Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 29.08.10 |
von Heike Geilen
Schmetterlinge
im Bauch, schwebend auf Wolke sieben, Händchenhalten, Liebesbriefe, der erste
Kuss und womöglich das „erste Mal“. Die Rede ist von der ersten Liebe. Wer
erinnert sich nicht gern daran zurück? Sie ist wohl die emotionalste Zeit im
Leben, in der man die Welt neu ergründen möchte. Und um genau die geht es in
Michael Köhlmeiers neuem Roman „Madalyn“, nur läuft sie in seiner Erzählung
nicht ganz so schwerelos für die Protagonistin ab.
Wie
bereits in seinem Opus Magnum, dem 2007 für den Deutschen Buchpreis nominierten
„Abendland“, agiert auch in „Madalyn“ der Schriftsteller Sebastian Lukasser,
dieses Mal als Ich-Erzähler. Auch hier schüttet ihm ein anderer sein Herz aus.
War es in „Abendland“ der 95-jährige Carl Jacob Candoris, der seine
Lebenserinnerungen, die sich schon bald als eine Art Geständnis
herauskristallisieren, diktiert, so setzt der österreichische Autor dieses Mal
ein 14-jähriges Mädchen in die Rolle der Beichtenden. Sie wählt Lukasser - Köhlmeiers
Alter Ego - als ihren Vertrauten, dem sie von den ersten aufregenden Gefühlen
erzählt, die sie für einen Mitschüler hegt sowie der damit einhergehenden
Probleme mit ihren Eltern.
Der
Autor kennt Madalyn schon seit ihrer Geburt, die Familie Reis wohnt ein
Stockwerk unter ihm. Ein Unfall, in den die 5-jährige mit ihrem zum Geburtstag
erhaltenen Fahrrad verwickelt wird, schweißt die zwei eng zusammen und Lukasser
wird so etwas wie ein großer Freund, ein Vertrauter für das heranwachsende
Mädchen.
Doch
dann tritt Moritz in deren Leben, der Junge, der so wunderbar dichten kann. Das
„Mo- klang, wie helle Schokolade riecht,
und sah auch so aus, und das -ritz schmeckte süß und scharf in einem, und wenn
es eine Farbe gehabt hätte, wäre es ein leuchtendes Orangerot gewesen.“
Aber der zwei Jahre ältere Junge ist alles andere als ein „Liebling aller
Schwiegermütter“. Aus problematischen Familienverhältnissen stammend hat er
sich zum notorischen Lügner entwickelt und fährt offensichtlich nicht nur
Madalyn auf seinem Fahrrad spazieren. Doch das junge Mädchen hat sich schon
längst in ihrer eigenen Parallelwelt eingerichtet und das Erwachen aus dieser
wird recht schmerzhaft für sie.
Lukasser
ist mit den Offenbarungen des jungen Mädchens überfordert. Er kann mit dem Auf
und Ab ihrer Gefühlswallungen schlecht umgehen. Vielleicht auch daher, weil „das ordnende, formende, die Wirrnis des
Lebens durchsichtig und übersichtlich machende Wirken der Literatur“ in der
Realität nicht greift. Weil sie eben kein emotionales Notprogramm, kein Katalog
mit Präzedenzfällen ist, aus der man sich die Lösung für jedwedes Problem nur
herauszuziehen braucht. Weil ein Mensch anders reagiert als ein Blatt Papier...
emotional und zuweilen kopflos. „Ich
hatte über all die Jahre kein richtiges Bild von ihr. Ich hatte ein Bild von
ihr, aber das hatte ich aus der Luft gegriffen, aus der Sentimentalität meines
unbedankten Heldentums, ein präliterales Ding war sie für mich gewesen, eine
Inspiration. Tatsächlich hatte ich irgendwann eine Erzählung begonnen, in der
ein Abenteuer wie das unsere im Mittelpunkt stehen sollte. Das hier aber
strengte mich an, ich wollte Charaktere in den Computer hacken und nicht in der
Wirklichkeit ein Bild korrigieren, das ich mir einmal gemacht hatte und das
mehr über meine Rührseligkeit mir selbst gegenüber verriet als über Madalyn.
(...) Ich hatte mich nie für die Wahrheit zuständig gefühlt, Warum ausgerechnet
jetzt?“
Erneut
stellt Michael Köhlmeier sein herausragendes erzählerisches Talent unter
Beweis. Seine Protagonisten beobachtet er mit präziser Genauigkeit. So entsteht
ein scharf gezeichnetes Bild seines Gegenüber, das einmal zart, ein anderes Mal
auch schonungslos direkt wiedergegeben wird. Sein Roman offenbart wie alle seine Bücher einmal mehr
großartige Charakterstudien. Dabei stellt er sich oder sein Alter Ego
genauso an den Pranger wie das seiner literarischen Helden. Aber immer ist
dabei seine große Liebe zu den Menschen zu spüren.
Fazit:
„Wie viele
Bücher würden wir verabscheuen, wenn wir die Geschichte ihrer Entstehung
wüssten.“,
sinniert Sebastian Lukasser, der Ich-Erzähler in Michael Köhlmeiers Roman
„Madalyn“. Der österreichische Autor erzählt sie dem Leser. Aber zu
Ressentiments führen sie keineswegs. Im Gegenteil: Ein kleiner
durchkomponierter Roman, dessen Wörter sich wie Noten zu einer Melodie fügen
und ein kleines elegisches Stück in einem zarten Mollton erklingen lasse
Michael Köhlmeier
Madalyn
Carl
Hanser Verlag, München (August 2010)
176
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3446235973
ISBN-13:
978-3446235977
Preis:
17,90 EURO
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