Finanzspritzen oder Bürgschaften, vielleicht sogar
Steuersenkungen. Nirgends allerdings lassen sich Stimmen vernehmen,
die eine so grundlegende Reform wie die von Barnes ins Auge gefasste
anstreben. Yes we can?
Abgesehen von dem von ihm selbst analysierten Problem, wie seine
Ideen politisch wirksam werden könnten, enthält Barnes Buch weitere
Schwachpunkte.
Zunächst fällt da die Beschränkung des Blicks auf; zwar verwendet
Barnes bisweilen Beispiele aus anderen Ländern, seine Argumentation
basiert jedoch auf der amerikanischen Situation. Im Gegensatz zum
genuinen linken Universalismus setzt er sogar darauf, die Nation zu
stärken (vgl. 146, 136). Angesichts der sicherlich berechtigten
Klage über die vielen Amerikaner ohne Krankenversicherung, die „nur
eine Lohnzahlung oder eine Krankheit von der Katastrophe entfernt“
leben (57), muss Barnes sich fragen lassen, wie es dagegen mit dem
Schicksal der Milliarden Benachteiligten in aller Welt aussieht.
Eine weitere, die vielleicht entscheidende, Schwäche ist das
weitgehende Verschweigen der Transaktionskosten für den Übergang
von Kapitalismus 2.0 zu Version 3.0. Hier wird Barnes m.E. auch zum
Opfer seiner eigenen Metapher: Im Gegensatz nämlich zum
Computerprogramm, bei dem ein „Update“ meist nur eine problemlose
Sache von Minuten ist, haben wir es im Falle unseres
Wirtschaftssystems mit Existenzen zu tun, und das heißt: mit
Motivationen, Gegenmotivationen und dem gerüttelt Maß an
Irrationalität, das sich in aller bisherigen Geschichte als
unberechenbarer Faktor erwiesen hat. Die Geschichte des Menschen,
darüber belehrt uns alles Vergangene, lässt sich nicht planvoll
gestalten – und wird es doch versucht, dann nur um den Preis
unerwünschter (meist schädlicher) Nebenfolgen. Sie hat damit
denkbar wenig Ähnlichkeit mit maschinellen Algorithmen, deren
Umstellung zumeist weit weniger Probleme bereitet. Indem Barnes diese
Friktionen verschweigt, nähert sich sein Modell einer Utopie, für
die wiederum gilt: „Can’t get there from here.“
Barnes verschweigt insbesondere die Frage, wer ‚die Zeche zahlt‘.
Erhebt man nur die Natur und die gesellschaftliche Infrastruktur und
alles angesammelte Wissen in den Rang ökonomisch zählbarer Werte,
entsteht scheinbar aus dem Nichts neuer Reichtum. Die Wahrheit liegt
natürlich woanders, nämlich darin, dass wir alle, am stärksten
aber die großen Unternehmen (als primäre Nutzer), für die neuen
Güter aufkommen müssen. Es folgt daraus also die Notwendigkeit
einer schwierigen Übergangsphase hohen wirtschaftlichen Drucks
verbunden mit einer schleichenden Enteignung der großen Unternehmen.
Statt revolutionärer „Expropriation der Expropriateure“ also
algorithmisierte kontinuierliche Umverteilung, könnte man sagen.
Einmal in einem günstigen Augenblick an die Macht kommen, das
Notwendige beschließen (‚installieren‘) und dann zusehen, wie
sich Natur und Gesellschaft von selbst heilen. Yes we can?
1
Die ersten Zeilen lauten: „When the world is a monster / bad to
swallow you whole / kick the clay that holds your teeth in / throw
you trolls out the door.“
2
Barnes Ansatz berührt sich mit ähnlich gerichteten Ideen, wie sie
bspw. die französischen Philosophen Michel Serres und Bruno Latour
vorgelegt haben. Gemeinsam ist allen dreien der Gedanke, dass ihn
unseren bisherigen gesellschaftlichen Einrichtungen die Natur keinen
nennenswerten Stellenwert hat. Serres will deshalb einen
Naturvertrag (Frankfurt a.M. 1994) analog zum Hobbeschen
Gesellschaftsvertrag konstruieren, durch den der stummen Natur Recht
eingeräumt werden, wie sie bisher nur Bürger eines Staates
innehaben. Noch stärker mit Barnes konvergiert der Ansatz Bruno
Latours, der in seinem Parlament der Dinge nicht nur
natürliche Ressourcen, sondern auch die Gestaltung des öffentlichen
Raumes unter direkte parlamentarische Kontrolle stellen will; ein
Verfahren, dass freilich praxisferner erscheint als das des
praxiserprobten Amerikaners.
3 Unter
Privatsektor versteht Barnes vor allem jene großen Unternehmen, die
als „börsenotierte Kapitalgesellschaften“ immer mehr Macht und
Einfluss gewinnen und so den öffentlichen Sektor zunehmend
unterhöhlen; einerseits durch direkten Einfluss auf die Politik,
etwa durch das Heer der Lobbyisten, andererseits durch ihre
Kontrolle über private Rundfunk- und Fernsehanstalten.
4 Die
problematischen Punkte der Debatte um die „ursprüngliche
Akkumulation“ können hier nicht benannt werden; fest steht, dass
Barnes gegen Lenin mit Rosa Luxemburg übereinstimmt, die gegen
dessen Annahme einer besonderen historischen Epoche eine Kontinuität
der Aneignung angenommen hatte.
5 Barnes
nutzt hier die Rawlssche Unterscheidung zwischen Redistribution
(die Reichen geben den Armen Geld ab) und Prädistribution (alle
erwerben per Geburt Anteile an Gemeineigentum); vgl. S. 137.
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