Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 29.08.10 |
von Stefan Groß
Es ist eine Liebe, eine große
Liebe, zwischen dem Schriftsteller, dem geistversprühenden Hommes de lettres,
Fritz J. Raddatz, und seiner Stadt, ja, seiner Welt, die sich mit ihrer Kultur
als „Freilichtmuseum“ wie ein Fächer Malarmés ausspannt. Es ist darüber hinaus
eine bekennende Liebe, und die Art und Weise, wie sie sich offenbart, ist wie
in einer alten Ehe ambivalent, mal intensiv, mal zugeneigt und bekennend, mal
überreizt und voneinander abstoßend. Raddatz und sein Nizza, die spröde Stadt
am Mittelmeer, sein Winter-Refugium, um den düsteren Tagen in Deutschland zu
entfliehen, sie bleiben zwei Unzertrennliche, die sich anziehen und die sich
momentweise auch einander verweigern und dennoch miteinander harmonieren.
Mit Nizza – mon amour hat Raddatz, der zuletzt mit seinem Rilke-Buch, Rilke, Überzähliges Dasein, Eine
Biographie brillierte, wieder ein wunderschönes Bonmond – diesmal in Form
eines autobiographisch eingefärbten Reiseführers vorgelegt, ein, wie Denis
Scheck anmerkte, kundiges und kurzweiliges Buch, das für alle Côte d’Azur
Pilger zum unverzichtbaren Begleiter werden dürfte – auch das handliche Formal
paßt ja bestens ins Jackett, und vermag dann seine Faszinationskraft zu entfalten,
wenn man in den Cafes sitzt, die Raddatz als Geheimtips empfiehlt und die von
ihm vorgeschlagenen Routen – ähnlich enthusiastisch – in die Welt der Kunst und
der Literatur realiter durchquert.
Und was wäre das Buch eines
Schriftstellers ohne eine Huldigung an Dichtung und Sprache, ohne die bekennend-affirmative
Nähe zu den größten Denkern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, die
sich allesamt im Kulturkosmos Nizza und seiner bezaubernden Umgebung finden,
dort niederließen. Geistesgrößen wie Thomas Mann, Titanen wie Monet, Picasso,
dem „rasendem Greis im Vorzimmer des Todes“, Renoir, Chagall, Matisse – für all
sie wurde die Côte d’Azur zum Sehnsuchttopos, zum genius loci, der sie
inspirierte und zu ihren schönsten Schöpfungen beflügelte. Und die Sprache, die
fein geordnete Rhythmik und die Bildlichkeit, mit der sich Raddatz den
Künstlergestalten nähert – sie ist es immer wieder, die den Leser in den Bann
zieht, die ihn ans Mittelmeer träumen läßt, die einem die Belle Epoche sinnbildhaft
vor Augen stellt, den berauschenden Klang vergangener Ballnächte sehnsuchtsvoll
vor das geistige Auge spannt.
Die Promenade des Anglais, das
berühmte – mittlerweile durch seine reichen russischen Mafia-Milliardäre samt
ihren von AVIS mitgelieferten Blondinen leicht berüchtigte Negresco –, das
Raddatz als „Gipfel an zirkuspferdhaft dekorierter Geschmacklosigkeit“
tituliert, die abseitigen Wege, die einst Friedrich Nietzsche zu seinem dritten
Teil des Also sprach Zarathustra
inspirierten, kleine Städte wie Menton, Vence, Antibes, Villefrance, Cap d’
Ail, Cap Ferrat, Éze-Village, die Fondation Maeght mit ihren Mirós und Giacomettis, die
Gräber von Matisse und Klaus Mann, dem legendären Schriftsteller und
leidenschaftlichen Trinker James Baldwin, der schon morgens die Zähne mit
Whisky putzte – ihnen gilt die Liebe des Publizisten und langjährigem
Feuilletonchef der Zeit, dem
Vorsitzenden der Kurt-Tucholsky-Stiftung und Herausgebers von dessen Gesammelten Werken.
So frenetisch Raddatz die
geheimnisvolle Welt feiert, die Salons, Restaurants, Lodgen, und Cafes der
überfeinen und restlos überteuerten Hotels, die Stimmungsbilder, die sich
einstellen, wenn man auf das Meer oder in die Berge blickt, wenn er all dies
mit der ihm eigenen brilliantenreichen Sprache verklärt, die tatsächlich einige
Ähnlichkeit mit Rilkes Bildsprache hat, ebenso plastisch und wortgewaltig, so
vergißt er auch nicht das Befremdliche, das Unergründliche und das Absurde, die
Hohlheit der frasendreschenden und sich im inhaltlichen Leerlauf überbietenden
Society der Reichen und Schönen, ihrem überall anzutreffenden Geschwätz samt
nicht zu überbietender Geschmacklosigkeiten. Raddatz’ Analyse seiner geliebten,
spröden Stadt ist authentisch, spiegelt die Ambivalenz zwischen dubiosem
Geldadel und feiner Bürgerlichkeit und der Vielzahl der Kunstenthusiasten, ja,
er geht soweit kritisch über das Verhältnis von Geist und Geld, Kunst und
Kommerz zu räsonieren, für den der „Hexenkessel Nizza letztendlich auch steht.
Und er bedenkt auch immer wieder das Schicksal der intellektuellen Emigranten
während der Nazi-Diktatur, das von Lion Feuchtwanger, René Schickele, Heinrich
Mann, Joseph Roth, Walter Hasenclever, Alfred Döblin, Klaus Pinthus, Arnold
Zweig, Alfred Kerr, Franz Werfel, Berthold Brecht und Ernst Toller. Für diese
war die Cote d’Azur zum Wartesaal voller Ungewißheiten geworden, zwar Sehnsuchtort
einerseits, aber auch ungewolltes Flüchtlingsasyl in Zeiten absoluter
Ungewißheit andererseits. Zwar wußten sie sich einzurichten, Feuchtwanger
schrieb an der Josephus-Trilogie,
Döblin an Pardon wird nicht vergeben
und Heinrich Mann am König Henri Quartre
– gewartet aber haben alle auf das Ende der Ungewißheit. „Die Liste der allein
in Sanary-sur-Mer entstandenen Bücher, Gedichte, Dramen, Essays bilden den
Katalog einer erlesenen Bibliothek der deutschen Literatur des 20.
Jahrhunderts.“
Kurzum: Wie kaum ein anderer
Reisführer fasziniert Raddatz kleines Buch über Nizza, das seine verzaubernde
Faszinationskraft sofort auf den Leser überträgt, der wie der Autor dem öden
Prunk Monte Carlos und seinen Geldkathedralen zu entfliehen sucht, dem
Strandgeschnatter der Superreichen und ihren monströsen Jachten. Er findet –
und Raddatz sei dank – eben jenes Nizza, das in seiner einfachen Schönheit
bezaubert, in seinen Gärten und Parks, in den kleinen, es flankierenden
Dörfern, in denen man noch die Stille atmen kann – jenseits vom
ohrenbetäubenden Lärm der großen Magistralen, die in den letzten Jahren – krakenhaft
– die einzigartige Küste überzogen haben. Raddatz Nizza sei also ausdrücklich
empfohlen, es ist klug, kurzweilig und pointenreich.
Fritz J. Raddatz, Nizza – mon
amour, Arche Literatur Verlag, München, Zürich 2010, ISBN: 978-3-7160-2636-6,
128 Seiten, Gebunden, Preis 18 Euro.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.