Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 29.08.10 |
von Robert Lembke
Wenn man den geistigen Autoritäten und Inhabern der
kulturellen Deutungshoheit Glauben schenken darf, so ist etwas im Begriff, an
sein Ende zu gelangen – oder es ist schon zu Ende. In der Zeitschrift Merkur stellt Karl-Heinz Bohrer im Juli 2010
die resignativ anmutende Frage: „Welche Macht hat die Philosophie heute noch?“ Ebenso
kreist Peter Sloterdijks neues Buch, das aus einer Tübinger Vorlesung vom
Sommer 2009 hervorgegangen ist, um dieses Problem, hat aber gegenüber Bohrer
den didaktischen Vorteil, zunächst große Mühe auf die Beantwortung der Frage
„Was ist Philosophie?“ zu verwenden.
Im Ergebnis sind
sich, soviel kann hier schon vorweggenommen werden, beide Autoren einig: Das
Wort Philosophie meine im engeren Sinne jene metaphysische Tradition, die mit Platon
beginnt und mit Hegel endet. Ebenso wie Sokrates und seine Vorgänger zur
Vorgeschichte rechnen, ist alles, was auf Hegel folgt, als Infragestellung,
Zersetzung und schließliche Abwicklung des philosophischen Denkens zu
begreifen, die nun zu einem gewissen Abschluss gelangt sei.[1] Bevor
jedoch die Frage beantwortet werden kann, was zur finalen „Verabschiedung des
alteuropäischen Theoriesubjekts“[2] geführt
hat, lohnt es sich, mit Sloterdijk einen Blick auf Genese und Geschichte des
Projekts Metaphysik zu werfen.
Sokrates hatte beizeiten
die Entdeckung gemacht, dass man sich durch konzentrierte Selbstversenkung in
die Lage versetzen kann, Gegenstände und Prozesse anders als gewöhnlich
aufzufassen, sie durch Analyse zu durchdringen und gewisse dem Ungeübten
verborgene Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. (Edmund Husserl, den Sloterdijk als
eine Art letzten Mohikaner der Metaphysik aufruft, wird dieses Vorgehen, das
die Griechen als Zwiegespräch mit dem Dämon anschaulich machten, später epoché, d.h. Urteilsenthaltung nennen
und zur Grundhaltung seiner Philosophie machen.)
Platons Verdienst
war es nun, aus dieser Bewegung ein höheres Prinzip abzuleiten und ihr mit der
Gründung seiner Akademie eine wirksame Institutionalisierung zu verschaffen.
Der Platonismus als die Behauptung, mittels eines von den Schlacken des
empirischen und alltäglichen Lebens gereinigten Geistes ließen sich
überweltliche und ewige Gegenstände nicht nur wahrnehmen, sondern man könne an
ihnen teilhaben, wird von Sloterdijk mit der Metapher vom „Scheintod“ versehen,
der Theoretiker als glücklich entronnener „Scheintoter“ apostrophiert.
Bekanntlich hatte
schon die antike Tradition das Philosophieren als Einübung in das Sterben
begriffen; Sloterdijk unternimmt es nun im Fortgang seiner Vorlesung, die
Wandlungen und Erscheinungsweisen dieses Motivs zu untersuchen. Mit Hilfe einer
von Nietzsche inspirierten genealogischen Untersuchung werden die
Entstehungsbedingungen des Unternehmens Philosophie als Metaphysik aufgesucht
und durchsichtig gemacht.
Zentral ist dabei
die Einsicht in das höchst problematische
Verhältnis von Demokratie und Philosophie: Während jene auf Partizipation
und Einmischung beruht, versucht diese, den externen und unbeteiligten Beobachter zu konstituieren, der sich
jenseits der Verhältnisse zu stellen bemüht ist. Sloterdijk scheut sich nicht,
die platonische Philosophie als Ergebnis des Scheiterns der athenischen Politik
zu interpretieren und sie als „Verliererromantik“ zu kennzeichnen, für die der
Versuch charakteristisch sei, eine Niederlage – die der Polis – in einen Sieg
umzudeuten.[3]
Das theoretische Verhalten zur Welt werde so für all diejenigen attraktiv, die
sich angesichts trostloser politischer Aussichten anderweitig schadlos halten
wollen: „Das Denken bietet sich als das Vehikel zur Heimkehr ins himmlische
Archiv an.“[4]
Die schließliche
Entstehung des bios theoretikos als
achtbarem Lebensmodell auf breiter Front verdankt sich Sloterdijk zufolge noch
drei weiteren Bedingungen: Erstens den melancholischen
Menschen, die zum Denken geradezu prädestiniert scheinen und dort ihre
größten Leistungen vollbringen; zweitens der Herausbildung eines pädagogischen Bereichs, verbunden mit
der Entbindung von körperlicher Arbeit bei gleichzeitiger Ruhigstellung des
Körpers und der Einübung von Konzentration; drittens dem Siegeszug der
abendländischen Schriftkultur, die
das Fundament und die Form der theoretischen Ambitionen bildet.[5]
Die Lage des
Unternehmens Philosophie bleibt jedoch von Beginn an prekär: hervorgegangen aus
dem Prozeß der Auflösung der Polis und dem damit einhergehenden Verlust
politischer Partizipation, kann sie sich nur durch Selbstüberhöhung Legitimität
verschaffen; Sloterdijk spricht von „imaginärem Souveränismus“.[6]Das beschriebene
Schauspiel wiederholt sich noch einmal in der römischen Welt, als sich nach dem
Sturz der Republik der Redner und Rechtsanwalt Cicero zum stoischen Platoniker
bekehren läßt. Entscheidend zu spüren bekommt die abendländische Philosophie
ihre Prekarität zum ersten Mal in der Spätantike, als sie vom Christentum
aufgesogen wird. Wozu noch theoretisieren, wenn die konkrete Gestalt des Heils
in der Geschichte erschienen ist?
Mit der Renaissance
beginnt das Spiel von neuem, die „Verliererromantik“ namens Philosophie tritt
erneut auf den Plan – nur mit dem Unterschied, daß ihr jetzt in Gestalt der aufkommenden
Naturwissenschaften, die sie aus sich entläßt, eine Macht an die Seite tritt,
die das zivilisatorische Programm von Selbstbeherrschung in Richtung Weltbeherrschung
verschiebt; daran wird fortan auch die Philosophie lebhaften Anteil nehmen. Im
Durchgang einiger prägnanter Gestalten der Geistesgeschichte langt Sloterdijk
schließlich wieder in der Gegenwart und damit bei Bohrers Eingangsfrage an,
welche Bedeutung der Philosophie heute noch beigemessen werden könne.
Auffällig ist dabei
die Ähnlichkeit der Diagnosen der beiden Denker: Von der akademischen
Philosophie sei nicht mehr viel zu erwarten, seit sie zu einer Fachdisziplin
regredierte, deren Erkenntnisse sich „sowohl akkumulieren als auch
verbrauchen“;[7]
höchstens tauge sie noch zur „Vorzimmerdame der Demokratie“.[8] Man
müsse deshalb Erkenntnis, die diesen Namen verdiene, eher in der Literatur
suchen, ja es gebe einen spezifischen Typus des literarischen Philosophen oder
philosophischen Literaten, der das Denken im 20. und 21.Jahrhundert lebendig
und gegenwärtig halte. Es folgt der innere Vorbeimarsch der üblichen
Verdächtigen, allen voran Nietzsche, dann Sartre und Camus, von den Literaten
etwa Paul Valéry und Robert Musil.
In der Frage, was
zum Bedeutungsverlust der Philosophie geführt habe, für den Sloterdijk die
griffige Formel von der „Tötung des reinen Beobachters“ parat hat,[9] scheiden
sich jedoch die Geister: Während Bohrer neben Nietzsche – der eine Ablösung des
Gedankens durch den Stil, eine Ersetzung des Leitbegriffs Denken durch den
Leitbegriff Leben verantwortet hat – vor allem Wittgenstein ins Feld führt,
sind es bei Sloterdijk nicht weniger als 10 (!) Faktoren, die zur
Verabschiedung des reinen Beobachters geführt haben. Wittgensteins Sprachkritik
findet sich allerdings nicht darunter; hier darf man vermuten, dass Sloterdijk
die mächtig gewordene Tradition der analytischen Philosophie einfach ignoriert,
weil er sich dem alteuropäischen Erbe verpflichtet fühlt.
Sloterdijks 10
Gründe lassen sich grob in zwei Gruppen einordnen: erstens der Zweifel an der Interesselosigkeit des
Denkens, verbunden mit der aufkommenden Einsicht
in dessen Bedingtheit: hierher gehören Nietzsches Erkenntniskritik, die Wissenssoziologie
(Scheler, Kuhn, Foucault), der Feminismus, die Neurowissenschaften und nicht
zuletzt die Atombomben als Sakrileg der Naturwissenschaften, die jeweils auf
ihre Art die Reinheit und Neutralität reinen Beobachtens in Frage stellen. Der
zweiten Gruppe gemeinsam ist der Primat
der Praxis und des Lebens vor der Theorie und dem Denken: das beginnt mit
Marx und den Junghegelianern, setzt sich fort mit Existentialismus und
Marxismus in ihren verschiedenen Formen, bis schließlich unsere Gegenwart die
Rückbindung des Wissens an die Gesellschaft und eine damit verbundene
Einbettung des Wissenschaftlers fordert (Bruno Latour).
Wie bewerten nun
beide Autoren diese vielstimmige und grundstürzende „Kritik der neutralen
Vernunft“,[10]
die offenbar zu einem vorläufigen Abschluss gekommen scheint? Hier setzt nun –
bei beiden – ein auf den ersten Blick merkwürdiges Schwanken ein: Weder wird
für ein Leben „philosophiefrei von der Wiege bis zur Bahre“ plädiert,[11] noch
wird eindeutig – was nach ihren Ausführungen aber auch kaum zu erwarten war –,
für eine Rückkehr zu Formen traditionellen Philosophierens plädiert. Und doch
ist es Bohrer, der mit seinen abschließenden Leseempfehlungen überrascht; keine
philosophierenden Schriftsteller, sondern die akademischen Philosophenkönige
John Rawls und Charles Taylor werden genannt. Im Gegensatz dazu schließt
Sloterdijk zwar mit Fernando Pessoa, jedoch nicht ohne zuvor sein
Einverständnis mit der metaphysikkritischen Moderne zu relativieren und dem „reinen
Bobachter“ eine kleine Träne nachzuweinen.
Und wie könnte es
auch anders sein? Beide, Bohrer und Sloterdijk, sind im Grunde späte Exponenten
jenes Denkens des god’s point of view,
dessen Verabschiedung sie aktuell beiwohnen; beide fühlen sich wohl bisweilen
wie Angehörige einer aussterbenden Spezies – denn was sind die freischwebende
Kritik und der philosophische Essayismus anderes als die letzten, bereits von
Dekadenz umwehten Erben der großen Philosophie, die sich ihre Nostalgie ob jener
fernen Tage nicht verkneifen können, und denen darum nichts anderes bleibt, als
zwischen den Zeilen auszurufen: „Die Philosophie ist tot, es lebe die
Philosophie!“?
Karl Heinz Bohrer, „Welche Macht hat die Philosophie
heute noch?“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 64,
H. 734, S. 559-570.
Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken. Von Philosophie
und Wissenschaft als Übung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, 147 S.
[1] Bohrer hat auch den
passenden Buchtitel für diese Diagnose parat: Joseph Margolis, Pragmatism’s Advantage. American
and European philosophy at the end of the twentieth century, Stanford UP 2010.
[2] Sloterdijk, a.a.O., S. 133.
[3]Vgl. ebd. S. 69.
[4] Ebd., S. 73.
[5] Bei all diesen
Erläuterungen Sloterdijks muss man sich jedoch darüber im Klaren sein, dass
durch sie im strengen Sinne nichts erklärt wird; sie gleichen eher einer
assoziativen Zusammenstellung gleichzeitig aufgetretener Faktoren, wie sie sich
dem geneigten Auge des Essayisten darbieten.
[6] Sloterdijk, a.a.O., S. 76. Weiter heißt es: „Nun
soll der Zuschauer stets der Überlegene sein, indessen die Handelnden sich
unweigerlich blamieren.“
[7] Bohrer, a.a.O., S.
562.
[8] Sloterdijk, a.a.O., S. 83.
[9] Gleichzeitig ist es
auch eine „Wiederbelebung“, denn der Philosoph im platonischen Sinne war ja ein
„Scheintoter“, der nun ins Leben zurückgeholt wird. Hier sind Sloterdijks
Einsichten m.E. besonders treffend: „Oft steht der epistemischen
Berufstätigkeit ein zweites Leben in wissenschaftsfreien Situationen gegenüber,
in denen das Subjekt der Theorie mehr oder weniger unauffällig in die Denk- und
Wahrnehmungsweisen des gewöhnlichen Lebens zurückschwingt. Das Dasein im
Alltäglichen dient so als ein nicht deklariertes Kompensationstraining gegen
die Vereinseitigungen, die für die berufsmäßig betriebene Wissenschaft erbracht
werden müssen.“ (Ebd., S. 131)
[10] Sloterdijk, a.a.O., S. 134.
[11] Botho Strauß, Die Unbeholfenen. Bewußtseinsnovelle,
München: Hanser 2007, S. 76.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.