Erschienen in Ausgabe: No. 34 (4/2008) | Letzte Änderung: 25.01.09 |
von Dörte Gunderson
Der Satz
Alles fließt wird Heraklit um 500 v. Chr. zugeschrieben.
Diese Aussage interpretiere ich so, dass alles, was uns Menschen
begegnet einschließlich unserer selbst durch Veränderung
gekennzeichnet ist.
Wir sind
es gewohnt, nach Ursachen von Erscheinungen zu fragen. Fällt ein
Stein, so schließen wir auf die Schwerkraft, beim Umkreisen der
Erde um die Sonne schließen wir auf Gravitations- und
Zentrifugalkraft, finden wir eine Tonscherbe in der Erde, so vermuten
wir, dass Menschen sie anfertigten. Diese Vorgehensweise übertragen
wir dann auf so komplexe Erscheinungen wie den Menschen, dessen
erstes Exemplar Adam ein Schöpfergott aus Lehm geformt haben
soll. Bei komplexen Erscheinungen wie dem Leben auf der Erde,
beispielsweise der Lebensgemeinschaft des Waldes, bei der Kunst, der
Zahlentheorie, der Zeit ist dieses Vorgehen nicht sinnvoll. Es sollte
für die Philosophie irrelevant sein, ob die Welt durch einen
Schöpfergott erschaffen oder wie bei Heraklit unerschaffen ist,
denn belegen lassen sich beide Aussagen nicht. Man beschränke
sich auf das Offensichtliche: die Veränderungen. Als fundamental
betrachte ich Veränderung, Schwung, Entwicklung; dabei umfasst
Entwicklung ebenso die Entwicklung von Strukturen wie die Entwicklung
zum Chaos.
Dem
Menschen Begegnendes ist nicht seiend, sondern während.
Weder gibt es dimensionslose Raumpunkte, noch dimensionslose
Zeitpunkte. Das Sprechen von Zeitpunkten stellt eine Idealisierung
dar, die ihre Grenzen hat, wie schon das Sophisma des Zenon vom
fliegenden Pfeil zeigt: ein fliegender Pfeil ruhe in jedem
dimensionslosen Zeitpunkt in einem dimensionslosen Raumpunkt;
folglich ruht er auch im Ganzen. Dieser Antinomie entgeht man, indem
man dem Jetzt außer der Richtung eine Erstreckung zuordnet.
Dass die
Zeit fließt, beinhaltet auch, dass wir in der Außenwelt
nur Dinge erkennen, die wenigstens eine kurze Zeitspanne anwesen. Als
Beispiel nenne ich das grüne Leuchten. Wenn in südlichen
Gefilden der letzte Sonnenstrahl der ins Meer versinkenden Sonne ins
Auge des Betrachters fällt, so ist dieser Strahl grün, denn
in der Atmosphäre wird durch Brechung auch der letzte Strahl in
seine Spektralfarben zerlegt, und während das blaue Licht
gestreut wird (Himmelsbläue), gelangt der am zweitstärksten
gebrochene grüne Strahl zuletzt ins Auge. Beobachtbar ist das
grüne Leuchten nur deshalb, weil es während des Bruchteils
einer Sekunde anwährt.
Ich
behaupte also, alles Seiende sei Währendes. Entgegen dem
Beispiel möchte ich Währendes aber nicht in Seiendes und
Zeitliches zerlegen, sondern als unzerlegbaren Begriff betrachten.
In
Analogie zu Heidegger, der das Sein als Lichtung des Seienden im
Menschen definiert, definiere ich die Lichtung des Währenden im
Menschen als Währen. Mit dem Ausdruck Währen
als Lichtung des Währenden im Menschen bin ich nicht ganz
zufrieden, weil das veränderliche Seiende, im Extremfall das
Verschwindende, nur schlecht durch den Ausdruck beschrieben wird.
Bezeichnet
man wie die Griechen das Seiende als Anwesendes, so ist auch die Zeit
enthalten, nämlich die Gegenwart. Dies ist in Übereinstimmung
mit dem Währenden, sofern man der Gegenwart eine Erstreckung und
eine Richtung zuordnet. Auch Heidegger sieht den Zusammenhang des
Seins mit der Zeit von vornherein, indem er das Sein vor dem Horizont
der Zeit betrachtet, d.h. den Sinn von Sein als Zeit voraussetzt. Ich
möchte Sein und Zeit nicht erst als zwei einzelne Entitäten
betrachten, denn dann ist es schwer, sie wieder zu verschmelzen.
In der
Physik ist die Zeit eine Grundgröße, die Geschwindigkeit
eine abgeleitete Größe. Dass auch in der Physik die
Bewegung ursprünglich ist, sieht man an der Festlegung der
ursprünglichen Zeiteinheiten. Ein Tag ist die Zeit der Rotation
der Erde um ihre Achse, ein Jahr die Zeit für einen Umlauf der
Erde um die Sonne.
Die
Entwicklung des Planetensystems, die Entstehung der
Lebensgemeinschaft des Urwalds, die Welt der Dinosaurier sind
Beispiele für Entwicklungen unabhängig vom Menschen.
Dagegen sind der Zahlbegriff, die Kunst, der
Zeitbegriff vom Menschen mitbestimmt.
1. Die Zahl als Konstrukt
Ob man
als Realist die Zahl 5 als gewisses Abstrakt der Finger aller
Menschenhände setzt oder als Idealist als reine Konstruktion des
menschlichen Geistes als Nachfolger der vorher konstruierten 4
betrachtet, beiden Auffassungen gemein ist der Dualismus von Ich und
Außenwelt. Voraussetzung für die Zahlen und deren
Operationen wie die Addition ist, dass das Selbstbewusstsein, das
„ich denke“, das nach Kant all mein Urteilen begleitet, sich von
der Außenwelt isoliert hat. Unabhängig vom Menschen
existieren die Zahlen nicht, abgesehen davon, dass der Realist, wenn
er die natürlichen Zahlen über die Mächtigkeit von
Mengen definiert, immer nur endlich viele Zahlen erhält.
Da jede
natürliche Zahl nach Definition einen Nachfolger besitzt, sagt
man, es gäbe unendlich viele. Nach konstruktivistischer
Auffassung, die beispielsweise die Intuitionisten vertreten, sind
dies potentiell unendlich viele, da man immer nur endlich viele
konstruiert hat, und nicht aktual unendlich viele vorliegen. Da sich
auch die ganzen und die rationalen Zahlen nummerieren, das heißt
aufzählen lassen, besitzen diese denselben Grad der
Unendlichkeit. Aufzählen lassen sich die reellen Zahlen nicht,
es gibt „mehr“ als abzählbar unendlich viele.
Für
überabzählbare Mengen schlage ich vor, die Termini „für
jede“ und „für alle“ nicht mehr zu identifizieren. Für
endliche Mengen haben wir logische Äquivalenz: „Alle Menschen
sind sterblich“ ist genau dann richtig, wenn gilt: „Jeder Mensch
ist sterblich“. Für unendliche Mengen gilt diese Äquivalenz
nicht mehr uneingeschränkt. Nach dem Prinzip der vollständigen
Induktion ist eine Aussage für alle natürlichen Zahlen
gültig, wenn sie für die erste natürliche Zahl 0 gilt
und aus der Gültigkeit für eine beliebige natürliche
Zahl n die Gültigkeit für die nachfolgende Zahl folgt. Die
Identifizierung von „für alle“ mit „für jede“ ist
akzeptabel für alle abzählbaren Mengen. Für
überabzählbare Mengen gilt dies nach meiner Auffassung
nicht mehr. Man kann eine Aussage für jede algorithmisch
vorgelegte reelle Zahl bewiesen haben, ohne einen Überblick für
alle reellen Zahlen zu haben, weil es mehr reelle Zahlen als die
algorithmisch gegebenen gibt.
Bei dem
Sophisma des Zenon über den Wettlauf des Achill mit der
Schildkröte wird die Problematik des Aktualunendlichen der
Infinitesimalrechnung besonders deutlich. Achill laufe mit einer
Schildkröte um die Wette. Er laufe 10mal schneller als die
Schildkröte, weshalb er ihr 1 Stadion Vorsprung gebe. Die
Argumentation des Zenon läuft folgendermaßen:
Hat
Achill 1 Stadion durchlaufen, so hat die Schildkröte noch einen
Vorsprung eines Zehntel Stadion, hat Achill dieses Zehntel Stadion
durchlaufen, so hat die Schildkröte einen Vorsprung eines
Hundertstel Stadion, durchlief Achill auch dieses, so hat die
Schildkröte den Vorsprung eines Tausendstel Stadion, usw. ad
infinitum. Folglich, so Zenons Argumentation, könne Achill die
Schildkröte nicht überholen. Es ist klar, dass Achill die
Schildkröte bereits nach 2 Stadien weit hinter sich gelassen
hat. Trotzdem ist die Zenonsche Argumentation stichhaltig, wenn
Achill die unendlich vielen Zenonschen Markierungen vornimmt, da ein
Mensch in seiner Lebenszeit niemals unendlich viele Striche machen
kann.
Hier
stößt die klassische Infinitesimalrechnung an eine Grenze.
Diesem Mangel tragen die Intuitionisten Rechnung, bei denen die
Argumentation nicht durchführbar ist, da die Entscheidung des
Überholens nach endlich vielen Schritten stehen muss. Für
eine ausführliche Darstellung verweise ich auf meine
Dissertation.1
2. Die Kunst
DasWesen derKunst ist nach Heideggers Kunstwerkaufsatz2
das Sich-ins-Werk setzen der Wahrheit als Schönheit, Wahrheit im
Sinne von Unverborgenheit interpretiert. Der Genitiv ist zugleich
genitivus subiectivus und genitivus obiectivus. Das
bedeutet, dass das Kunstwerk Wahrheit erzeugt und zugleich, dass die
Wahrheit im Kunstwerk zum Scheinen kommt. Aktiv und Passiv sind
aufgehoben. Heidegger betont, dass die Wahrheit nicht irgendwo in den
Sternen vorhanden sei. Mit meinen Worten: Wahrheit ereignet sich im
Kunstwerk; dabei ist die Wahrheit nicht als schon vorher existierend
am platonischen Himmel gedacht. Im Kunstwerk kommt Wahrheit zum
Scheinen. Nach Heidegger ist die Zerlegung des doppelten Genitivs in
die zwei angegebenen Aussagesätze allerdings ungemäß.
Die
Verschmelzung von Aktiv und Passiv findet sich auch bei Hölderlin:
Immer die gegenwärtige Stunde, das ist die Gottesstunde, das
ist das Stück Ewigkeit, das um Gestaltung ringt in Dir durch
Dich. Dieser Satz beschreibt sehr gut den gedehnten Augenblick,
der im Sinne einer Säkularisierung die Attribute der Ewigkeit
und Gottesstunde enthält, den man genießt, in dem man
schöpferisch die Zukunft gestaltet oder den man im Zustand der
Uneigentlichkeit verschläft. Die Gottesstunde bezieht sich auf
den Menschen als eines schöpferischen bzw. weil in ihm ein
schöpferisches Wirken stattfinden kann.
Friedrich
Beissner3
hält Hölderlins kleinen Aufsatz Urteil und Sein für
so etwas wie ein philosophisches Programm. Hier führt Hölderlin
das Wort Urteilung auf Ur-Teilung zurück, nämlich
auf die Teilung, durch die Subjekt und Objekt überhaupt erst
entstehen. Auch in einem Brief an Schiller vom 4.Sept. 1794 spricht
Hölderlin von intellektueller Anschauung, in der Subjekt und
Objekt vereinigt wird.4
In
Hölderlins drei Fragmenten zum Tod des Empedokles treffen wir
auf dieselbe Problematik. Empedokles glaubt, durch sein Wort die
Götter der Natur zum Sprechen gebracht zu haben. Seine
Widersacher halten dies für Hybris in der Meinung, dass die
Götter der Natur sich Empedokles offenbarten. Mir persönlich
scheint die folgende Synthese sinnvoll: der Mensch als Erscheinung
mit/in der Natur ist Teil dieser.
3. Die Zeit
Meine
Überlegungen zum Wesen der Zeit führen zur Definition der
Zeit als Abstraktion des Verbs „zeitigen“ in transitiver und
intransitiver Form:
Im
Leben des Menschen zeitigt sich Zeit.
Und
zugleich:
Das
Leben des Menschen zeitigt Zeit.
Anstelle
von Zeitigung der Zeit könnte man auch von Konstitution
der Zeit sprechen.
Dabei
trifft die Konjunktion der beiden Aussagen den Sachverhalt nur
unzureichend, vergleichbar der Definition der Kunst im Sinne
Heideggers. Treffender wäre die folgende Beschreibung. Ich
betrachte ein Kunstwerk: Wow- wie wahr! Wahrheit tritt in
Erscheinung. Und: Ich lebe: Wow- Zeit! Im Leben/durch das
Leben des Menschen tritt Zeit in Erscheinung. Es ist ungemäß
zu sagen, dass wir bei der Geburt etwas geschenkt bekommen, das wir
dann in gewissem Umfang gestalten können wie ein Material, dem
wir Spuren einritzen, denn die Zeit erscheint erst während des
gestaltenden Lebens.
Nur,
solange der Mensch lebt, gibt es Zeit. Es gibt keine Zeit unabhängig
vom Menschen. Diese Zeit ist reicher als die physikalische Zeit, die
der Mensch bewusst definiert.
Das bunte
Leben unterläuft das Selbstbewusstsein. Die Zeit gründet in
Tieferem als durch Selbstbewusstsein fundierter Philosophie; sie
gründet im Leben. Die physikalische Zeit ist im
Selbstbewusstsein begründbar. Wenn man postuliert, das Leben
unterlaufe das Ich des Selbstbewusstseins, so ist das mehr als
Heideggers Sein insofern, als das Leben die Zeit mit beinhaltet. Es
ist Heideggers Problem, den Bogen vom Sein zu der Zeit schlagen zu
müssen. Die Lebensphilosophen sahen etwas Richtiges, wenn sie
sich dem vollen Leben zuwandten.
Treibt
man Mathematik oder exakte Naturwissenschaft, so muss man sich auf
den vom Selbstbewusstsein zentrierten Ansatz berufen.
Meine
Definition von Zeit ist beeinflusst von Bergson und Heidegger.
Bergson und Heidegger kennen beide zwei Zeitbegriffe, die weitgehend
übereinstimmen. Trotz einer gewissen Entsprechung der
Bergsonschen Begriffe la durée -le temps zu den
Heideggerschen ursprüngliche Zeit- vulgäre Zeit gibt
es Unterschiede.
Henri
Bergson (1859-1941) ist Vertreter der Lebensphilosophie. Der
archimedische Punkt seiner Philosophie ist der élan vital,
der Lebensschwung. Durch Intuition ist der Mensch nicht nur seiner
eigenen Existenz gewiss, sondern auch der Existenz der anderen
Lebewesen. Glaubte Bergson zunächst, dass sich dieser dem
lebenden Menschen eigene Schwung auf dessen Umwelt übertrage,
die Dinge aber unbeweglich seien, so löst er sich seit der
Publikation von Schöpferische Entwicklung von dieser
Einschränkung. Dort schreibt er, dass die in ungeteilter
Ganzheit angeschaute Materie eher ein Fließen sein müsse
als ein Ding.5
Der Lebensschwung führt Bergson zur reinen Dauer la durée.
Die Dauer ist die erlebte Gegenwart. Das konkrete Ich entwirft die
Zukunft in der gedehnten vergangenheitsgetränkten Gegenwart. Bei
Bergson erschließt sich Sein immer nur als zeitliches Sein. An
die Stelle der Ewigkeit tritt im Sinne einer Säkularisierung die
erlebte Gegenwart. Das größte Verdienst Bergsons ist nach
meiner Ansicht, dass er die Zeit von der Verarmung befreit hat, die
sie in der Physik erfahren hat. Die erlebte Zeit ist viel reicher als
die physikalische Zeit le temps, die im klassischen
herkömmlichen Sinn aus ausdehnungslosen Jetzt-Punkten besteht,
die nicht erlebt werden können.
Proust,
von Bergson beeinflusst, schildert in seiner Suche nach der
verlorenen Zeit nicht nur solche Momente der erlebten Gegenwart, in
denen ein Geschmack, ein Geruch, eine Unebenheit des Straßenpflasters
dazu führen, dass verloren geglaubte frühere Erlebnisse neu
erlebt werden, sondern auch den Moment, in dem er den Entschluss
fasste, sein Werk zu schaffen.
Da bei
Bergson le temps eine Projektion von la durée in
den Raum ist, schließt Bergson folgerichtig, Zeitmessung sei
Raummessung. Die Bindung der messbaren Zeit an den Raum kritisiert
Heidegger zu Recht.6
Bergson dachte zeitgemäß, dass die Zahlen nur im Raum
konstruiert werden können. Wie der intuitionistische
Mathematiker Brouwer zeigte, können sie auch an die Zeit
gebunden werden. Die Vertreter des Konstruktivismus wie Lorenzen
erhalten sie durch Konstruktion, die weder an Raum noch Zeit gebunden
ist. Hinzu kommt, dass die Zahlen vorliegen, wenn man sie einmal in
Raum und Zeit konstruiert hat. Um die Größe einer Entität
zu bestimmen, muss man nicht jedes Mal neu projizieren, wie Bergson
glaubte, wenn er die ertönenden Glockentöne zum Zählen
in den Raum projiziert vorstellt. Auch habe ich Probleme mit dem
folgenden Sachverhalt bezüglich der Bergsonschen Projektion:
behauptet der konstruktiv vorgehende Mathematiker die Existenz einer
mathematischen Entität, so muss er auch in der Lage sein, eine
Konstruktionsvorschrift für die Existenz zu liefern. Die
widerspruchsfreie Denkbarkeit wie bei Bergson ist nicht hinreichend.
Ich vermute, dass Bergsons Absicht die Konstruktion einer messbaren
Größe war und er glaubte, diesen Weg einschlagen zu
müssen. Heidegger schreibt7,
Bergson versuche gegenüber der Zeit, die er als Raum auffasse,
die Dauer verständlich zu machen. Das liege darin begründet,
dass er auch die Dauer als Sukzession, allerdings als quantitative,
ansehe.8
Er kritisiert auch, dass Bergson die Begriffe Qualität und
Quantität nicht näher bestimme. Ich verstehe die Begriffe
naiv ohne weiteres, indem für mich das Quantitative das
Messbare, das Qualitative das nicht Messbare, oder allgemeiner das
nicht Gemessene bedeutet. Bergson verharrt keineswegs bei der
entsprungenen Zeit, die ursprüngliche Zeit in ihrem Wesen
verkennend, wie Heidegger annimmt.9
Heideggers Kritik trifft nicht die wahre Dauer, denn wenn ich eine
Abbildung einer Menge A in eine Menge B vornehme, so hat diese
Abbildung keine Rückwirkung auf die Urbildmenge A. Nach
Heidegger hat Bergson den Lebensschwung, den élan, zu
schnell allgemein-metaphysisch auf verschiedene Gebilde übertragen.10
Den Ansatz des Selbstbewusstseins unterlief Heidegger, doch auch
Bergson löste sich seit Schöpferische Entwicklung von
der einschränkenden Bindung des Schwunges an das menschliche
Bewusstsein. Andere Wesen und auch Dinge schwingen nun. Bergson
änderte seine Auffassung ohne Diskussion. Ich denke, dass er
intuitiv das Richtige sah, denn wie sollte ein Mensch auch seinen
Lebensschwung auf eine aufblühende Kastanie oder einen
verwitternden Findling übertragen?
Martin
Heidegger (1889-1976) ist Gründer der Seinsphilosophie.
Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht das Sein, nicht das Seiende.
Seiendes ist auf Gegenwart bezogen; Heidegger glaubt, dies auf
Aristoteles zurückführen zu können. Seiendes kann sein
Zuhandenes (das Zeug), Vorhandenes, Pflanze, Tier, Mensch oder
ideales Seiendes. Heidegger definiert das Sein als die Lichtung des
Seienden im Menschen. Der Mensch, das Dasein, ist der Ort der
Lichtung. Das Da im Begriff Dasein beschreibt unter anderem die
unauflösbare Verflechtung mit der Welt, in die der Mensch
geworfen ist.
Damit
legt Heidegger das Fundament tiefer als die Transzendentalphilosophen
seit Kant, die das Urteilen an das begleitende ich denke, d.h.
an das Bewusstsein des Menschen knüpfen. Vorgängig ist
diesem Ansatz, dass der Mensch schon in der Lichtung steht.
Der
Mensch ist bei Heidegger durch die Sorge gekennzeichnet: er ist
Sich-Vorweg Immer-schon in einer (bedeutungsgeladenen) Welt
als Sein-bei (innerweltlich begegnendem) Seienden. Die Einheit
der Ekstasen des Sich-Vorweg als Zukunft, des Immer-schon als
Gewesenheit und des Sein-bei als Gegenwart nennt Heidegger
Zeitlichkeit. Die sich zeitigende Zeitlichkeit ist nicht nur
Grundlage für das Daseinsverständnis, sondern für das
Seinsverständnis überhaupt (Horizont des Seins) und wird in
dieser Funktion ursprüngliche Zeit genannt. Später fügt
Heidegger noch eine vierte Komponente hinzu: das Reichen.11
Nach der sog. Kehre 12
geht Heidegger vom Ereignis der Lichtung aus: das Ereignis reicht
Zeit, schickt Sein. Sowohl bei der Dauer Bergsons als auch bei der
Zeitlichkeit Heideggers hat die Zukunft Vorrang vor Gegenwart und
Vergangenheit. Die vulgäre Zeit ist die physikalische Zeit im
klassischen Newtonschen Sinn, die heute relativistisch zu erweitern
ist.
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Amsterdam- New York-Oxford: North- Holland- Publishing Company
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Europäische Verlagsanstalt
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Hamburg: Felix Meiner Verlag
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Bergson, Henri, 1993: Denken und schöpferisches
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Verlagsanstalt
Bergson, Henri, 1993: Einführung in die
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Amsterdam- New York- Oxford: North Holland Publishing Company
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Marcel (Hrsg.): L´Héritage
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München-Zürich: Piper
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3
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4
Beissner, a.a.O. Bd.IV, S.181.
5
Bergson, 1912, S.191.
6
Heidegger, 1979, S.333.
7
Heidegger, 1979, S.267f.
8
s. hierzu auch Fußnote SuZ, 1979, S.432f.
9
s. Heideggers Bemerkung zu entspringender und
entsprungener Zeit, 1976, S.266-268.
10
ebd. S.268.
11
Heidegger 1988, Heidegger 1989.
12
Heidegger 1962.
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