Erschienen in Ausgabe: No 55 (9/2010) | Letzte Änderung: 29.08.10 |
von Alexander Kissler
Nun sind sie vereint auf Augenhöhe. CDU/CSU und SPD, die
einst fast das ganze Volk repräsentierten, haben sich
friedlich-schiedlich-apokalyptisch bei der 30-Prozent-Marke einquartiert. Dort
sitzen sie und kauern und schauen bang nach vorn: Werden wir je wieder für 40
Prozent der Wähler attraktiv sein? Müssen wir uns künftig auf 25 oder weniger
Prozent einstellen? Sind wir Phoenix oder Ikarus?
Eine Entvölkerung haben Union wie SPD hinter sich. Nach
Millionen zählt der kontinuierliche Rückgang der Wählerstimmen. Da verheißt das
gemeinsame Tal Linderung. Man ist tief genug gesunken, um sich nicht in pure
Nostalgie oder blankes Schwärmertum zu ergehen. Man sitzt aber noch immer
relativ weich, denn annähernd jeder Dritte findet offenbar Programm und
Performance hinreichend attraktiv. Wer aber immer den nächsten Kanzler stellen
mag, der ein Kanzler nach Merkel sein dürfte: Er stammt dann hochwahrscheinlich
aus einer Partei, die 7 von 10 Wahlberechtigten nicht gewählt haben werden. Ein
Vertrauensbeweis sieht anders aus.
Der Niedergang der Dickschiffe der bundesdeutschen
Nachkriegsdemokratie verdankt sich demselben Grund: dem Verlust der inneren
Mitte. Zwar wird die angeblich allein mehrheitsfähige äußere, die politische
Mitte mantragleich beschworen. Dieses Singen aber wird zum Lügenlied, wenn es
aus denkbar exzentrischer Position angestimmt wird. Wofür eigentlich die SPD
anno 2010 steht, wissen kaum die Referatsleiter zu sagen. Und die Antwort auf
die Frage, was die Union anno 2010 ausmacht, wäre in der Quiz-Show 100.000 Euro
wert.
Drum ist es wert, dass soviel Hohlheit auch zugrunde geht.
Nicht mit Getöse, aber sachte und nachhaltig werden die beiden
Hü-und-Hott-Parteiungen implodieren. Mangels Alternative wird diese Abbrucharbeit
in eigener Sache vorerst nicht bei der Null enden, aber in existenzbedrohender
Tiefe. Dass momentan die Union im Seppuku weiter fortgeschritten scheint, ist
eine Momentaufnahme. Wer das Konservative erst austreibt, um es dann
erschrocken als vermisst zu melden, darf sich über die Reaktion des Publikums
nicht wundern, das nur mehr apathisch nach dem Arzt ruft.
Union und SPD bestätigen einfallsreich ein Bonmot von Louis
de Bonald: „Wenn die Politik die Prinzipien aus dem Auge verloren hat, macht
sie Erfahrungen und sucht Entdeckungen.“ Wie ein einziger Freilandversuch nach
der Methode try and error erscheint deshalb der bundesdeutsche Politikbetrieb.
Ohne das Bewusstsein, dass eben manche Forderung, mache Tat sich prinzipiell
verbietet, will man nicht jegliche Programmatik zu Grabe tragen, ohne den Mut,
Tabus auch zu benennen und zu bekräftigen, statt sie nur fintenreich zu
hinterfragen, kann keine Identität entstehen – keine individuelle, keine
kulturelle, keine parteiliche Identität.
Erfahren wollen, wie sich diese oder jene
Narreteianfühlt, Entdeckungen suchen, die vom heute Behaupteten zum
morgen Verfemten und wieder retour reichen: So mag das Sein sich anfühlen beim
Genuss bewusstseinserweiternder Pharmaka. In der Politik ist dergleichen
Wahrnehmungsverlust ein Zeichen von Dekadenz. Kaiser Nero, spielen Sie auf!
Quelle: http://www.alexander-kissler.de/
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