Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 29.08.10 |
von Michael Lausberg
Als Philanthropismus wird die Lehre von der Erziehung zur
Natürlichkeit, Vernunft und Menschenfreundschaft bezeichnet. Das
Erziehungsprogramm des Philanthropismus, eines wesentlichen Zweiges der
deutschen Pädagogik während der Aufklärung (1720-1790), stand am Anfang der
modernen Bildungsreformen im 19. Jahrhundert.[1] Schon vor dem Erscheinen von Rousseaus
"Emile" verfolgten philanthropische Pädagogen eine Erziehung, die auf
die Natur von Kindern und Jugendlichen abgestimmt war. Im Mittelpunkt der
Erziehung standen keine „gottgeschaffene“ kosmologische Weltordnung, sondern
der Mensch und eine von seinem Verstand ausgehende Ordnung. Alles Naturwidrige
und Mechanische wurde in dieser Erziehungstheorie verworfen und durch eine
naturgemäße freie Entwicklung des Kindes durch weitgehend selbsttätiges Lernen
ersetzt. Der Philanthropismus lehnte jede bekenntnismäßige und kirchliche
Bindung der Schule ab.
Zu den maßgeblichen philanthropischen Pädagogen gehörte
Christian Gotthilf Salzmann. Das von Salzmann 1784 gegründete und danach
schrittweise ausgebaute Philanthropin in Schnepfenthal bei Gotha wurde zur
erfolgreichsten Musterschule des 18. Jahrhunderts, weil hier die pädagogische
Praxis im philanthropischen Schulalltag ausgebaut wurde und deshalb die Schule
von Salzmanns Nachkommen bis 1945 weitergeführt werden konnte.[2] Vor seiner Schulgründung hatte Salzmann
als Liturg und Religionslehrer am Dessauer Philanthropin gearbeitet und von
dort wichtige innovative Reformelemente nach Schnephenthal mitgebracht. Dazu
reflektierte er in der Gründungsschrift: [3] „Diese Verbindung mit dem Dessauischen
Institut war mir außerordentlich wichtig. Ich kam auf einen Platz, wo
selbstdenkende Erzieher schon seit einigen Jahren mit fast unumschränkter
Freiheit gearbeitet hatten und noch arbeiten, und wurde dadurch in den Stand
gesetzt, zu beurteilen, was in der Erziehungskunst ausführbar oder nicht
ausführbar, warum dieser Plan gelungen, ein anderer gescheitert, wodurch diese
Anstalt so weit gekommen, und aus was für Ursachen sie nicht noch weiter
gekommen sei.“
Für Salzmann war es entscheidend, dass eine Reform von
Schule und Erziehung im philanthropischen Geist empirisch existent war und
mentalitätsverändernde Wirkungen heben konnte.[4] Der wichtigste finanzielle Förderer der
Schnepfenthaler Erziehungsanstalt war Herzog Ernst II. von Gotha-Altenburg. Als
einen weiteren, außergewöhnlichen Vorzug von Schnepfenthal unterstrich Salzmann
die Erziehung zur Sauberkeit und das Erlernen geselliger Umgangsformen. Zentral
war für ihn auch eine Gesundheitserziehung der Kinder, die neben einer
bekömmlichen Ernährung in dem Wissen bestand, selbst gesund zu essen. Er legte
großen Wert über die allgemeinen Bestrebungen der Philanthropen hinaus auf die
körperliche Betätigung. Neben turnerischen Übungen sollte Gartenarbeit
geleistet werden – als Symbol hing über der Tür in Schnepfenthal ein Spaten.
Wo immer möglich, sollte der Unterricht durch sinnliche
Gestaltung in der Natur oder, wo dies nicht möglich war, durch anschauende
Erkenntnis im Unterricht mit Hilfe von Kupferstichen handlungsbezogen
inszeniert werden. [5]
Kinder und Schülerorientierung hatten ihren festen Platz im
philanthropischen Alltag der Musterschule. Die Selbsttätigkeit und
Eigenverantwortlichkeit der Schüler wurden in vielfältig pädagogisch
inszenierten Situationen immer wieder neu herausgefordert.
Grundsätzlich stand bei allen pädagogischen Überlegungen die
Individualität jedes Schülers im Mittelpunkt. Dabei wurde im Schulalltag die
Anerkennung unterschiedlicher Meinungen für Lehrer und Schüler zu einem Diktum:[6] „Und wenn die besten und weisesten
Menschen sich miteinander verbinden, so hat doch jeder seinen eigenen
Gesichtspunkt (…), wie jeder Mensch sein eigenes Gesicht hat.“. Die
Gleichbehandlung der Kinder ohne Rücksicht auf Vermögen oder Stand der Eltern
dokumentierte die für die Zeit moderne und bürgerliche Perspektive der
Schnepfenthaler Schule:[7] „Gleiche Kleidung, Wohnung, Kost,
gleicher Unterricht und gleiche Vergnügungen. Geld, Stand und alle
Schmeicheleien der Äußerlichkeit und des Zufalls entscheiden hier nichts.“
Schnepfenthal war wenige Jahre nach seiner Gründung bekannt
geworden; Gelehrte wie Klopstock, Wieland, Jean Paul, Goethe und Fichte machten
sich ein eigenes Bild von den Erziehungsmethoden. Bis zu Salzmanns Tod im Jahre
1811 wurden 272 Schüler am Schnepfenthaler Philanthropin eingeschult. Von
diesen waren 79 adliger Herkunft. 67 Schüler kamen aus dem Ausland, die
Herkunftsorte waren Amsterdam, London, Kopenhagen, Lissabon, Genf, Bordeaux,
Moskau, Boston und Baltimore. Die einheimischen Schüler kamen aus allen
Regionen Deutschlands.[8]
Von Salzmann stammten neben seiner Heimpraxis weit über 100
Bände volkspädagogischer Schriften, die er zum Teil fortlaufend in seinem etwa
30 Jahre lang erscheinenden Wochenblatt „Der Bote aus Thüringen“ veröffentlicht
hat. Er bediente sich dabei der verschiedensten Stilformen: es waren
volkstümliche Erzählungen, Briefe, Anekdoten Lieder usw. Durchweg handelte es
sich um tendenziöse pädagogische Schriften, auch seine Romane waren von
vornherein als unterhaltend-belehrende Bücher gedacht.
Neben der Einfachheit und dem Ländlich-Naturhaften spielten
bei Salzmann das Wirtschaftliche, klares Denken und entschiedenes Handeln,
sozialer Aufstieg, äußerer Erfolg und auch religiöse Innerlichkeit eine
entscheidende Rolle.
Bei ihm kamen – wie überall in der Aufklärung – das
Ästhetische und das Irrationale entschieden zu kurz.
In dem für bäuerliche Leser gedachten Roman „Konrad Kiefer“
aus dem Jahre 1794 äußerte sich Salzmann speziell über Fragen der
Kindererziehung. [9] Im „Konrad Kiefer“ war nichts zu finden
von Esprit und Radikalismus, wohl aber von bürgerlicher Ehrbarkeit und Moral.
Statt Konstruktion und Experiment wurde hier ein Bild natürlicher
Familienerziehung gegeben. Es wurde gezeigt, dass gute Erziehung nicht vom Geld
abhing und wie Luft und Bewegung, der Umgang mit Tieren und das rechte
Verständnis der Eltern den Menschen wachsen ließen. Der Ansatzpunkt für die
religiöse Erziehung sollte nicht der Bibeltext oder der Katechismus sein,
sondern die moralische Erzählung. Mit Erzählungen und Spielstunden wurde
Konrads Kiefers Unterricht gewürzt. Er wurde früh zum selbständigen
Wirtschaften mit Geld angehalten. Nach der Schulzeit begann seine eigentliche
Selbsterziehung durch nützliche Bücher und strebsame Gesellschaft.
Salzmanns pädagogisch bedeutendste Schrift war das der
„Erziehung der Erzieher“ gewidmete „Ameisenbüchlein“. Mit dieser Schrift
leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Literatur über die Bildung des Erziehers
und Lehrers. Salzmann pries hier die Erziehung als die edelste und
segensreichste Aufgabe des Menschen. Niemand konnte so unmittelbar und so
durchgreifend Gutes stiften wie der Erzieher; denn von dem Leben, an dem er
formte, hing auch die Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse und der
menschlichen Werke ab. Da nach Salzmanns Auffassung die Kinder dem Guten noch
am nächsten standen, waren sie auch mehr als alle anderen für das Gute
empfänglich, und auch der Erzieher selbst verjüngte und veredelte sich durch
die Arbeit an dem jungen, relativ unverdorbenen Leben. Als ersten Grundsatz für
die pädagogische Arbeit stellte Salzmann den Satz auf:[10]
„Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in
sich selbst suchen. Das ist eine harte Rede, werden viele denken; sie ist aber
wirklich nicht so hart, als sie es bei dem ersten Anblick scheint. Man verstehe
sie nur recht, so wird die scheinbare Härte sich bald verlieren. Meine Meinung
ist gar nicht, daß der Grund von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge
in dem Erzieher wirklich läge, sondern ich will nur, daß er ihn in sich suchen
soll. Sobald er Kraft und Unparteilichkeit genug fühlt, dieses zu tun, ist er
auf dem Wege, ein guter Erzieher zu werden.“
Der Erzieher sollte sich stets dessen bewusst sein, dass die
Natur aus sich selbst heraus wachsen musste, dass die rechte Erziehung ihr nur
Anreiz zu geben hatte und dass ihr Ziel der selbständige Mensch war. Statt
abstrakter Geistigkeit und lebensfremden Wissen benötigte der Erzieher Kenntnis
des Naheliegenden und praktische Fähigkeiten: ein unmittelbares Verhältnis zur
Natur, zur Heimat, zum Volksleben, praktische Lebenskunde, Gemüt, die Gabe des
lebendigen, kindertümlichen Sprechens, des Bastelns und Spielens, kurz: die Kunst
des lebendigen Umgangs mit Kindern.[11]
Literatur
- Burggraf, G.: Christian Gotthilf Salzmann im Vorfeld der
Französischen Revolution, Berlin 1966
- Herrmann, U.: „Das Exempel wirkt“. C.G. Salzmanns
psychologisch-pädagogische Lehre vom entwickelnden, erziehenden und bildenden
Umgang mit Kindern, in: Neue Sammlung 44 ,(2004), S. 23-37
- Pfauch, W.: Chr. G. Salzmann – der Bauherr von
Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48 (1994), S. 301-314
- Salzmann, C. G.: Noch etwas über die Erziehung nebst Ankündigung
einer Erziehungsanstalt, Leipzig 1784
- Salzmann, C.G.: Reisen der Salzmannschen Zöglinge, 5. Bde,
Leipzig 1784/1787
- Salzmann, C.G.: Nachrichten aus Schnepfenthal für Eltern
und Erzieher, Leipzig 1786
- Salzmann, C.G.: Ameisenbüchlein oder Anwendung zu einer
vernünftigen Erziehung der Erzieher, Schnepfenthal 1806
- Schmitt, H.: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur
philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007
- Schmitt, H.: Vom Naturalienkabinett zum Denklehrerzimmer.
Anschauende Erkenntnis im Philanthropismus, in: Oelkers, J./Tröhler, D.
(Hrsg.): Die Leidenschaft der Aufklärung, Weinheim 1999, S. 103-124
- Verzeichnis der sämtlichen Schnepfenthäler Zöglinge von
1784-1884, in: Festschrift zur Hundertjährigen Jubelfeier der Erziehungsanstalt
Schnepfenthal, Schnepfenthal 1884, S. 207-214
[1]
Schmitt, H.: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen
Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007, S. 13
[2] Herrmann, U.: „Das Exempel wirkt“.
C.G. Salzmanns psychologisch-pädagogische Lehre vom entwickelnden, erziehenden
und bildenden Umgang mit Kindern, in: Neue Sammlung 44 ,(2004), S. 23-37, hier
S. 35
[3]
Salzmann, C. G.: Noch etwas über die Erziehung nebst Ankündigung einer
Erziehungsanstalt, Leipzig 1784. Wiederabgedruckt in N.N. (Hrsg.): Pädagogische
Schriften, Langensalza 1887, S. 121-194, hier S. 148
[4] Burggraf, G.: Christian
Gotthilf Salzmann im Vorfeld der Französischen Revolution, Berlin 1966, S. 152
[5] Schmitt, H.: Vom
Naturalienkabinett zum Denklehrerzimmer. Anschauende Erkenntnis im
Philanthropismus, in: Oelkers, J./Tröhler, D. (Hrsg.): Die Leidenschaft der
Aufklärung, Weinheim 1999, S. 103-124, hier S. 112
[6] Salzmann, C.G.: Reisen der
Salzmannschen Zöglinge, 5. Bde, Leipzig 1784/1787, S. 154
[7] Salzmann, C.G.: Nachrichten
aus Schnepfenthal für Eltern und Erzieher, Leipzig 1786, S. 278
[8] Verzeichnis der sämtlichen Schnepfenthäler Zöglinge
von 1784-1884, in: Festschrift zur Hundertjährigen Jubelfeier der
Erziehungsanstalt Schnepfenthal, Schnepfenthal 1884, S. 207-214
[9] Pfauch, W.: Chr. G. Salzmann – der Bauherr von
Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48 (1994), S. 301-314, hier S. 309
[10] Salzmann, C.G.:
Ameisenbüchlein oder Anwendung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher,
Schnepfenthal 1806, S. 3f
[11] Pfauch, Chr. G. Salzmann – der Bauherr von
Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48, a.a.O., S. 306
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.